Kitabı oku: «Nordwestbrise», sayfa 3

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Utina wälzte sich hin und her, und plötzlich sah sie durch die halb geschlossenen Lider wieder den Mann mit dem Licht. Im Wachen und im Träumen war sie ihm schon so oft begegnet, dass sie ihn zu kennen glaubte. Er roch nach Wein und Kräutern, und wenn er sich über sie beugte, sah sie seinen buschigen grauen Bart. Mit langen, mageren Fingern strich er ihr das schweissverklebte Haar aus der Stirn und murmelte ein Gebet. Utina jammerte und schloss die Augen, während er den Verband entfernte, die Wunde auswusch und eine Salbe darüberstrich. Als er ihr Honigwein einflösste, merkte sie erstaunt, dass sie Hunger hatte. Sie wollte sich aufstützen, fiel aber kraftlos aufs Bett zurück.

«Schläfst du nie?», fragte sie und hatte Mühe, die eigene matte Stimme zu erkennen.

«Nur wenig. Im Wachen werde ich mehr gebraucht. Dein Vater hat dich zu uns ins Kloster gebracht. Ich bin Otmar, der Abt.» Er zögerte und fügte hinzu: «Du hast viele schlimme Nächte gehabt und bist schwach. Ich bringe dir gleich Brei.»

Utina versuchte, sich zu erinnern, und plötzlich war da wieder der furchtbare Schmerz und der Geruch von verbranntem Fleisch. «Hast du mir so weh getan?»

«Es ging nicht anders. Die Wunde hat stark geeitert, da haben wir das faule Fleisch weggeschnitten und das Blut mit dem Brenneisen gestillt.»

«Wir?»

«Einige Priester und Brüder, die alle mithelfen, Kranke und Verletzte zu pflegen.» Otmar rieb sich die faltigen Augenlider.

«Bist du müde?»

Er seufzte und nickte.

«Umso dankbarer bin ich, dass du dich um mich kümmerst.» Utina versuchte zu lächeln. «Wo ist mein Vater?»

«Er wird in eurer neuen Siedlung gebraucht. Aber er kommt bald zurück.»

Utina schaute sich um. Wie in einer Mönchszelle oder einem Spital sah es nicht aus, eher wie in einem normalen kleinen Pfostenhaus. Es gab aber keinen Herd, dafür ein zweites Holzbett und mehrere Strohsäcke.

«Hier schlafen hohe Frauen, die zum Grab des heiligen Gallus pilgern. Seine Kraft hat dich ins Leben zurückgeholt», erklärte Otmar, und Utina wollte fragen, ob sie denn eine hohe Frau sei, aber sie fühlte sich zu erschöpft und schlief ein.

Die Genesungszeit schien nie zu enden. Fast immer, wenn der Abt kam, musste Utina ein Gebet mit ihm sprechen. Das Vaterunser, das sie in der Kirche gelernt hatte. Sie war von Arbon her gewohnt, es herunterzuleiern. Jetzt, in der Stille, drehten sich die Worte in ihrem Kopf, und sie machte sich Gedanken über ihren Sinn. Alles wollte sie von Otmar wissen: was das Reich Gottes bedeute, was Versuchung und Erlösung. Aber er meinte nur, ihr sei das Reich Gottes sicher, wenn sie weiter bete, und überdies helfe das Vaterunser bei der Genesung.

Weil sie ihn weiter ausfragte, begann Otmar schliesslich, von sich selbst zu erzählen, und sagte, sie beide seien verwandt, und auch er sei in Arbon aufgewachsen. Da verstand Utina, weshalb sie ihm vertraute wie Otpert und früher Waldram. Und weshalb er sie in diesem Haus untergebracht hatte und nicht bei den Armen.

Als Utina einmal wissen wollte, ob Otmar immer im Kloster gewesen sei, berichtete er von seinen Reisen, und ihr schien, als sei er wieder jung geworden. Er habe schon bei den Priestern in Arbon viel gelernt, sagte Otmar, und weil Waldrams Schwester mit dem hohen Herrn Victor aus Chur verheiratet gewesen sei, habe der ihn in seinen Dienst genommen.

«Bei meiner Ankunft in Churrätien bin ich etwa so alt gewesen wie du jetzt. Ich habe dort Theologie studiert und Kinder unterrichtet. Einmal bin ich bis nach Italien gereist, als Bote und Schreiber Victors, der auch dort Ländereien besass. Victor war Präses, das heisst, er durfte regieren und richten.» Später sei er, Otmar, als Priester nach Walenstadt geschickt worden. Das sei kein Pilgerziel, sondern ein wichtiger Durchgangsort für Handelsreisende. Utina wollte mehr über diesen Präses wissen, aber Otmars Gesichtsausdruck verfinsterte sich, und der Abt meinte kurz angebunden, von Victor habe er eigentlich nie mehr sprechen wollen.

Als Utina zum ersten Mal ins Freie gehen durfte, musste sie sich auf den Arm einer Magd stützen, so ungewohnt kam es ihr vor, auf den Beinen zu stehen. Das Licht und die vielen Menschen beunruhigten sie. Fast sehnte sie sich nach der Stille ihres Krankenzimmers zurück und nach den heilsamen Besuchen des Abtes. In vielen dunklen Stunden hatte Otmar an ihrem Bett gesessen, aber jede Nacht ging er auch ins Spital, um die Kranken zu pflegen, und oft machte er noch einen Abstecher ins Armenhaus. Doch immer kehrte er zu ihr zurück, bevor er sich im Morgengrauen für einige Stunden schlafen legte.

Mit jedem Schritt fühlte Utina sich kräftiger, sie wollte die Magd entlassen, aber die hatte offenbar vom Kloster den Auftrag bekommen, ihr zu folgen. Utina achtete nicht mehr auf sie und folgte dem Pfad, der auf einen Hügel führte. Er war mit gelbem und rotem Laub bedeckt, die Bäume rundherum waren schon fast kahl.

Die Aussicht nach Süden erstaunte Utina. So weitläufig hatte sie sich die Zelle des heiligen Gallus nicht vorgestellt. Rund um das Kloster verstreut lagen Felder, durchzogen von Wegen, die in den Ort führten, der ihr nicht viel kleiner als Arbon vorkam. Auf der Strasse waren Menschen, die, wie Otmar ihr erzählt hatte, zu Fuss zum Kloster pilgerten. Der Anblick war anders, doch in seiner Art schön wie jener von Utinishusen vor dem Brand, aber sie fühlte sich hier genauso fremd. Ohne Utalind und ohne den weiten Blick über den Bregenzersee.

Im Ort unten hätte Utina sich lieber ohne Begleitung umgesehen, aber die Magd liess sich nicht abschütteln. Schliesslich kehrte sie zum Haus zurück, hiess die Dienerin, im Kloster den Kräutertrank abzuholen, den der Abt für sie zubereitet habe, und trat wieder ins Freie. Endlich allein. Im Zentrum sah Utina keine Mönche, aber als sie den Weg zur Kirche einschlug, begegnete sie Pilgern.

Das Gotteshaus war massiv und grösser als die Häuser und Scheunen. Direkt daran angebaut befand sich ein hölzerner Gebäudekomplex mit einer schweren Tür. Das musste das Kloster sein.

Utina wollte zum Gästehaus zurückkehren, aber dann sah sie, wie ein Mann vom Pferd stieg und an die Pforte klopfte. Seine vornehme Kleidung wirkte sauber, aber um seinen Kopf war ein blutverkrustetes Tuch gebunden.

Es verging einige Zeit, bis ein Klosterbruder die Tür öffnete. Für Kranke sei der Abt immer da, sagte er mit einem Blick auf den Verletzten, liess die Tür offen und ging davon. Utina sah, wie er durch den Kreuzgang eilte, den Wände mit vielen Türen begrenzten. Als eine Tür aufging und ein Mönch herauskam, konnte sie einen Blick in dessen schmale Behausung werfen. Das mussten die neuen Zellen sein, von denen der Vater erzählt hatte. Früher, zu Gallus’ Zeiten, hatten die Mönche in einzelnen Hütten gehaust, wie der bescheidene Abt es als Einziger heute noch tat.

Die Sonne stand hoch am Herbsthimmel, und Utina hatte keine Lust, sich wieder im Gästehaus zu verkriechen. Ohne Ziel spazierte sie an den Häusern vorbei, zwischen denen Brennnesseln und Disteln wuchsen. Manche Behausungen waren von einem eingezäunten Stück Land umgeben. Utina sah sorgfältig angelegte Kohlbeete, wie sie sie von früher in Erinnerung hatte. Ab und zu flatterte ein Huhn oder eine Gans über den Weg, und einmal begegnete sie einem Knaben, der Schafe vor sich hertrieb. Mägde und Bäuerinnen nickten ihr im Vorbeigehen ehrerbietig zu, aber Utina freute sich mehr über die gutmütigen, freundlichen Blicke als über den Respekt, der wohl eher ihrer Erscheinung als ihr selbst galt.

Zum ersten Mal seit ihrer Krankheit trug sie wieder ihre gute blaue Kleidung. Weil sie sich in St. Gallen sicher fühlte, hatte sie das Amulett aus dem Saum herausgelöst und hielt vorn die Tunika damit zusammen. Ein schmaler Gürtel raffte das langärmlige Unterkleid an der Taille. Auf das daran befestigte Gehänge war Utina besonders stolz. Bergkristalle glitzerten auf dem Leder, und am längsten Riemen baumelten zwei Schmuckschlüssel. Ein Blick auf ihr Täschchen erinnerte Utina an Utalind. Die Schwester hatte Riemen aus zweifarbigem Leder mit Millefioriperlen getragen, ein kostbares Geschenk des Vaters, weil sie sich darauf gefreut hatte, den Mann zu heiraten, den er für sie ausgesucht hatte.

Der Gestank von Unrat riss Utina aus ihren Gedanken. Angewidert schlug sie einen Nebenweg zwischen den Häusern ein, wollte schon umkehren, weil der Boden von Essensresten übersät und schmierig war, aber dann hörte sie ein leises Hämmern, das sie von Arbon her kannte. Sie folgte den Tönen und kam zu einer Schmiede, in der Eisengeräte für die Landwirtschaft um die Esse herumstanden. Weil der Wind ihr fast den Schleier vom Kopf riss, trat Utina ein und wärmte sich die Hände.

Der Schmied war gesprächiger als der, den sie in Arbon gekannt hatte. Utina erfuhr, dass sein Bruder als Mönch im Kloster lebte. Von ihm hatte er gelernt, wie man kostbare Kirchengeräte schmiedete. Der Abt sei grosszügig mit seinem Wissen und seinen Gaben, sagte der Handwerker, keiner, der sich in seiner Zelle verkrieche und die Welt mit ihrem Leid vergesse. Es ist überall gleich, dachte Utina. Alle, die ihn kennen, mögen ihn. Otmar ist schon zu Lebzeiten heilig wie Gallus.

Utina sah dem Schmied eine Weile bei der Arbeit zu. Dann entdeckte sie auf einem Brett an der Wand Gefässe, die silbern und golden schimmerten. Sie nahm eines in die Hand und berührte die Verzierungen mit dem Finger.

Plötzlich fühlte sie sich beobachtet, aber es war nicht der Schmied. Auf der anderen Seite des Ambosses stand der Fremde mit dem langen dunklen Haar, der noch kein erwachsener Mann war, obwohl er an seinem Gürtel eine Scheide mit Kurzschwert trug. An seiner knielangen braunen Tunika glänzte eine helle Borte.

Utina ging auf die andere Seite des Ambosses, und als sie vor ihm stand, war sie plötzlich froh, dass sie am Morgen den Zopf frisch geflochten und aus einem Impuls heraus eine goldene Kette übergestreift hatte.

«Du bist verschwunden, bevor ich dir danken konnte», sagte sie und fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Er war ihr einige Schritte entgegengekommen und stand jetzt so nah, dass sein Schwertknauf ihren Arm streifte und ihr der herbe Duft seiner Haut in die Nase stieg.

«Danken?» Er zog die Brauen hoch und lachte bitter. In seinen Augen sah Utina bernsteinfarbene Funken tanzen. «Es ist ein Wunder, dass du noch lebst.»

«Mein Vater hat gefragt, wer die gute Idee hatte, meine Brandwunden im Bach zu kühlen.»

«Und, hast du es ihm gesagt?»

Ich bin wieder krank, dachte Utina, weil ihr schwindlig war und sie seinen Blick nicht aushielt. Sie griff nach ihrem Täschchen und nestelte daran herum. «Meine Spange ist entzwei», sagte sie zum Schmied. «Kannst du sie bis morgen reparieren?» Als der Handwerker nickte, flüchtete Utina ins Freie, aber der Fremde war wieder neben ihr.

«Ich heisse Hugo.»

«Ich Utina.»

«Wohin gehst du morgen?»

«Nicht morgen, ich weiss nicht, wann.» Utina zögerte. Sie vertraute Hugo, und das erstaunte sie, denn Fremden durfte man nicht trauen. Aber sie schwieg, weil sie dem Vater versprochen hatte, niemandem von der neuen Siedlung zu erzählen. Zum Glück entdeckte sie etwas Bilsenkraut am Wegrand, bückte sich, um es zu pflücken, und steckte es sich in den Gürtel. «Abt Otmar braucht immer Kräuter», sagte sie und ging neben Hugo her. «Mit seinen Salben hat er mich geheilt.»

«Auch. Aber vor allem hat er dich gesundgebetet.»

«Bist du als Pilger hier?»

«Ich bete gern mit dem Abt. Er hat mir seine Gebete erklärt. Jetzt weiss ich, was Erlösung bedeutet.»

Mir nicht, dachte Utina. Mir erklärt nie jemand etwas. Der Tag im letzten Winter kam ihr in den Sinn, als sie im Wald nach Bärenspuren gesucht und gespürt hatte, dass Blut über ihre Beine rann. Sie fragte den Vater, aber der schickte sie zur Magd, und die schalt Utina, weil sie das alles längst hätte wissen sollen. Das Blut sei normal für eine junge Frau, feixte die Magd, genauso normal wie ihre Brüste.

Utina sah an sich herunter und spürte Hugos Blick. Er war einen Kopf grösser und offenbar doch etwas älter als sie, denn sie sah Flaum auf seiner Haut. Bald würde ein Bart sein markantes Kinn bedecken. Leise sagte sie: «Mir hat der Abt nur Geschichten erzählt. Aber jetzt muss ich gehen.»

«Ich reise morgen mit meinem Vater ab. Willst du mir nicht eine von den Geschichten auf den Weg mitgeben, die Otmar dir erzählt hat?»

Sie wollte weglaufen, aber er durchschaute sie, nahm sie beim Arm und lachte spitzbübisch: «Ich bin dein Lebensretter, hast du das schon vergessen?»

Durch den Stoff hindurch fühlte Utina seine Hand auf ihrer Haut. Plötzlich wünschte sie, er möge sie nie mehr wegnehmen. Der Abt habe ihr von Gallus und der Herzogstochter mit dem bösen Geist erzählt, sagte sie und wich seinem Blick nicht mehr aus. Das sei vor vielen Generationen geschehen. «Gallus war zuoberst in die Alpsteinberge geflüchtet, zu den Bergdämonen. Aber der Herzog liess ihn holen und mit dem Schiff über den Bregenzersee rudern.» Der böse Geist habe immer noch in der Herzogstochter getobt und ihr grosse Schmerzen bereitet, aber Gallus habe sie geheilt. «Als der Herzog ihn zum Bischof von Konstanz machen wollte, flüchtete Gallus zurück in seine Zelle an die Steinach und verteilte alle Geschenke an die Armen.»

«Und ich, dein Retter, was bekomme ich?»

«Ich habe keine Geschenke.»

«Leg deine Hand auf mein Gesicht!» Als sie sich verlegen abwandte, flüsterte er an ihrem Ohr: «Nur einmal.»

Utina hob die Hand und berührte mit dem Finger seine Unterlippe. Dann drehte sie sich um, wich einer Pfütze aus und landete mit der Schuhspitze in einer anderen, ging langsamer und dann doch wieder schnell, bis sie im Haus war und über den Blick der Magd erschrak. Er war so eindringlich, dass Utina sicher war, die Frau sehe in ihr Innerstes.

Im Spätherbst kamen mehr Menschen als sonst nach St. Gallen. Sie nutzten die letzte Gelegenheit, den Forst ohne Schnee und ohne hungrige Wölfe zu durchqueren. Auch Otpert. Er erzählte Utina von der neuen Siedlung. Im Haupthaus lebten jetzt zwei neue Hörige, die Waldbert ihm geschenkt habe. Denn die böswillige Magd, die Utinas Wunde verhext habe, sei nie zurückgekehrt. Knechte hätten sie aber später gefunden. «Sie hat ihre gerechte Strafe bekommen», erzählte der Vater. «Sie ist ins Tobel gestürzt und hat sich das Genick gebrochen.» Otpert berichtete auch, ausser dem Haupthaus hätten sie erst wenige Häuser gebaut, und die Bäume seien zur Rodung vorbereitet. Otpertswil sei noch kein Ort für eine junge Frau wie sie. Utina war enttäuscht, weil niemand gern von dort ferngehalten wird, wo die eigene Familie und die Verwandten leben. Ausserdem war sie jetzt nicht mehr allein im Gästehaus. Vier weitere Frauen schliefen im zweiten Bett oder auf Strohsäcken, und sollte eine fünfte hinzukommen, würde wohl auch sie selbst ihr Bett teilen müssen.

Am nächsten Tag sagte Otpert, sie beide seien zusammen mit Graf Petto zum Abendessen beim Abt eingeladen, es gebe viel zu besprechen. Nach einer Gebetsstunde in der Kirche zog Utina ihr einziges schönes Kleid an, das sie nach Hugos Abreise beiseitegelegt hatte, und verliess das Haus, um den Vater zu treffen. Auf Schritt und Tritt begegnete sie Mönchen und Laienhelfern des Klosters, die Lebensmittel, Kleidungsstücke oder Bettwäsche zu den Häusern brachten, wo die Besucher untergebracht waren. Kontemplation sei wichtig, hatte Otmar einmal zu ihr gesagt, aber wenn Gäste zu betreuen und Kranke zu pflegen seien, müsse das Chorgebet eben warten.

Der Abt liess den Gästen in seiner kargen Hütte Geflügel mit Kohl und gebratenen Fisch servieren, er selber begnügte sich mit einem Ei und etwas Gemüse. Als sie bei den Äpfeln und Nüssen angelangt waren, sagte er mit Blick auf den Grafen, das Wetter schlage um, in den nächsten Tagen gebe es Schnee. Aus Respekt schwiegen die Gäste.

«Die Mönchsunterkünfte sind nun fertig, und das Armenhaus wird erweitert», sagte Otmar. «Aber die grösste Aufgabe wird unsere neue Kirche sein. Ganz aus Stein, ein riesiges Bauunterfangen. Und kostspielig. Ich habe schon Pläne im Kopf, Petto. Wenn ich mit dir und deinen Brüdern bei anderer Gelegenheit darüber sprechen dürfte …»

Petto war ein behäbiger Mann mit übergrossen Händen, der den ganzen Körper vor- und zurückneigte, wenn er sprach. Er griff nach den Nüssen und verstreute sie vor sich auf dem Tisch. Schliesslich nickte er dem Abt zu, murmelte: «Du wirst auf uns zählen können», und richtete seinen Blick dann auf Otpert. «Darf man wissen, was du hier tust?»

Otpert lächelte gutmütig. Von einem Fremden hätte er sich nicht ausfragen lassen. Aber er und Petto hatten schon bei jener unseligen Begehung in Utinishusen geklärt, dass sie Onkel und Neffe dritten Grades waren und beide direkt mit Abt Otmar versippt. «Meine Tochter hatte sich so schwer verletzt, dass nur unser Abt hier helfen konnte. Dann ist sie geblieben, weil Otpertswil erst halb steht. Und ich weiss auch nicht, wie ich sie mit meinen Bauern vor weiteren Überfällen schützen soll.»

Utina wunderte sich über die freimütige Antwort. Ihr hatte der Vater eingebleut, die neue Siedlung sei ein Geheimnis. Sie dachte an Hugo und wie sie sich hatte zwingen müssen, ihn als Fremden zu betrachten.

Auch der Abt sprach offen über seine Klosterwirtschaft, als gehörten Petto und Otpert zu seinen engsten Vertrauten. «Kürzlich habe ich Schenkungen aus dem Schwarzwald bekommen, und auch unsere Ländereien im Süden des Bregenzersees werfen viel ab.»

«Schwierig, das alles zu verwalten», bemerkte der Graf.

«Oft läuft es wie bei dir, Petto.» Der Abt warf Utina einen freundlichen Blick zu, weil sie ihm unruhiger schien als sonst. Da Otpert fragend die Augenbrauen hob, fuhr Otmar fort: «Petto hat dem Kloster viel Land und Hörige in Ober- und Niederglatt geschenkt. Das haben wir in einer Urkunde aufgeschrieben. Einen Teil des Landes habe ich ihm später wieder als Lehen gegeben, und er bezahlt mir dafür Zins. Meist einen Karren Wein und zwei Karren Weizenmehl, manchmal auch Heu, Hühner und Schweine.»

«Ja, und mein jüngster Stiefbruder hat als Mönch bei euch eintreten dürfen.»

«Vor allem hast du etwas für euer Seelenheil getan.» Otmar sagte das nicht tadelnd, aber Utina sah, wie Petto dem Blick des Abts auswich und ehrfürchtig die Hände faltete. «Wir haben auch Schenkungen von Grundbesitzern ohne Nachkommen erhalten, die jetzt bei unserem Herrgott sind», fuhr Otmar fort. «Oft handelt es sich um Streubesitz, so dass es uns fast unmöglich ist, das Land als Lehen zu vergeben.» Manchmal müsse das Kloster Mönche ausschicken, um da und dort die Verwaltung durch freie Bauern zu regeln. Aber wer könne da so genau kontrollieren, ob der Zins richtig berechnet sei?

«Bleibt überhaupt noch Zeit zum Beten?» Petto kratzte sich am Oberkörper, weil man ihm ein Bett zugewiesen hatte, das von Flöhen wimmelte.

Der Abt nickte. «Es ist wichtig, dass wir für das Seelenheil all jener Leute beten, die zu uns pilgern und uns Schenkungen machen. Aber manchmal muss das warten. Unser Reichtum soll vor allem den Flüchtlingen, den Kranken und Verletzten dienen. Es werden immer mehr, und für sie brauchen wir Nahrung, Kleider und Mönche, die sie betreuen.»

«Kann man all das geschenkte Land nicht verkaufen oder gegen anderes tauschen, das näher beim Kloster liegt?», fragte Otpert.

«Das versuchen wir ja, aber nicht alle Mönche sind gute Verhandler, da werden wir manchmal übers Ohr gehauen. Obwohl, ich muss es zugeben, immer mehr Grundbesitzer bei uns eintreten, die im Verwalten von Ländereien Erfahrung haben.» Es fehle auch an anderem, an Kirchenhörigen etwa, fuhr der Abt fort. Im Frühling werde die Armenherberge erweitert, und dazu habe er nicht genügend freie Bauern als Helfer. Auch starke Bauknechte seien nötig.

Weil Petto gähnte, fand Otpert es an der Zeit, zu seinem Hauptanliegen zu kommen. Mit einem Blick auf den Abt sagte er: «Die neue Siedlung ist nichts für meine Tochter. Kann einer von euch mir raten, wo sie leben könnte, bis ich sie verheirate?» Utina begann, nervös zu husten, weil ihr das Blut in den Kopf schoss und ihre Gedanken zu Hugo sprangen.

«Wenn es weiter nichts ist», sagte Otmar strahlend. «Da kann ich dir helfen, Otpert. All die Landbesitzer, die zu mir kommen und dem Kloster Schenkungen machen, sind vornehme, treue Alemannen. Viele stammen wie wir vom Kämmerer Talto ab. Unter ihren Söhnen wird sich bestimmt ein Mann für Utina finden.»

Otpert zögerte und sah seine Tochter an. Ich muss wie ein Häufchen Elend aussehen, dachte sie, und dann sagte der Vater: «Ich weiss nicht, sie ist fast noch ein Kind.»

Zum ersten Mal war Utina dem Vater dankbar, dass er, der sich früher kaum um sie gekümmert hatte, sich seit Utalinds Verschwinden so um sie sorgte.

«Das mit dem Heiraten eilt ja nicht», mischte Petto sich ein. «Wenn der Schnee geschmolzen ist, habe ich für unseren Abt Geschäfte bei Beata zu erledigen. Deine Tochter könnte eine Weile bei ihr am Zürichsee bleiben, Otpert. Wenn du willst, nehme ich sie in meinem Gefolge mit.» Als der Graf sah, wie Utina ängstlich zu ihrem Vater schaute, fuhr er fort: «Beata ist mit uns allen verwandt. Sie ist die reichste Frau Alemanniens. Grafen und sogar unser Herzog Teudbald persönlich gehen bei ihr ein und aus.» Weil Otpert nichts sagte und zu seiner Tochter blickte, fuhr Petto fort: «Beata ist eine heilige Frau. Sie hat Klöster gegründet und gehört selber auch zu den Gottesdienerinnen der Insel Lützelau im Zürichsee.»

Ob diese Frau auch lesen und schreiben kann wie mancher Mönch in St. Gallen? Utina war jedenfalls beruhigt. In einem Kloster würde man sie wenigstens nicht verheiraten. Und sie musste erst im Frühling abreisen. Da konnte sie hoffen, dass Hugo vorher zurückkehrte. Utina schalt sich, weil sie schon wieder an diesen Fremden dachte. Sie wurde rot, weil die Blicke der drei Männer auf sie gerichtet waren. «Vater, ich …», begann sie, aber der fiel ihr ins Wort: «Im Frühling werden wir sehen, was für dich das Beste ist. Ich gebe dir, Otmar, zeitig Bescheid, ob du meine Tochter mit Petto zu Beata schicken sollst oder nicht. Aber …» Otpert unterbrach sich und dachte nach. Die anderen warteten gespannt. «Wenn, dann wird sie für zwei, drei Jahre bleiben müssen. Erst dann können unsere neuen Felder die Siedlung ernähren, und erst dann habe ich Zeit, für sie einen Mann auszusuchen.»

«Dann ist ja alles bestens geregelt», bemerkte der Abt. Utina sah, wie Petto den anderen zuzwinkerte; aber offenbar vermochte der Vater Pettos Augenzwinkern genauso wenig zu deuten wie sie selbst. «Meine schöne Tochter Utalind war so alt, wie Utina in zwei Jahren sein wird. Sie war, sie ist …» Otpert schwieg, weil jemand an die Tür klopfte.

Der Mönch, der ihnen das Essen gebracht hatte, führte einen keuchenden, verschwitzten Mann herein, der auf Petto zuging und freundschaftlich seinen Arm berührte. Er hatte den gleichen weiss durchzogenen roten Bart wie der Graf, und auch um seine Augen hatten sich Falten eingegraben.

«Das ist Pebo, mein Bruder, der Thurgaugraf», stellte Petto vor. «Setz dich! Otmar bietet dir bestimmt einen Becher an. Otpert hier kannst du vertrauen, er kommt aus Arbon wie unser Abt.»

«Ich bin weitergeritten, obwohl es schon dunkel wurde, weil ich Wichtiges zu berichten habe», stiess Pebo atemlos aus und machte sich dankbar über den Wein her. «Karl, der Hausmeier, ist tot!»

«Das ist unsere Rettung», flüsterte Otpert und faltete die Hände zum Gebet. Er konnte es kaum fassen. Der Hausmeier, der Alemannien bedroht und ihnen Arbon genommen hatte, konnte ihnen nichts mehr antun.

«Zu danken brauchst du dem Herrgott noch nicht», sagte Pebo und ignorierte den tadelnden Blick des Abtes. «Bete lieber, dass es nicht noch schlimmer wird.» Erst jetzt sei bekannt geworden, dass Karl vor seinem Tod das Reich aufgeteilt habe. Karlmann, dem älteren Sohn, habe er den Osten mit Alemannien gegeben und Pippin, dem jüngeren, den Westen. «Von einem neuen König ist nicht die Rede, und die anderen Hausmeier sind entmachtet», schloss Pebo. «Unser Herzog sieht nur einen Ausweg. Wir Alemannen müssen uns alle gegen diese Franken erheben.»

«Immerhin hat Karl mit der Aufteilung das Schlimmste vermieden», bemerkte der Abt. «Stellt euch vor, welch unermessliches Leid ein Bruderkrieg über das Reich gebracht hätte.»

Jetzt, im Winter, waren die Häuser und das Kloster mit einer feinen Schneedecke überzogen, und St. Gallen schien kleiner. Die Pilger waren weg und die Strassen leer, weil Bauern und Knechte in ihren Häusern und Hütten blieben. Viele hatten keine Ställe und nahmen Ziegen, Schafe und Hühner mit in die Häuser. Der Gestank drang durch die Strohdächer nach draussen und stieg mit dem Rauch der Herdfeuer zum Himmel auf. Am Morgen war der Nebel oft so dicht, dass Utina kaum das gegenüberliegende Haus sehen konnte. Aber manchmal schien die Sonne.

Bei einem Spaziergang mit der Magd entdeckte sie, dass es auch ausserhalb des Klosters eine Weberei gab. Hörige fertigten vom Morgen bis zum Abend Bettwäsche für die Gäste und das Spital an. Weil das kleine Grubenhaus keinen Herd hatte, standen die Mägde eng beisammen, um einander zu wärmen. Utina lachte. Es sah komisch aus, wie jede vor ihrem aufgerichteten Webstuhl stand und aufpassen musste, dass sie sich nicht in den gespannten Fäden der Frau hinter ihr verhedderte.

Auf einem Brett sah Utina feines honigfarbiges Tuch liegen. Ihre nächste Begegnung mit Hugo ging ihr durch den Kopf, obwohl sie nicht wusste, ob es eine geben würde. Ich werde mir armselig vorkommen, immer das gleiche Kleid zu tragen, dachte sie, und es ist viel zu kurz. Sie erkundigte sich nach dem Stoff, aber die Hörigen wussten nichts von den Preisen. Das Tuch sei für eine vornehme Pilgerin gewoben worden, die noch nicht genesen sei und den Winter hier verbringe. Utina hätte gern den Abt gefragt, aber sie getraute sich nicht, ihn bei einem seiner selten gewordenen Besuche um ein Stück Stoff zu bitten; sie wollte nicht eitel erscheinen.

Otmar kam nur noch, wenn etwas Besonderes passierte. Einmal schaute er erschöpft bei ihr vorbei und fragte, ob er sich einen Augenblick setzen dürfe. Utina kam es vor, als sei nicht nur sein Körper von der vielen Arbeit ausgelaugt, sondern auch seine Seele. Er keuchte und sagte, jetzt habe ihn auch noch der Husten befallen, aber das sei jedes Jahr so, Gottes Frühlingssonne werde ihn wieder gesund machen. Otmar erzählte von einem Bauernknaben, der ein Huhn hätte schlachten sollen, das aber in den Wald geflattert sei. Als er ihm gefolgt sei, habe ein Wolf ihn angefallen, und obwohl der Bauer dem Tier sofort den Knüppel über den Kopf gezogen habe, sei vom rechten Bein des Knaben nur noch blutiger Brei übriggeblieben. Man habe es bis zum Oberschenkel abschneiden müssen, und jetzt liege er im Sterben.

«Darf ich dir helfen?», fragte Utina, obwohl sie diesen Bauernjungen nicht kannte.

«Das ist christlich von dir, aber ich habe deinem Vater versprochen, dass ich dich behüte. Dazu gehört auch, dich vom Krankenhaus fernzuhalten.»

«Weshalb tust du es dann? Du wirst doch auch krank dabei.»

«Weil ich Jesus Christus nicht nur im Wort nachfolgen will, sondern auch in der Tat.» Otmar merkte, dass sie ihn nicht verstand, und fuhr fort: «Beten ist gut, aber man muss auch anderen helfen. Kranken, Verletzten, Armen, Flüchtlingen.»

«Vater hat letztes Jahr Flüchtlinge aus Romanshorn aufgenommen.»

«Das war grosszügig von ihm, Utina, aber wir müssen allen helfen, Fremden genauso wie Verwandten.»

Fremde sind Feinde, dachte Utina, obwohl das so direkt nie jemand zu ihr gesagt hatte. Sie wusste es einfach, so wie sie plötzlich verstand, dass Utalind für immer unter Feinden leben würde. Und Hugo, den Fremden, weshalb hasste sie ihn nicht?

«Jesus Christus sagt, dass wir Fremde und sogar Feinde lieben müssen», sagte der Abt, und Utina staunte, dass er in ihrem Herzen lesen konnte. Sie fühlte sich erleichtert und freute sich auf den Frühling.

Nach Weihnachten wurde es wochenlang so kalt, dass kein Schnee mehr fiel und die Bäche gefroren. Trotzdem kämpfte Otpert sich mit Knechten und drei Zugpferden durch Eis und Wind nach St. Gallen durch. Denn in der Siedlung herrschte grosse Not.

Viele plagte ein hartnäckiger Husten, zwei kleine Kinder hatten sie schon begraben müssen. Und es gab fast nichts mehr zu essen. Die Vorräte waren aufgebraucht, und Fischen kam bei dieser Kälte nicht in Frage. Zwei Männer hatten es versucht, aber der eine war durch das Eis gebrochen und versunken, und der andere hatte sich beim Rettungsversuch derart erkältet, dass er einige Tage später gestorben war. Die freien Männer gingen auf die Jagd, aber da sie im tiefen Schnee kaum vorwärtskamen, hatten sie selten Erfolg. In den Häusern war es bitter kalt. Sie hatten fast alles Holz verbrannt, und das wenige, das noch bereitlag, behielten sie für die Nächte auf. Das Heulen der Wölfe und die Sorgen um die leeren Essnäpfe schreckten sie immer wieder aus dem Schlaf. Am Morgen hüllten sich alle in Bärenpelze, sassen da und hofften auf ein Wunder.

Als der Vater kam, sass Utina beim Brettchenweben mit der genesenden Pilgerin zusammen, die Otmar im Gästehaus einquartiert hatte, damit sie einander Gesellschaft leisten konnten. Ihr Mann stamme in direkter Linie von Pollo ab, und der sei vor langer Zeit in Arbon Tribun gewesen, hatte der Abt gesagt. Utina hatte bald aufgehört, sich zu wundern, dass diese Frau offenbar keine Alltagskleider besass. Sie trug fein gewobene Unterkleider mit Borten, und an ihrem Gehänge sah Utina immer wieder andere Verzierungen. Ihr blonder Zopf war mit bunten Fäden durchflochten und lag wie eine Krone auf ihrem Kopf. Aber auch sie, Utina, konnte sich freuen. Der Abt hatte ihr das honigfarbene Tuch geschenkt, weil sie ihn doch noch darum gebeten hatte, und jetzt war sie dabei, aus gedrehten Fäden Zierborten für eine neue Tunika zu weben.

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