Kitabı oku: «Komparsen-Blues», sayfa 3
Mit diesen wohligen Gedanken stand ich vor Michalskis Tür. Wir werden Fragebögen ausfüllen, er sein Gras rauchen, ich sein Bier trinken und beide werden wir Rufus dabei zuschauen, wie er sich genüsslich durch meine Probepackungen fressen würde. Mache den Menschen und Tieren Geschenke und sie sind außer sich vor Freude. Eine alte Binsenweisheit, die auch an diesem Nachmittag ohne Abstriche auf Michalski und Rufus passte. Drei Kilo Trockenfutter bedeuteten für Michalski, den guten alten Rufus über Wochen bei Laune und Kraft halten zu können und klein zerbröselt ginge das Zeug auch als Vogelfutter für seinen Sittich durch. Michalski war nicht der Typ für große Worte, seine Freude über den unerwartet großen Gabentisch zeigte er durch beherzte Schläge auf meine Schulter und einer anschließenden kurzen, aber wilden Luftgitarreneinlage, die so abrupt endete, wie sie begann. Wir machten es uns zu dritt auf seinem mit Brandlöchern durchsiebten Orientteppich gemütlich, tranken, und Rufus fraß die Brocken in sich rein. Michalski stellte noch den Vogelkäfig zu uns, so waren wir eine gemütliche Runde von zwei Menschen und zwei Tieren, jede Spezies war quasi pari vertreten. Ich fand es erstaunlich wie widerstandsfähig beide Tiere, auch der Sittich, waren. Michalski war ständig am Rauchen, egal ob Gras oder Zigaretten, und der Sittich befand sich permanent in einer dichten Wolke. Nur dank seiner gelben Signalfarbe blieb er für uns sichtbar und es war bemerkenswert, dass er nicht von Atemnot geplagt, von der Stange fiel.
Unglaublich, an diesem Nachmittag waren wir in der Lage sämtliche fünfzig Fragebögen auszufüllen. Tatsächlich war es so, dass Michalski nach zehn Bögen auf dem Teppich einschlief und ich die restlichen im Beisein seiner Tiere, die wach blieben und mir zuschauten, selbst bekritzelte. Ich machte schließlich einen großen Schritt über den schlafenden Körper meines Nachbarn, kraulte zum Abschied den borstigen Hundeschädel und schloss leise die Tür hinter mir. Michalski hatte sich seinen Schlaf redlich verdient.
Drei Tage später saß ich wieder im Büro meines Chefs, breitete sämtliche ausgefüllte Fragebogen auf seinem Schreibtisch aus und erzählte ihm, wie großartig und erfolgreich meine Zeit als Befrager und Verkoster gewesen ist.
„Keinen getürkt?“, fragte er.
„Keinen Einzigen, schauen Sie sich die Antworten und die Kommentare an, die können nur von echten Menschen in echten Situationen mit echten Hunden kommen. So viel steht fest!“
„Ja, ich sehe, gute Arbeit, wir starten in vier Wochen einen großangelegten Testlauf für eine neue Zahnpasta und ich hätte Sie gern dabei.“
„Zahnpasta? Für Hunde?“
Er rückte sich seine Krawatte zurecht, drehte an seiner Taucheruhr und sagte: „Natürlich nicht, auf was für Ideen kommen Sie eigentlich? Natürlich für Menschen wie Sie und ich!“ Wie belanglos, dachte ich, lehnte dankend ab und ging.
Die Vorbereitung
Nach dem letzten Schnee, es war Anfang April, zog ich aus dem Wedding in Richtung Neukölln. Ich hatte einen erbarmungslos kalten Winter durchgestanden und weder der Kachelofen, noch meine drei Heizstrahler in meiner Ein-Zimmer-Wohnung waren in der Lage mich ausreichend vor der Kälte zu schützen. Den, sehr wohl schön anzuschauenden, gekachelten Kamin, so auf Touren zu bringen, dass er eine Nacht lang wenigstens etwas Wärme abgab, war mit sehr viel Aufmerksamkeit ihm gegenüber verbunden, die ich selten aufbrachte. Die Heizstrahler waren wie ich sehr kälteempfindlich und ihre Heizdrähte verglühten oft schon nach Minuten. Vergaß ich mal die Milch in den Kühlschrank zu stellen, war sie am nächsten Morgen hart gefroren. Und mittendrin lag ich und blies Atemluft unter meine Bettdecke. Es war ein aussichtslos ermüdender Kampf.
Neukölln zeigte sich da von einer ganz anderen Seite. Nun gut, der Frühling gab sich alle Mühe und es präsentierte sich mir ein erblühender, fast schon unbedarft wirkender Bezirk mit vielen freundlichen Gesichtern. Was man immer wieder hörte war, dass im Wedding die Malocher und die, die es mal waren, lebten, in Wilmersdorf die Ärzte und Rechtsanwälte anzutreffen waren, in Kreuzberg sich die Subkulturen und türkischen Gemüsehändler tummelten, in Schöneberg wohnte mal David Bowie und in Neukölln trieben die Straßengangs ihr Unwesen. Uns, die sich, aus welchen Gründen auch immer, an Universitäten eingeschrieben hatten, fand man in jedem Stadtteil. Einige von uns machten noch nicht einmal vor den entferntesten Außenbezirken wie Spandau halt. Nur mit Spandau sollte man nicht hausieren gehen. Tat man es doch, war man unten durch. Es gab einige, die rülpsten mir ins Ohr, lieber die JVA in Moabit als Spandau. Noch Fragen?
Ich schlenderte die ersten Tage durch meinen neuen Bezirk und hielt Ausschau nach den berüchtigten Straßengangs. Ich tat dies in der Regel zur Mittagszeit und konnte weit und breit keine Rudel erkennen. Hier und da erspähte ich mal ein Grüppchen, welches sich am Straßenrand langweilte. Einige spielten Jo-Jo. Alles nichts, was mich in Aufregung versetzen konnte. Möglicherweise waren sie noch in ihren Klassenzimmern oder standen noch an den Schleifmaschinen. Ich sah sie nicht. Alles war ruhig. Bis dahin. Und dann passierte es doch, wie aus heiterem Himmel, mittags. Zur harmlosesten Tageszeit. Es lag nicht die geringste kriminelle Energie in der Luft. Frauen schoben ihre Kinderwagen über den Bordstein, andere trugen ihre vollgestopften Einkaufstüten durch die Gegend und der Rest sich selbst. Ich war zu Fuß unterwegs und bemerkte, wie ein Auto das Tempo drosselte, um neben mir im Schritttempo zu fahren. Ich tat so, als ob es mich nichts anging und schaute kerzengerade nur nach vorn. Ich wusste, dass ich dran war. So etwas spürt man. So etwas spürte ich. Aus dem linken Augenwinkel konnte ich einen offenen Wagen erkennen, ein Cabriolet, voll besetzt mit Typen auf allen Sitzen. Ich konnte ihre Stimmen hören. Ich hörte Straßengangsprache. Pure, harte Straßengangsprache.
Es gibt sicherlich einige Möglichkeiten, wie man sich in solchen Situationen so verhalten sollte, dass man mit keinem blauen Auge davonkommt. Meine Möglichkeiten entsprangen aus meinem Paradoxon. Ich dachte daran mutig wegzulaufen, oder auch daran, mich furchtlos der Gang zu stellen, vielleicht mit den Worten „Lasst ab von mir, ich bin es nicht wert“. Ich hatte viel Zeit während alldem, viel Zeit mir Gedanken über eine passende Reaktion zu machen. Mir kam etwas anderes in den Sinn. Neben Furcht und Mut gibt es noch etwas anderes. Die teilnahmslose Nichtbeachtung des potentiellen Feindes, die zwar auch einiges an Mut voraussetzt, nur, wer in bestimmten Situationen einfach nicht mitspielt, dem bringt man auch wenig Interesse entgegen. Ich spielte genau diese Karte. Mir entging nicht, dass sich rechts vom Fußgängerweg, ein paar Schritte weiter, ein großer Park auftat, der sich mir in seiner vollen blühenden Pracht präsentierte. Ich konnte mich also genüsslich diesem schönen Anblick zuwenden und genau das tat ich auch. Ich schenkte dem links neben mir tief brabbelnden Motorengeräusch keinerlei Beachtung und erfreute mich zunehmend euphorisch an der frühlingshaften Grünanlage. Das Kundtun meiner Freude ging so weit, dass ich auf alles zeigte, was ich sah und ich dabei unverdrossen alles hörbar kommentierte, worauf ich zeigte. Dies waren die violett und weiß blühenden Fliederbäume, genauso wie die unzähligen Löwenzahnblüten, die die Wiesen mit leuchtend gelben Punkten besprenkelten, aber auch die alte Oma, die sich auf einer Parkbank ausruhte, oder der lustvolle Schäferhund, der eine kleine Mischlingsdame von hinten beschnupperte. War es etwa Rufus, der sich von Michalski losgeeist hatte und nun hier in meiner neuen Gegend auch Fuß fassen wollte? Wer weiß. Wer in Selbstgesprächen verwickelt unüberhörbar seine Umwelt kommentiert, sollte doch für eine vagabundierende Gang so uninteressant erscheinen, dass man von demjenigen ablassen würde. Dann dachte ich wieder an Flucht. Nur, was wäre passiert, wenn die Burschen mich mit langsamer Fahrt durch den Park verfolgt hätten? Nein, dann lieber ihr Desinteresse wecken, indem ich mich für alle klar erkenntlich als eine umherirrende, entlaufene Person zur Schau stellte. Doch sie ließen nicht von mir ab und ich konnte immerzu ihre Mischung aus Ghettosprache und Gelächter hören. Ich spielte meine Rolle noch ein paar Momente, dann konnte ich einfach nicht mehr anders und schaute den Jungs direkt in ihre Gesichter. Fast zwanghaft wechselte ich zu Mut, in einer Situation, wo Mut nicht unbedingt angebracht war. Mein Tempo blieb unverändert langsam, kein abstoppen, kein losrennen. Bis auf die Tatsache, dass einer von ihnen eine Zigarettenkippe mir vor die Füße schnippte, machte die Viererbande keineswegs den Eindruck mich durch die Mangel nehmen zu wollen. Keiner von ihnen war mies gelaunt, sie alle hatten wohl bisher keinen allzu schlechten Tag gehabt. Sie begannen wild in meine Richtung zu gestikulieren, wahrscheinlich waren auch ein paar Ghettogrüße mit dabei, doch viele ihrer Zeichen, die sie mit ihren Händen vollführten, verstand ich leider überhaupt nicht. Was sie mir zuriefen, begrenzte sich immer wieder auf ein „Ey!“, oder „Ey, du da!“, und sehr oft war ein „Ey, du da, guck mal her!“ zu hören. Ich guckte zu ihnen rüber. Der Typ auf dem Beifahrersitz drehte die Musik infernalisch laut hoch und sie begannen alle vier, mir Rapmusikbewegungen mit ihren Armen und Köpfen darzubieten. Ja, es sah ganz lustig aus. Eigentlich sahen sie aus wie ungelenke, unmusikalische Idioten, die sich darin probierten ihre Bewegungen im Takt zu halten. Ich behielt diesen Gedanken jedoch besser für mich und gab ihnen zu erkennen, dass ich ihre jämmerliche Einlage durchaus zu schätzen wusste. Ich erwiderte in ähnlich dusseligem Gehabe und versuchte mich in zur Musik passenden Verrenkungen, worauf sich die Jungs auf die Schenkel schlugen und sich vor Lachen bogen. Und so blieb mein Blick leider förmlich an diesen Typen kleben. Sie wussten allerdings etwas, was ich nicht wusste. Und so kam es, wie es kommen musste. Ich knallte ungebremst und mit der vollen Wucht meines leicht torkelnden Ganges gegen eine Straßenlaterne. Der Aufprall meines Kopfes war so hart, dass ich das Gefühl hatte, mein Schädel würde sich zu einem harten Klumpen zementieren. Wäre ich zuerst mit dem Fuß gegengestoßen, kein Problem, dann hätte ich den Aufprall verhindern können. Ich hätte auch ein angeschlagenes Knie gern in Kauf genommen, aber so knallte ich mit voller Geschwindigkeit meines Schritttempos gegen das harte Metall und ging wie ein angeschlagener Boxer in die Knie. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass die Jungs sich nach meinem Aufprall mit qualmenden Rädern verziehen würden, jedoch war dem nicht so. Sie saßen in ihrem Cabrio und polterten jetzt erst richtig los. Sie waren allerbester Stimmung. Als sich der Schmerz langsam verzog, richtete ich mich halbwegs auf und näherte mich der Beifahrerseite. Sie hatten sich ihren mittäglichen Spaß abgeholt und ich war der Meinung, dass sie nicht nachtreten würden. Möglicherweise hätten sie ja sogar Dank für den Hauptdarsteller der Vorführung übrig. „Na, das war doch mal was. Ein guter Sketch, ihr habt gewusst, dass ich schnurstracks gegen die Laterne laufen werde, clever wie ihr seid. Ihr habt mich abgelenkt und nur darauf gewartet bis es passieren wird und zack, schon knallte ich drauf, wirklich gut und sehr amüsant.“ Die Bande atmete durch, wie man es halt tut, wenn man sich lange genug den Bauch vor Lachen halten muss und der Spaß schließlich ein Ende findet. Der Typ auf dem Beifahrersitz winkte mich mit einer Ghettogeste noch näher zu ihm ran. Ich gehorchte ihm blind. Uns trennte nur noch die geringe Distanz eines Faustschlages.
„Alter, sei nicht sauer, aber das Ding war echt geil. War sowas von klar, dass du voll gegen läufst und bist ja auch schön mit voller Wucht aufgeschlagen. Aber Alter, keine Angst, wir tun dir nichts, allerdings, wenn du nicht die geile Sache mit der Laterne gemacht hättest, wäre es vielleicht anders gelaufen.“
Der Fahrer ließ den Motor aufheulen, gab Vollgas und weg waren sie. Nun wusste ich, was ich in Zukunft tun werde, um mich hier in meinem neuen Bezirk mit den Gangs gut zu stellen. Sollte ich genau diese Jungs nochmal wiedersehen, wird es einen neuen Sketch geben, für alle anderen hielt ich den Straßenlaternengag parat.
In Neukölln zog ich in eine Straße, deren Name auszusprechen, mich von Anfang an mit einer fast traumatischen Entzückung besudelte und obendrein, sie sah auch noch so aus, wie sie hieß. Ich hatte nie vorher und auch nie nach dieser Zeit in einer Straße mit einem derart klangvollen Namen gelebt. Die Straße hörte auf den Namen Schillerpromenade. Wie es eine so von Schönheit und Eleganz gepuderte Promenade allerdings nach Neukölln verschlagen konnte, blieb mir immer ein Rätsel. Obwohl nur als kleine Seitenstraße ohne viel Verkehr und Straßengangs gedacht, war sie von pompöser Breite mit einem parkähnlichen Mittelstreifen, der kaum mit einem herkömmlichen Mittelstreifen zu vergleichen war, da er den Menschen und Tieren Raum für Auslauf im Grünen gab und dies nicht zu knapp. Der Baumbestand musste Hunderte von Jahren alt gewesen sein. Die Größten unter ihnen überragten die Wohnblocks bei Weitem und sie konnten problemlos bis zum Alexanderplatz schauen. In der Mittagssonne durch meine Straße zu schlendern, war immer ein erhabenes Gefühl. Solange ich dort wohnte, konnte mir Paris gestohlen bleiben. Hatte sich womöglich der am Hungertuch nagende Friedrich Schiller hier seiner Dichtkunst hingegeben? Selbst wenn nicht, die Vorstellung reichte mir vollkommen. Meine neue Ein-Zimmer-Wohnung im Hinterhof hielt mit dem Straßenbild nicht ganz mit. Die Bude war vergleichbar muffig und abgewrackt wie die, aus der ich vor Tagen erst ausgezogen war, sie hatte jedoch mit einer funktionsfähigen Dusche, angeblich dichteren Fenstern, sowie einem Heizkörper in der Stube entscheidende Vorteile aufzuweisen. Die Welt war für mich in Ordnung. Meine neue Behausung befand sich im Parterre mit freiem Blick auf den Innenhof zwischen Vorder- und Hinterhaus, wodurch sich für mich die Möglichkeit ergab, meine Mitbewohner bei ihren täglichen kleinen Wegen zu beobachten. Ich wurde zu einem kleinen Voyeur, nicht im klassischen Sinn, da meine Beobachtungen nicht im Geringsten etwas mit einer sexuellen Neugierde zu tun hatten und diese auch überhaupt nicht befriedigen konnten. Es war mehr eine sich entwickelnde Leidenschaft, meine Nachbarn etwas genauer unter die Lupe nehmen zu wollen. Obwohl Leidenschaft doch etwas zu hoch gegriffen ist, reden wir von einem gewissen Interesse. Ich nahm auf dem Fensterbrett Platz, ließ die Beine nach draußen baumeln und jeder der den Innenhof betrat, wurde meinen Beobachtungen unterzogen und ausnahmslos freundlich begrüßt. Der Innenhof war nicht gerade der richtige Ort für längeres Verweilen. Es war das typische Bild von Mülltonnen, ein paar Gebüschen, einer rostigen Teppichstange und einen verbogenen Plastiktisch mit drei Stühlen, die mit Vogelkot nur so übersät waren. Das Einzige, was für uns Bewohner auf dem Hinterhof von Interesse war, war der Gang zu den Tonnen und so saß ich an meinem offenen Fenster und begann stichwortartig meine Entdeckungen über jede Mitbewohnerin aus Vorder- und Hinterhaus bei ihren Alltäglichkeiten im Innenhof zu notieren.
„Frau aus dem Hinterhaus, Mitte dreißig, mit Schäferhund, nicht angeleint, der Hund wohlgemerkt, Berlin scheint voller Schäferhunde zu sein, zwei volle Tüten Müll in einer Hand, in der anderen eine Zigarette, wie auch sonst, kein Blick in meine Richtung trotz freundlichem Hallo, Tätowierung am rechten Arm, und am linken, trägt schwarzes T-Shirt, womöglich kein BH drunter, aber nicht sicher!“ Oder auch: „Frau aus dem Vorderhaus, Ende fünfzig, elegante und freundliche Erscheinung, trägt langen Rock, bewegt sich sehr weiblich bis feminin, lächelt mir zu, Halskette und Armband, grau meliertes Haar, was sie sich zu einem Turban ähnlichen Gebilde hochgesteckt hat, drei Hautfalten am Ellenbogen bei ausgestrecktem Arm, insgesamt eine reife bis sehr reife Person, wobei ich nicht weiß, wo das eine aufhört und das andere anfängt, scheint wohl auf dem Weg ins Büro zu sein.“
Mir entging kein noch so kleines, aber bedeutsames Detail. Auch gab es folgende Notiz, was die Frau aus dem Vorderhaus anging: „Muss mich drum kümmern, versuche ein Aufeinandertreffen hinzubekommen, werde im Vorderhaus heute Abend auf sie warten und so tun, als ob ich meine Post aus dem Briefkasten nehme.“
Das tat ich dann auch und war eine geschlagene Stunde damit beschäftigt, meinen leeren Briefkasten immer wieder auf- und zuzuschließen. Leider erfolglos, da sie nicht zur passenden Zeit nach Hause kam. Dann halt ein anderes Mal. Ich dachte alternativ an „Treffpunkt Mülltonne“, doch wer geht schon jeden Tag dorthin. Ich tat es nicht und sie auch nicht. Es blieb mir nur eins: „Treffpunkt Briefkasten“. Es dauerte, erst Wochen später war es dann soweit. Ich öffnete zum x-ten Male meinen Postkasten und der Moment kam, als sich das große Haupttor zum Vorderhaus knarrend auftat. Sie war es und sie ging schnellen Schrittes zu ihrem Briefkasten, der nur eine Armlänge von meinem entfernt war. Ich sah zum ersten Mal aus kurzer Distanz ihr Gesicht. Sicher, sie hatte das Alter von Mutter, als ich bei ihr am Sterbebett saß, doch hatte diese Frau eine reife Schönheit, die mich erstarren ließ. Sie lächelte mich kurz an und kramte ihre Post raus. Sie hatte wenigstens welche, ich war noch nicht mal für Behördenpost gut. Ich lächelte zurück und blickte dann wie versteinert in die Leere meines Postkastens. Endlose Sekunden verstrichen und ich tat nichts anderes als in die gähnende Tiefe meines Kastens zu starren. Wenn es nichts herauszuholen gibt, dann geht man doch, wie jeder normale Mensch. Ich jedoch blieb stehen und drehte wieder und wieder wie ein Idiot am Schlüssel, und tat so, als ob er nicht richtig funktionieren würde. Während sie ihre Post sortierte. Ich betete zu Gott, dass sie doch endlich gehen möge, um diesen für mich quälenden Moment zu beenden. Ich fiel in einen tranceartigen Zustand, der mir wenigstens komplett das Gefühl von Ort und Zeit nahm. Aus meinem Dämmerzustand erwachte ich, als ich etwas wie „Einen schönen Abend noch“ hörte. Dann wurde sie vom Treppenhaus verschluckt. Ich hatte einfach nicht den geringsten Schimmer, wie ich ein Gespräch mit dieser Frau hätten beginnen sollen. „Wollen wir ein paar Schritte gemeinsam zu den Mülltonnen gehen?“ war das Einzige, was mir einfiel. Wenig erquickend. Ich schwor, mich nie wieder in eine solche Situation zu bringen. Ab diesem Zeitpunkt ließ ich sie zwar noch im meinem Kopf umherschwirren, suchte aber immer das Weite, sobald wir uns zu nahe kamen. Situationsfurcht sozusagen.
In Neukölln gab es damals einen zentralen Platz aller Geschehnisse. Der Hermannplatz. Möglicherweise ist er es auch heute noch. In meinen ersten Tagen in Neukölln war es für mich essenziell die Versorgungslage zu erkunden. Und zwar in alle Richtungen. Die Versorgungslage war für mich enorm wichtig. Ich wollte und musste immer ausgesprochen gut abgesichert sein. Wie ein Trapezkünstler mit Netz, nur bei mir mussten es mehrere Netze sein. Es lag auch oder besonders daran, dass ich so gut wie nie zu Hause aß. Lag ich nachts wach im Bett und verspürte Hunger, ging ich los. Oft. Und ich musste wissen wohin. Ich musste das wieder einmal abklären. Ich wollte nicht umherirren. Es war nachmittags gegen drei und genau die richtige Zeit für genau diese Art der Erkundung und so zog ich in Richtung Hermannplatz. Vielleicht werde ich wieder auf meine Straßengang treffen, aber irgendwie war mir nicht sonderlich nach einem erneuten Aufeinandertreffen. Ich hoffte, sie würden, so wie es ein Löwenrudel nach erfolgreicher Jagd auch tut, einfach irgendwo in den Tag dösen. Auf dem Weg zum Hermannplatz stolperte ich über eine Pizzeria, die mir mit einem kleinen Biergarten, niedrigen Preisen und ansprechenden Öffnungszeiten ins Auge fiel. Um es vorwegzunehmen, der Laden wurde im Sommer 1987 mein Stammlokal. An heißen Tagen, nach ein paar Stunden im Sommerbad Neukölln, betrat ich den Laden, nur mit noch klammer Badehose bekleidet, ohne dass es jemanden wirklich interessierte. Salvatore, der Besitzer dieser Pizzeria gab mir für fünf Mark eine spitzen Pizza Hawaii mit vorzüglichem Dosenananas und für weitere fünf Mark eine Flasche Lambrusco in einer Temperatur, die schon mal die zwanzig Grad Marke knacken konnte. Womöglich war dies die italienische Variante von Zimmertemperatur. Das erste Glas, was ich trank, war immer mit etwas Überwindung verbunden, alle weiteren trank ich wie gepanschte Erdbeerbowle. Oft waren zwei Flaschen drin, wobei mich die zweite oft an den Rand einer geistigen sowie mehr noch, körperlichen Schieflage brachte. Verspürte ich den Drang nach ausschweifenden Selbstgesprächen, trank ich die zweite Flasche dann lieber doch zu Hause.
Dieses Sommerbad. Ach dieses von mir geliebte Sommerbad in Neukölln. Es wurde schnell zu meiner zweiten Heimat. Ich hatte keine Ahnung, wer Freibäder erfunden hatte, aber wer auch immer es gewesen ist, ich war dieser Person zu tiefstem Dank verpflichtet. Freibäder waren, neben Bier und Lambrusco, das Lebenselixier für mich. Sie waren der ideale Ort, um in den Tag zu springen. Stand ich am frühen Nachmittag auf dem Ein-Meter-Brett – meine Tage begannen selten vormittags –, sprang ich nicht einfach ins Becken, nein, ich sagte mir beim ersten Sprung immer: „Junge, mit diesem Sprung tauchst du wieder in einen besonders guten Tag ein, ab jetzt geht’s schon wieder! Und jetzt spring doch endlich, die Rowdys hinter dir werden immer unruhiger!“ Im Bad ging es mir noch nicht einmal darum, dass ich es besser gefunden hätte, wenn alle dort nackt rumgelaufen wären, für mich waren sie allesamt nackt genug. Nacktheit war sowieso ein sehr spezielles Thema für mich. Ich mochte sie bei allen anderen, nur selbst tat ich mich ausgesprochen schwer damit. Familiär geprägt, da Mutter und Vater sich nie in meiner Anwesenheit auch nur die Hemdkragen öffneten. Mittlerweile hatte ich mich allerdings an meine Freibadnacktheit gewöhnt, die ich ja sogar manchmal mit nach Salvatore trug. Freibadrituale der anderen Gäste fanden stets meine besondere Aufmerksamkeit. Insbesondere der weiblichen Freibadgäste. Während Männer und Kinder hin und wieder noch dazu neigten, sich vorher verstohlen und unsicher in der Umgebung umzuschauen, bevor sie den Hosenschlitz öffneten oder das Turnhemd über den Kopf zogen, waren Frauen in dieser Sache ganz anderes gestrickt und ohne jedes Schamgefühl. Dies traf ganz besonders auf die Frauen zu, die sich für ansehnlich und gut gebaut hielten. Das Ritual war, nachdem sie das Kassenhäuschen hinter sich gelassen und lässig mit der Hüfte das eiserne Drehkreuz angestoßen und durchlaufen hatten, immer dasselbe. Von einer Stelle, die ihnen beste Sicht über die gesamte Wiese bot, ließen sie ihren Blick über das Areal schweifen. Erspähten sie einen Platz, den sie besetzen wollten, marschierten sie stechschrittgleich in hohem Tempo zum auserwählten Ort. Um sicher zu gehen, dass niemand sonst ihnen noch in die Quere kommen könnte, warfen sie bereits aus einer Entfernung von mehreren Metern ihre Taschen und Zigarettenschachteln punktgenau auf die gewünschte Stelle. Diese Frauen wussten wirklich was sie wollten. Und dann begannen sie sich auszuziehen. Zeigten sie ihre körperliche Pracht erst einmal im Bikini, legten sie sich keineswegs sofort hin, sie blieben stehen, fingen an zu rauchen, zupften an ihren Bikini Obenrum- und Untenrum-Teilen herum und stellten sich genießerisch der Allgemeinheit zur Schau. Und ich schaute. Ich glaube, sie taten es einfach instinktiv. Lag ich fast vor den Füßen eines weiblichen Neuankömmlings, gab ich mich der Einbildung hin, sie würde sich nur für mich ausziehen. Sogar ein gedankliches Auffordern zum Entkleiden funktionierte. Ich selbst war für sie wie ein Unsichtbarer, ihre Blicke schweiften in die Ferne, nicht auf den Typen fast unter ihr. Was meine eigene Statue anging, war ich in einer sehr vorteilhaften Situation. Weder gab es sichtbare Muskeln, die an meinem Oberkörper zuckten, noch war ich von irgendwelchen sonstigen körperlichen Abnormitäten gekennzeichnet. Kein Arm wuchs mir aus dem Hals, der beim Gang zum Schwimmbecken umherschlackern würde, noch war mein Körper von irgendwelchen Wüstengeschwüren oder ähnlichem gekennzeichnet. Alles an meinem Körper war zu meiner Zufriedenheit außerordentlich durchschnittlich, mal abgesehen davon, dass ich als Mittzwanziger einen kugelrunden Bauch besaß. Aber dafür interessierten sich weder die Halbnackten, noch weckte er bei mir selbst irgendein besonderes Interesse.
Einer der Irrtümer, von dem ich mich in fast tragischer Weise zur damaligen Zeit leiten ließ, war der Glaube, dass Frauen Cineasten mögen, wenn nicht sogar lieben. Ich wusste durchaus was ein Cineast war, beließ es jedoch dabei, mein Cineastendasein mittlerweile auf das regelmäßige Durchblättern der „Cinema“ zu begrenzen. Ich war der Überzeugung, um sich als Cineast erfolgreich in der Öffentlichkeit präsentieren zu können, würde es ausreichen, nur zu wissen, was aktuell in den Kinos lief. Und man sollte zusätzlich in der Lage sein, ein paar dazugehörige Schauspieler mit in die Runde zu werfen. Das war´s. Kein Kino, kein Ticket, kein Sitzplatz, kein Popcorn, kein Film. Alles wurde mir viel zu aufwendig. Als ich neu in Berlin war, war das noch anders. Ich lungerte in meinem ersten Jahr ständig auf irgendwelchen abgewetzten Sitzen der Programmkinos rum. Doch merkte ich irgendwann nach einigen langen Kinonächten und auch anspruchsvollen Retrospektiven, dass ich zu oft auf schwere bis sogar ungenießbare Kost stieß, der ich kaum noch folgen konnte. Und so drehte ich immer mehr den Lichtspielhäusern meinen Rücken zu. Für meinen eigentlichen Zweck, der gelegentlichen Kontaktaufnahme im Sommerbad, sollten die Hefte ausreichend sein und nur darum ging es mir. Es gibt immer einen Weg um Aufmerksamkeit zu erhaschen. Die Cineasten-Schiene halt. Von diesem Gedanken getragen, vergaß ich nie, mich mit einem aktuellen Exemplar der „Cinema“ in die nachmittäglichen Sessions im Bad zu werfen. Es gab sogar Momente, in denen ich das Magazin nicht nur einfach so stumm aus meinem Rucksack kramte, sondern ich es hörbar kommentierte, mit Bemerkungen wie „So, jetzt lese ich erst einmal die neue Cinema, mal sehen, was die Kinowelt so hergibt.“ Rückblickend betrachtet, machen das, glaube ich, keine Cineasten, sondern wirklich nur Kontakthascher. Ich tat so, als ob ich mir das Cover anschauen würde, blickte aber an den Rändern vorbei über die Liegewiese und versuchte meinen Blick auf die halbnackten Frauen scharf zu stellen. Warum ich keine augengroßen Löcher ins Cover geschnitten hatte, weiß ich selbst nicht. Man sollte sich nichts vormachen, selbst wenn Frauen Cineasten mögen oder gar richtig auf sie stehen würden, sie würden es nicht zeigen, schon gar nicht im Freibad. Es hat geschlagene drei Sommer gebraucht, bis dann tatsächlich doch eine Frau den weiten Weg von drei Metern zu mir herüber machte und mich fragte, ob sie mal durch meine „Cinema“ blättern könnte. Wenn man einfach nicht mehr mit den Dingen rechnet, dann passieren sie. Nachdem ich meine anfängliche Verdutztheit einigermaßen in den Griff bekam, fragte ich sie, ob sie regelmäßig ins Kino gehe. So wie ich. Doch sie verneinte lapidar mit dem Hinweis, dass sie nur Ihre „Brigitte“ vergessen hatte und etwas gegen ihre Langeweile benötigte. Warum nicht ein Gespräch gegen die Langeweile, warum nicht einfach mal etwas Konversation? Warum habe ich sie nicht gefragt, ob sie sich nicht für eine lockere Unterhaltung über Gott und die Welt zu mir setzen möchte? Wenn fehlender Mut auf Desinteresse stößt, dann passiert eben auch nichts. Abgesehen von der Möglichkeit, fremde Körper zu begaffen, gab es noch etwas anderes, was Schwimmbadbesuche für mich so reizvoll machten. Fremden Leuten bei ihren Gesprächen zu lauschen. Ich ließ mich eines Tages neben zwei Frauen, höchstens Mitte zwanzig, nieder. Sie waren anfangs untereinander nicht sonderlich gesprächig, jedoch in der Lage, in einer mörderischen Geschwindigkeit Unmengen an Zigaretten zu rauchen. Sie waren wirklich echte Raucherinnen. Sie drückten ihre Kippen kurz aus, um sie dann gekonnt auf die Wiese zu schnipsen. Manche Kippen schnipsten sie meterweit durch die Luft und ich konnte sehen, wie diese noch endlos weiter glommen. Es sah dann aus, wie ein in Brand gesetztes Fort, was noch kohlte, wenn man es von einer Anhöhe aus weiter Entfernung betrachtete. Dann eröffnete eine von den beiden, wie aus heiterem Himmel, das Gespräch.
„Wat hast´n jestern jemacht?“
„Wat fragst´n so doof, weeste doch, wie immer halt.“
„War´n wa jestern zusammen? Ne, also, wat hast´n jestern jemacht?“
Die Befragte kniff die Augen zusammen und warf ganz offensichtlich ihr Gehirn an. Einen kurzen Moment später kam die Erinnerung zurück.
„Na klar, geil, einkoofen war ick. Mensch, ick war bei Bolle, war total geil, willste wissen wat ick einjekooft habe? Sach ick dir.“
Sie verstummte und überlegte.
„Haste Kippen jeholt?“, fragte die andere.
Keine Antwort.
„Sach schon, haste Kippen jeholt?“
„Scheiße, ne, hab ick verjessen, scheiße!“
Nun wurde die andere echt laut.
„Du jehst einkoofen und verjisst Kippen? Bist du denn total doof inner Birne, warum jeht man denn überhaupt einkoofen?“
„Ick jeh nachher Kippen koofen, echt jetzt.“
Das Gespräch verstummte, beide hockten sich im Schneidersitz gegenüber, legten ihre zwei angebrochenen Schachteln Kippen zwischen sich auf die Decke, zogen die Kippen aus den Schachteln und begannen sie zu zählen. Ich glaubte, sie kamen auf sechs Kippen, was für mich nichts anderes bedeutete, dass bereits in ungefähr zwanzig Minuten ihr Zigarettenreservoir weggeraucht sein wird. Sie rauchten stumm wie die Salamander ihre Zigaretten auf und verschwanden. Ich blickte ihnen noch lange hinterher und dachte mir, wie gnadenlos authentisch beide doch gewesen waren. Hätte ich eine Super-8-Kamera bei mir gehabt, ich hätte sie mit Sicherheit gefilmt. Sie brachten mich auf eine Idee. Nichts konkretes, sehr vage, aber doch eine Idee.