Kitabı oku: «Einmal Steinzeit und zurück ...», sayfa 3

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*

8

Leon erblickte die Frau am Kopf der Treppe. Ewig lange hatte er bereits in diese Richtung geschaut. „Sparky, da ist sie wieder“, flüsterte er. Der Hund lag dicht neben ihm und hob das Köpfchen.

In einem blau-rot gemusterten Kleid, das ihre Taille betonte und die langen, schlanken Beine zur Geltung brachte, nahm sie Stufe um Stufe und schritt kurz darauf barfuß durch den Sand. Wie schon am Tag zuvor klemmte unter ihrem Arm eine große Stofftasche. Das brünette Haar wurde von einer bunten Spange zusammengehalten. Sie steuerte auf den Platz zu, an dem Sparky sie begrüßt hatte. Dort breitete sie das Handtuch aus, streifte das Kleid ab und ließ sich geschmeidig nieder. Ihre Haut schimmerte in einem Bronzeton.

Mit ausgestreckten Beinen saß sie auf dem Strandlaken und blickte aufs Meer. Zwischen den Badegästen, die sich in kleinen oder größeren Gruppen über die Bucht verteilt hatten, wirkte sie wie eine Gestrandete auf einer einsamen Insel. Leon fühlte sich ebenfalls als Außenseiter an diesem Ort. Im Gegensatz zu ihm übernachtete die Frau jedoch bestimmt in einem Hotel, schlief im weichen Bett und genoss vorzügliches Essen.

Ab und zu warf sie ihm einen verstohlenen Blick zu. Vielleicht sagte sie sich: „Hauptsache, ich ende nicht wie der Wilde dort.“ Sollte er sie nicht einfach ansprechen? Früher wäre es ihm wahrscheinlich leicht gefallen. Aber den sorglosen, kontaktfreudigen Leon gab es nicht mehr. Außerdem wollte er die Frau nicht in Verlegenheit bringen.

Ein Paar schleppte Strandklamotten die Treppe hinunter. Der Mann trug ein kleines Mädchen auf den Schultern. Die Frau hielt ein größeres Kind an der Hand. Sie ließen sich am Fuße eines Gesteinsblocks nieder.

Leon erinnerte sich daran, wie er die Bucht kennengelernt hatte. Vor zehn Jahren war er mit seiner Familie in den Osterferien nach Lagos gereist, sein erster Auslandsurlaub. Sie wohnten in einem nahe gelegenen Appartement.

„Praia da Dona Ana. Der Name klingt so poetisch! Und ist es nicht ein malerischer Ort?“ Diese Worte hatte seine Mutter benutzt. Jeden Tag hatten sie sich hier aufgehalten.

Was für eine unbeschwerte Zeit!

„Seltsam, dass ich die Grotte damals nicht wahrgenommen habe“, dachte Leon. „Als Teenager habe ich die Umgebung bestimmt mit anderen Augen gesehen.“

Wie lange konnte er wohl noch in der Höhle wohnen? Von Tag zu Tag strömten mehr Besucher in die Bucht. Er musste bald eine Entscheidung treffen. Sollte er nach Deutschland zurückkehren? Nein, dazu war er momentan nicht in der Lage.

Leons Blick ging wieder zu der Frau. Wo sie wohl lebte? Auf jeden Fall sprach sie Deutsch. Vermutlich war sie mit dem Flugzeug gekommen.

An seine eigene Anreise erinnerte er sich nur bruchstückhaft. Ungefähr drei Tage hatte die Zugfahrt von Münster nach Lissabon und von dort weiter mit dem Bus nach Lagos gedauert. Er wusste nicht mehr, wie oft er umgestiegen war und wo er die Tickets gelöst hatte. Schlaf hatte er – wenn überhaupt – in den Nachtzügen gefunden.

Dann stieg Leon endlich in Lagos aus dem Bus, irrte durch die Stadt und stand plötzlich vor einem Hostel. Bjarnes Dream las er. Das Haus machte einen gepflegten Eindruck. Der Besitzer, ein sympathischer Däne, der fließend Deutsch sprach, bot ihm ein Einzelzimmer zu einem fairen Preis an. Außer Leon wohnten zu der Zeit kaum Gäste in der Unterkunft. Er trug eine Tasche mit sich, in die er vor der überstürzten Abreise wahllos Kleidungsstücke gestopft hatte. Außerdem baumelte seine Gitarre an einem breiten Gurt über seiner Schulter. An das Instrument hatte er sich während der Reise wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz geklammert.

Er fasste Vertrauen zu Bjarne und das beruhte offenbar auf Gegenseitigkeit.

„Ich kenne Typen, die behaupten, sie hätten die Überflussgesellschaft satt. Und dann siehst du sie vorm Supermarkt sitzen und betteln. Denen laufe ich wochenlang hinter dem Geld her. So welche kommen mir nicht mehr unter. Du bist nicht so jemand, das merkt man an deinen Umgangsformen“, sagte Bjarne.

Trotzdem oder gerade deswegen bezahlte Leon sein Zimmer im Voraus. „Kann ich eine Tasche mit Klamotten bei dir lagern?“, fragte er. „Für das, was ich vorhabe, brauche ich nur das Nötigste.“

Der Däne schob das Gepäck in einen Abstellraum.

„Kannst du mir sagen, wo ich eine Angel herbekomme?“

Bjarnes Antwort kam prompt: „Ich leihe dir meine. Wenn ich mal Zeit habe, gehe ich lieber surfen. Du kannst sie mir ja irgendwann wiedergeben.“

Einen Tag später war Leon mit Angel, Gitarre und einem Seesack losgezogen. Das war lange her. Ob Bjarne sich überhaupt noch an ihn erinnerte?

Im Moment blieb sein Blick wieder an der Frau hängen, die auf ihrem Handtuch lag. Sparky würde es hoffentlich nicht wagen, sie noch einmal zu überfallen, wobei sie es ihm sicher längst verziehen hatte. Sie wirkte völlig unerschrocken, wie sie kurz darauf durch das Wasser lief und lange im Atlantik schwamm.

„Im Gegensatz zu mir wird sie bestimmt bald in ein geregeltes Leben zurückkehren“, dachte er. Wie das aussah, würde er nie erfahren.

*

9

Böen peitschten über den Atlantik, der mit jeder Welle am Gestein emporkletterte, um in Sturzbächen wieder herunterzulaufen. Die Wassermassen trafen mit einer solchen Wucht auf den Strand, dass es sich wie Donnergrollen anhörte. Die Gischt spritzte, dampfte und zischte. Die Praia da Dona Ana lebte!

Vanessa atmete mehrmals tief ein und aus. Die Luft schmeckte feucht und salzig. Das Wasser zupfte und zerrte an dem Felsen, der sie an ein Frauengesicht erinnerte. Sie hatte das Gefühl, die Frau im Stein würde ihr zuzwinkern.

„Habe ich auch so ausgesehen, als Toni sich mir offenbart hat?“, fragte sie sich.

Vanessas Abreise stand kurz bevor. Sie durfte nicht an Deutschland denken. Hatte keine Wohnung, keine Arbeit und keinen Partner mehr.

Der Wind fuhr ihr permanent durch das Haar. Sie hüllte sich in ein Handtuch. Gerne wäre sie noch einmal im Atlantik geschwommen, die tosende See hielt sie jedoch davon ab. Vanessa schaute sich um. Nur der Aussteiger saß in der Grotte, den Blick in die Ferne gerichtet. Aber er wohnte ja hier. Für längere Zeit auf jeglichen Luxus zu verzichten, musste ein nachhaltiges Erlebnis sein. Es gehörte sicher Mut dazu, alles hinter sich zu lassen.

„Am besten setze ich mich heute Nacht an den Strand. Dann kann ich vielleicht nachvollziehen, wie es ist, hier zu leben“, dachte sie. Ihr war aber bewusst, sie würde niemals ganz loslassen können. Besonders schwerfallen würde es ihr, den ganzen Tag mit niemandem zu reden. Gutes Essen und ab und zu ein Glas Wein würden ihr ebenfalls fehlen. Aber jetzt war Vanessas Chance gekommen, sich so gut wie möglich vom Überfluss loszueisen.

Sie dachte über die vergangene Woche nach. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, sich die Sehenswürdigkeiten von Lagos anzuschauen und ausgiebige Spaziergänge ins nahe gelegene Naturschutzgebiet zu unternehmen, hatte sie sich ausschließlich an der Praia da Dona Ana aufgehalten. Sollte sie den Urlaub nicht ein oder zwei Wochen auf Tonis Kosten verlängern? Vielleicht würde er ihr sogar noch ein paar freie Tage gönnen. Aber nein, das konnte sie nicht bringen. Sie würde am nächsten Tag wie geplant nach Deutschland zurückfliegen. Eine Rückkehr nach Lagos schloss sie allerdings nicht aus. Jetzt hieß es erst einmal Abschied nehmen.

Vanessa erhob sich, drehte sich einmal im Kreis. Versuchte, sich jeden Zacken und Winkel der Bucht einzuprägen.

„Wie werde ich diesen Ort vermissen! Wenn die Hektik im Alltag zu heftig wird, muss ich mich in Gedanken hierherbeamen“, dachte sie.

Sie hatte den Strand auf unzähligen Fotos verewigt, um Evelyn neidisch zu machen. Das Meeresrauschen und die Rufe der Möwen gaben die Bilder jedoch nicht her.

Den Aussteiger würde Vanessa ebenfalls vermissen. Wie gerne hätte sie ihn gefragt, warum er so zurückgezogen lebte. Wie alt mochte er sein? Vermutlich wesentlich jünger, als er aussah.

Als die Sonne verschwand, unternahm Vanessa einen letzten Spaziergang. Der Mann hockte inzwischen tief in der Höhle. Sie konnte nur seine Silhouette sehen. Der Hund lag im Eingang und sah in ihre Richtung. Wie gerne hätte sie ihn gestreichelt.

Eilig packte sie kurz darauf ihre Sachen, klemmte sich die Tasche unter den Arm und betrachtete ein letztes Mal die gigantische Felswand. Oben am Weg erblickte sie fünf bis sechs Jugendliche, die über eine Absperrung geklettert waren. Einer stand mit dem Rücken zum Abgrund und hielt ein Handy in die Höhe. Er trat einen Schritt zurück. Rutschte ab. Eine Frau kreischte. Der Typ hatte sich auf einen Vorsprung gerettet. Wenn der abbrach, würde er in die Tiefe stürzen.

Vanessa griff zum Smartphone, jederzeit bereit, einen Notruf abzusetzen. Die anderen eilten ihm zu Hilfe, vorsichtig genug, um sich nicht ebenfalls in Gefahr zu begeben. Es gelang ihnen, den Verunglückten auf die sichere Ebene zurückzuziehen.

Sie ärgerte sich über das leichtsinnige Verhalten. Schaute noch einmal Richtung Höhle. Winkte dem Hund zu. Dann stieg sie die lange Treppe hinauf.

*

10

Leon zog sich früher als sonst in die Höhle zurück. Der Sturm war inzwischen so heftig, dass er es auf dem Plateau nicht mehr aushielt.

Kaum hockte er in seinem Reich, erschien die Frau am Strand. Außer ihr hielt sich niemand in der Bucht auf. Sie ließ sich von dem Sturm nicht beirren und setzte sich in den feuchten Sand. Immer wieder blickte sie sich um, betrachtete die Felsen. Nahm sie Abschied?

Er erinnerte sich, wie sie vor ein paar Tagen mit Sparky gesprochen hatte. Leon hatte in dem Moment das Bedürfnis verspürt, mit ihr zu reden. Wie lange hatte er nicht mehr mit einem Menschen unterhalten?

„Sparky, ich bin eigentlich nicht für die Einsamkeit geschaffen“, flüsterte er. „Werde ich jemals wieder unter Leute gehen können? Eine Partnerin finden?“ Männer und Frauen passten gut zusammen, das hatten ihm seine Mutter und Pepe jahrelang vorgelebt.

Die Urlauberin erhob sich. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die Bucht verlassen würde.

Leon griff sich das Angelzeug. Wollte die Frau noch einmal aus der Nähe sehen. Dieses Mal würde er nicht davonlaufen, wenn Sparky den Kontakt zwischen ihnen herstellte.

„Auf geht’s“, rief er. Der Hund flitzte zum Höhlenausgang.

Plötzlich ertönten laute Stimmen von oben.

Was war da los?

Wahrscheinlich handelte es sich um unvorsichtige Spaziergänger, die an der Kante herumkletterten. Soweit Leon es mitbekommen hatte, war hier zum Glück noch nie jemand abgestürzt.

Er machte einen Rückzieher. Beschloss, abzuwarten, und beobachtete stattdessen die Frau. Ihr Blick haftete auf einer Stelle oberhalb der Höhle. Sie schien zunächst verwundert, dann entsetzt. Zückte ihr Handy.

Erst nach einer guten Weile entspannte sich ihre Miene wieder. Die Stimmen der Leute waren verstummt.

Leon wollte runter an den Strand. Die Frau winkte und lächelte. Meinte sie ihn? Nein, das Lächeln galt Sparky, der ebenfalls in ihre Richtung schaute. Mit erhobenem Kopf eilte sie davon.

*

11

Vanessa ließ den Tinto Douro die Kehle hinunterlaufen. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Vor zwei Jahren hatte sie ein Weinseminar besucht und sich unter anderem Kenntnisse über die Vielzahl der portugiesischen Rebsorten angeeignet. Anlässlich ihres letzten Abends in Lagos hatte sie sich eine Flasche des fabelhaften Roten bestellt. Sie hob das Glas erneut und sagte leise: „Auf Toni und Manu. Werdet glücklich miteinander!“

Sie ging zum Büfett, das eine gelungene Mischung aus lokalen Spezialitäten und internationalen Gerichten bot. Wer wusste schon, wann sie noch einmal dermaßen schlemmen konnte.

Nach dem Verzehr einer Gazpacho stellte sie sich einen Teller mit in Öl und Knoblauch eingelegten Karotten, Schafsmilchkäsehäppchen und Spinatpasteten zusammen. Vanessa bevorzugte vegetarische Speisen. An den Fischgerichten wie Bacalhau, Robalo und Sargo kam sie jedoch nicht vorbei. Zum Nachtisch gönnte sie sich ein Pastéis de Nata, ein in Blätterteig gebackenes Sahnepuddingtörtchen.

Der Kellner, der ein weißes Schild mit der Aufschrift Isolino auf dem schwarzen Hemd trug, war an diesem Tag offensichtlich nur für ihren Tisch eingeteilt. Schenkte ihr abwechselnd Wasser und Wein nach, räumte das Geschirr weg, wenn sie sich den letzten Bissen auf der Zunge zergehen ließ, und brachte in Rekordzeit einen Espresso. Zum Abschluss der köstlichen Mahlzeit servierte er einen Medronho, einen Obstbrand, und zwinkerte ihr zu.

Sie betrachtete seinen Bizeps. Sollte sie sich demnächst in einem Fitnesscenter anmelden? Wichtiger waren die Jobsuche und der Umzug. Per Voicemail hatte sie Evelyn am Vortag mitgeteilt, dass sie das Angebot, bei ihr einzuziehen, annehmen werde.

Satt und zufrieden verließ sie das Restaurant. Als sie auf den Aufzug wartete, legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Der Mund des Kellners näherte sich ihrem Ohr. Er flüsterte: „Please meet me in front of the hotel at midnight“, und war schon wieder verschwunden.

Vanessa bekam eine Gänsehaut. Warum wollte er sie treffen? Bestimmt nicht, um ihr die Stadt zu zeigen oder ihr seine Schwester vorzustellen. Sie checkte die Uhrzeit auf dem Smartphone. Noch zwei Stunden bis Mitternacht. Sie beschloss, einen allerletzten Abstecher an die Praia da Dona Ana zu machen. Vielleicht träfe sie am Strand auf den Aussteiger. Sie wollte so gerne wissen, warum er in der Höhle lebte. Bei dem Gedanken, er säße entspannt am Feuer, grillte sich Fische und redete mit dem Hund, wurde ihr warm ums Herz.

Vanessa eilte in ihr Zimmer, tauschte die Pumps und das kurze Schwarze gegen flache Schuhe, Flickenjeans und einen Pullover. Darüber zog sie eine Steppjacke. Dann verließ sie das Hotel.

War es nicht gefährlich, um diese Uhrzeit als Frau hier alleine herumzulaufen? Sie erinnerte sich an den Spaziergang mit Toni. An seiner Seite hatte sie sich stets sicher gefühlt. Doch sein Outing hatte sie in eine Krise gestürzt. Das Fundament, auf dem sie ihre Zukunft errichtet hatte, war eingesackt. War das erst eine Woche her?

Behutsam nahm sie eine Stufe nach der anderen. Der Strand lag still und menschenleer vor ihr. Der Atlantik schien immer noch aufgewühlt. Zwei Strahler tauchten einen Teil der Felswand in gespenstisches Licht. Das Frauengesicht lag im Dunkeln und sie konnte es nur erahnen. Trotz warmer Kleidung fror sie. Sie hüpfte auf und nieder.

„Wie schön wäre es, wenn ich den niedlichen Hund streicheln könnte.“ Schnellen Schrittes lief sie am Meer entlang, bemüht, nicht von einer Welle überrascht zu werden. Ständig glitt ihr Blick zur Höhle. Nicht der geringste Lichtschein. Vielleicht war der Mann unterwegs. Oder er schlief bereits. Sollte sie mal Hallo rufen?

Sie entschied sich dagegen.

Vanessa drehte zahlreiche Runden, der Klang der Wellen drang tief in ihr Ohr. Am Strand fehlte ebenfalls jede Spur von dem Aussteiger.

Ein allerletztes Mal verließ sie die Bucht und kehrte enttäuscht zum Hotel zurück. Schon von Weitem sah sie den Kellner, der vor dem Eingang wartete, obwohl es noch nicht Mitternacht war. Er zog genüsslich an einer Zigarette.

„I am so happy that you are here. Call me Iso“, sagte er mit samtweicher Stimme. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Der Portugiese war ein bisschen kleiner als sie, modern gekleidet. Er nahm sie an die Hand. Schweigend liefen sie Richtung Innenstadt. Schlenderten schon bald eng umschlungen durch die Altstadt. Vanessa spürte die Wärme seines Körpers und roch das herbe Aftershave. Wie lange waren sie schon unterwegs? Isolino stoppte vor einem einstöckigen Haus in einem der unzähligen Gässchen. Er umfasste ihr Gesicht. Streichelte ihre Wangen. Berührte ihren Hals mit seinen Lippen. Die Küsse wurden inniger.

Die dicke Kleidung engte Vanessa ein und sie fühlte sich unwohl. Sie löste sich aus der Umarmung. Aus dem Augenwinkel sah sie eine kleine Gestalt über den Bürgersteig huschen. War das nicht der Vierbeiner aus der Höhle? Bevor sie genauer hinschauen konnte, war das Tier bereits verschwunden. Vanessa riss sich von Isolino, der sie soeben wieder in den Arm genommen hatte, los und murmelte: „I am sorry!“

*

12

„Nessaa!“

Vanessa zuckte zusammen. Die mit den Armen rudernde Evelyn stand inmitten einer Menschentraube im Ankunftsbereich des Düsseldorfer Flughafens. Man konnte ihre südeuropäischen Wurzeln weder übersehen noch überhören. Sie hatte das dunkle Haar zu einem Zopf geflochten und die Ponyfransen zur Tolle frisiert. Auf ihrem Kopf prangte eine Schleife, die farblich zum Kleid passte. Der kirschrote Lippenstift harmonierte mit dem Nagellack. Die Brille rutschte ihr fast von der Nase. Sie steckte in einem schwarzen Kleid mit großen weißen Tupfen. Darüber trug sie eine Wolljacke.

„Linn, schön, dass du mich abholst.“

„Ich komme aus Hürth. Wir zeichnen dort eine Kochshow auf. Heute war die Vorbesprechung. Bin ich froh, dass du da bist. Die nächsten Wochen will ich dich nur für mich haben.“ Sie drückte Vanessa an ihre Brust.

Dann schaute sich nach allen Seiten um. Sie war – vielleicht nicht so oft wie Toni – in den Medien präsent und wurde recht häufig von dem einen oder anderen Passanten erkannt. Was Evelyn stets genoss.

„Du erinnerst mich irgendwie an ein Osterei.“ Vanessa grinste breit.

„Mach dich ruhig lustig über mich. Aber du siehst echt toll aus. Und Farbe hast du bekommen.“ Evelyn schaute Vanessa in die Augen. „Sag mal, hattest du ...?“

„Linn, sei still! Wir reden, wenn wir unter uns sind.“

„Ich wollte doch nur fragen, ob du einen guten Flug hattest.“ Evelyn machte einen empörten Gesichtsausdruck.

„Ach so! Der Flug war super. Ich konnte sogar noch die Augen schließen.“

Von dem Lärm und der Hektik, die hier im Gegensatz zum Flughafen in Faro herrschten, schwirrte Vanessa jedoch nach wenigen Minuten der Kopf. Sie beglückwünschte sich zu der Entscheidung, den Aufenthalt in der Algarve bis zur letzten Sekunde ausgekostet zu haben. Sie hatte, nachdem sie aus der Altstadt zurückgekehrt war, noch lange auf der Terrasse gesessen und in den Sternenhimmel geschaut. Erst weit nach Mitternacht gepackt und danach kaum ein Auge zugetan.

Das Hotel hatte ihr einen Shuttle zum Flughafen organisiert.

Der Algarve-Urlaub war nun beendet und sie musste sich auf den Neubeginn konzentrieren.

„Nessa, die Sache mit Toni ist unglaublich!“, holte Evelyn sie aus ihren Gedanken zurück. „Ich mache mir solche Vorwürfe, dass ich nichts geahnt habe. Normalerweise habe ich eine Antenne für … Na ja, du weißt schon. In der Szene gibt es so viele Gerüchte über Gott und die Welt. Aber was den Löffler angeht: nichts, nada, niente.“

„Linn, ich habe mit Toni zusammengewohnt, nicht du.“

„Er hat sich übrigens noch nicht geoutet. Ich schaue ständig im Netz nach. Nicht die kleinste Notiz. Er kann froh sein, dass ich dir das Versprechen gegeben habe, zu schweigen.“ Evelyn schnappte sich das Handgepäck und eilte Richtung Ausgang.

Eine kühle Brise wehte Vanessa vor dem Flughafengebäude entgegen. Von frischer Luft konnte jedoch keine Rede sein. Sie sehnte sich sofort wieder in die Algarve zurück. Auf der Fahrt nach Köln schaute sie auf ihr Smartphone.

„Toni hat mir zahlreiche Nachrichten geschickt. Ich muss ihn anrufen“, sagte sie.

„Tu, was du nicht lassen kannst. Für mich wäre er gestorben. Der hat doch nicht alle Latten am Zaun.“

„Linn hat mich am Flughafen abgeholt. Ich werde bei ihr wohnen. Melde mich wieder“, sprach Vanessa aufs Band. An einem Samstagabend war der Maître im Stress. Sie hatte nicht erwartet, mit ihm persönlich reden zu können.

„Wahrscheinlich macht er einen Freudensprung, wenn er deine Nachricht hört, und lädt direkt diesen Manu ein.“

„Ach, das glaube ich nicht“, sagte Vanessa. Hatte plötzlich das Bedürfnis, Toni in Schutz nehmen zu müssen. Er war ein Workaholic, daran würde auch ein Manuel nichts ändern.

Evelyn stand bereits vor ihrem Sportcoupé in Weinrot metallic. Inzwischen regnete es in Strömen und die Schleife auf ihrem Kopf hing herunter wie ein nasser Lappen.

„Ich habe mein Schätzchen letzte Woche angemeldet. Leider muss das Verdeck jetzt zu bleiben.“

Auf der Autobahn herrschte schlechte Sicht, obwohl der Scheibenwischer auf Hochtouren lief. Evelyn war verstummt und fuhr mit konzentriertem Gesichtsausdruck. In Rodenkirchen angekommen, riss der Himmel auf und die Fassade der Villa mit den weißen Fensterläden und dem schmiedeeisernen Gitter vorm Balkon leuchtete hellrot in der Sonne.

„Du warst ja ewig nicht mehr hier“, sagte Evelyn. „Ich habe das Haus vor zwei Monaten streichen lassen. Gefällt dir die Farbe?“

„Sehr gut“, sagte Vanessa.

„Ich bin froh, dass die ganzen Renovierungsarbeiten endlich abgeschlossen sind. Nach Tante Benitas Tod musste hier mal einiges gemacht werden. Jetzt bin ich wirklich zufrieden. Habe aber leider immer noch keinen neuen Gärtner gefunden. Der Theo hat im Herbst aufgehört.“

Der Garten, der sonst wie aus dem Ei gepellt aussah, machte im Moment einen eher wildromantischen Eindruck. Aber die Lage des Hauses war exklusiv. Man konnte, wenn man den Hals reckte, die Schiffe auf dem Rhein sehen.

„Jetzt hat es aufgehört zu regnen“, grummelte Evelyn.

„Gott sei Dank. Lass uns gleich noch einen Spaziergang unternehmen“, schlug Vanessa vor.

„Okay, aber erst zeige ich dir dein Reich.“ Evelyn öffnete die Tür des Appartements im Parterre. Es roch blumig. „Meine Perle hat gestern noch einmal gründlich sauber gemacht. Sie kommt zweimal die Woche.“

Vanessa hatte kaum vermutet, dass Evelyn selbst durchgewischt hätte.„Ist ja alles tipptopp. Ist ja alles tipptopp! Solange ich hier wohne, putze ich allerdings selber.“

„Wie du möchtest, Liebes.“

Das Wohnzimmer war mit einer anthrazitfarbenen Couchlandschaft und einem Glastisch sowie einem dunklen Büfettschrank ausgestattet. In einer Ecke gab es eine Essgruppe. Die Stühle waren weiß gepolstert. Auf dem Tisch stand ein Tulpenstrauß in einer Kugelvase. Der hellgrau geflieste Boden wurde von zwei großen lachsfarbenen Teppichen bedeckt. Vanessa betrachtete das Bild Amaryllis von Bruno Bruni, ein Aquarell auf Bütten im Silberrahmen. Evelyn hatte ihr vor einem Jahr von dem Kauf erzählt. Sie öffnete eine Tür. Bettbezüge aus rotem Satin fielen Vanessa ins Auge. Die Fenster waren von rosa Seidenstores umrahmt.

„Wunderbar“, stammelte sie.

Die Küche sah aus wie aus einem Katalog. Nagelneue Kochzeile, hochmoderne Geräte. „Linn, das ist perfekt“, sagte sie. „Aber jetzt würde ich wirklich gerne etwas Luft schnappen. Der Flug war zwar nicht besonders lang, aber ich brauche Bewegung.“

„Gut. Ich muss mich erst noch umziehen. Wir treffen uns in einer Viertelstunde vorm Haus.“

Vanessa betrat das Bad. Es wirkte, als hätte es noch nie jemand benutzt, was wahrscheinlich der Fall war. Die Armaturen glänzten und die Kacheln waren so blank, dass man sich darin spiegeln konnte. Sie machte sich frisch, wechselte das T-Shirt und zog Turnschuhe an.

Evelyn erschien etwas später als vereinbart. Sie trug Jeans und ein beiges Poloshirt sowie Trekkingschuhe. Sie hatte den Pony frisch toupiert.

„Linn, ich wusste gar nicht, dass du so robuste Kleidung im Schrank hast! Willst du mit mir auf den Drachenfels?“

„Wer weiß?“ Sie zwinkerte verheißungsvoll.

Sie spazierten zur Rodenkirchener Riviera mit ihren zahlreichen kleinen Buchten. Die Sträucher zeigten bereits zarte Triebe und die Amseln überboten sich gegenseitig mit ihrem Gesang.

Nachdem sie, ganz ins Gespräch über die letzten Jahre vertieft, immer weiter flussaufwärts gelaufen waren, kehrten sie um.

Kurze Zeit später saßen sie auf Evelyns Ecksofa aus braunem Veloursleder. Sie hatten sich eine große Spinatpizza geteilt und stießen nun auf die Zukunft an. Im Duty-free-Shop hatte Vanessa einen hochwertigen Sherry erstanden. Der blieb unangetastet. Evelyn goss soeben Champagner nach.

„Erzähl mal. Was hast du letzte Woche denn so gemacht?“

„Nach Tonis Outing habe ich mich total betrunken und als ich wieder nüchtern war, habe ich über mein Leben nachgedacht. Ich habe mich oft in dieser zauberhaften Bucht aufgehalten und aufs Meer geschaut. Geschwommen bin ich natürlich auch.“

Evelyn rollte mit den Augen. „Hör auf mit dem Theater. Du weißt, was ich meine!“

„Nee, weiß ich ehrlich gesagt nicht.“

„Ich spreche von Männerbekanntschaften. Du kannst mir nicht erzählen, dass eine attraktive Frau wie du im Urlaub lange allein bleibt. Der Kellner oder der Höhlenmensch?“

„Liebe Linn, Gastrokritikerinnen dürfen alles essen, aber nicht alles wissen.“

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