Kitabı oku: «Müllers Morde», sayfa 4
17.12 Uhr
Mist. Als Müller sollte ihm das nicht passieren. Nun war er schon als Jäger unterwegs und hatte trotzdem nicht aufgepasst. Weil er gleichzeitig auf die Straße und in seinen Computer auf dem Beifahrersitz schauen musste. Da entgingen einem die Details: Hatte da eben die Tür zu Steenbergens Haus offen gestanden oder nicht? War jemand hineingegangen? Oder herausgekommen? Wenn doch nur der Regen nicht alles auf der Scheibe verwischte! Müller blickte zurück, sah ein stilles Haus zwischen anderen stillen Häusern und glaubte an eine Täuschung. Seine Nerven waren überreizt. In dem Haus konnte doch gar niemand sein. Die Lichter waren aus, und es stand weit und breit kein Auto davor.
* * *
Sobald man den Vorraum passiert hatte, wirkte das Reihenhäuschen hell und groß, vermutlich deshalb, dachte Richard, weil Steenbergen den Stil der Zwanziger Jahre begriffen hatte. Beginnende Moderne, das bedeutete große Fenster, Einbaumöbel und unverstellte Räume. Voll widerwilliger Bewunderung sah er sich um. Schlichtheit war kein einfaches Lebenskonzept. Es war weit leichter, ein Bild aufzuhängen, als die Leere einer Wand zu ertragen. Richard selbst hatte das nie geschafft. Steenbergen jedoch schon: Sein Erdgeschoss war ein einziger weiter Raum, Küche, Wohnzimmer und Essplatz in einem, nirgends wurde der Blick unnötig aufgehalten, er konnte frei schweifen und wurde höchstens durch den Wintergarten hinaus in dunstiges Grün gezogen. Richard seufzte. Plötzlich sah er seine eigene große Gestalt schemenhaft in einem der Fenster des Wintergartens gespiegelt und straffte unwillkürlich seine Haltung. Er selbst schleppte immer so viel Ballast mit sich herum, dass er sogar dann gebeugt wirkte, wenn er einfach nur dastand und schaute. Ja sogar, wenn er sich absichtlich gerade hinstellte. Richard hob das Kinn und spannte die Schultern an und ballte seine Fäuste. Nun sah er aus wie ein dicklicher Jeff Goldblum. Ohne Locken. Es war hoffnungslos. Er ging ins Obergeschoss.
* * *
17.17 Uhr
»Müller, Kabel Deutschland«, sagte Müller in sein Handy, dem ein kleines Störgerät aufgeschnallt war. Er musste – musste! – an Steenbergens Computer, an dessen privaten E-Mail-Account. Das Passwort dafür war vom Geschäftscomputer aus nicht zu ermitteln, und leider, leider hatte er an jenem Abend am Totenmaar versäumt, sich dieses Passwort aus Steenbergens Laptop oder iPhone zu ziehen. Da hatte er allerdings auch noch nicht gewusst, dass er es brauchte. Er warf einen Blick auf sein eigenes Laptop, mit dem er das Telefonbuch von Köln aufgerufen hatte. »Frau Zangerle, Bernhardis-Straße 17b?« Das Störgerät knackste leicht.
»Stimmt«, sagte Frau Zangerle.
»Prima, hallo«, sagte Müller. Der Name Müller, übrigens, gefiel ihm. Er dachte jetzt öfter von sich als Müller. Auch wenn er nicht in einer Mission unterwegs war. »Frau Zangerle, wir haben Probleme mit den Anschlüssen in Ihrer Straße, wie steht’s bei Ihnen, hatten Sie in letzter Zeit Störungen bei Fernsehen, Telefonie oder Internet?«
Nein, sagte Frau Zangerle, und sie wolle ganz sicher keinen Receiver-Kasten oder wie das hieße kaufen, vielen Dank und auf Wiederhören.
Müller lächelte sich in seinem Rückspiegel zu. Alte Schachtel, keine Ahnung von gar nichts. Prima. »Es geht um das Leitungsnetz«, sagte er. Knacksen. Er blickte durch die Windschutzscheibe und den Regen hinaus auf die weiße Häusergruppe. Keine Satellitenschüsseln, im ganzen Stadtteil nicht. »Auch Sie haben einen Anschluss und zahlen daher indirekt Miete für das Kabelnetz.«
»Ja?«, sagte Frau Zangerle gleichgültig. »Ach so.«
Die Häuser waren mindestens sechzig, siebzig Jahre alt. Und der Straßenbelag sah auch nicht superneu aus. »Die Leitungen in Ihrem Bezirk sind, wie ich meinen Unterlagen entnehme, schon etwas älter und vermutlich sanierungsbedürftig. Wir haben hier einige Beschwerden aus Ihrer Straße, und Sie – Sie leben in einer Hausanlage, nicht wahr?« Er verrenkte sich, um die Hausnummern neben den alten Türen durch die verregneten Scheiben seines Autos zu erkennen. Es knackste wieder. »Nummer 17a bis 17d?«
»Stimmt«, sagte Frau Zangerle.
»Wenn wir bei Ihnen und in der Nachbarschaft einen tatsächlichen Bedarf feststellen, würden wir eine Sanierung der Straßenkabel ins Auge fassen. Beziehungsweise bei der Telekom einen entsprechenden Antrag stellen. Dann können Sie schnelles Internet kriegen und damit sogar fernsehen.«
»Ach je«, sagte Frau Zangerle nicht unfreundlich. »Das brauche ich doch gar nicht.«
Es knackste wieder. »Da!«, sagte Müller. »Das merke ja sogar ich! Stört Sie das denn nicht? Diese Geräusche in der Leitung?«
»Oh«, sagte Frau Zangerle. »Ja, ich glaube, da war was – wissen Sie, ich höre nicht mehr so gut.«
»Ich wette, Ihr Fernseher grieselt auch«, sagte Müller frech.
Frau Zangerle seufzte. »Na ja, das dritte Programm ist bei mir nicht so doll.«
Bei wem wäre es das je gewesen, dachte Müller und sagte befriedigt: »Aha. Da haben wir’s doch. Ich bin jetzt noch Tacitusstraße, aber so in einer halben Stunde könnte ich bei Ihnen vorbeischauen. Sind Sie dann da?«
»Äh – ja. Natürlich«, sagte Frau Zangerle.
* * *
Das Schlafzimmer barg keine Überraschung: Satinbettwäsche und ein begehbarer Kleiderschrank, nicht ordentlich, nicht wirklich groß, aber wieder mit diesem umwerfenden Eindruck von Weite. Daneben lag ein nicht ganz so weiter Raum mit einem rosa Himmelbett und gründlich aufgeräumten Schränken. Dies war ein konserviertes Kinderzimmer. Zur Südseite hin prangte dann offen das Büro, in dem Bücher und Papiere einfach der Wand entlang aufgestapelt waren, was kreativ aussah und außerdem für ein konzentriertes Arbeiten sprach. Es war der Werkraum eines intensiv denkenden Menschen, das Herz des Hauses, gewissermaßen, und dort herumzustöbern widerstrebte Richard besonders. Er würde es müssen, klar: Im Büro, in den Papieren war Steenbergen sicher noch am lebendigsten. Doch all das durchzusehen und zu verstehen würde Jahre dauern. Dann lieber ins Bad. Doch neben der halb geöffneten Badezimmertür fand Richard eine Nische, die spannender war als jede noch so sorgsam erhaltene Zwanziger-Jahre-Wanne. Vielleicht sogar interessanter als die Papiere im Büro: Die kleine Nische enthielt einen Treppenaufgang. Er war eng, dunkel und so niedrig, dass Richard sich bücken musste, um die erste Stufe zu nehmen. Lichtschalter gab es auch keinen. So tastete er sich in der Finsternis nach oben und um einen schmalen Viertelwendel herum, an dessen Ende er eine Tür fand, die beim Öffnen knarrte. Dahinter war es hell. Richard blickte direkt auf ein schmales Dachfenster, das fing Regentropfen auf, was irgendwie heimelig wirkte. Doch unter dem Fenster war schon wieder Schluss mit der Gemütlichkeit, da schien ein wilder Garten zu wuchern, ein Geflecht aus riesigen, dornigen, sturmzerzausten Rosen auf schwarzviolettem Grund. Rot flammten die riesigen Blüten aus einer alles bedeckenden Tapete hervor, rankten über die schrägen Wände und sahen in der Masse irgendwie hungrig aus, eine Menge roter Münder, die gleichzeitig schrien und geiferten. Es war verdammt voll in diesem Räumchen auf dem Dachboden des Steenbergen-Hauses, das sonst so überzeugend die Weite zelebrierte. Richard ging in die Hocke.
* * *
17.20 Uhr
»Du, Axel«, sagte Müller in sein Handy, »ich hab mir eben ein Sofa gekauft.«
»Aha«, nuschelte Axel höflich, und Müller hörte schwere, dröhnende Schläge aus dem kleinen Telefon. Vermutlich stand Axel in der Werkstatt. So wie Müller das sah, schlief Axel in seiner Werkstatt, der hatte wahrscheinlich gar keine Wohnung.
»Und ich wollte mal fragen, ob ich deinen Van haben kann, etwa für zwei Stunden.«
Axel machte ein Geräusch, das Müller als »Ja« interpretierte, und sagte dann: »Maße.«
»Bitte?«
»Die Maße?«
»Es passt garantiert rein«, sagte Müller rasch, »es ist ein kleines Sofa. Mehr ein Sessel. Du weißt ja, ich hab hier nur ein Zimmer. – Kann ich ihn kriegen? Jetzt sofort?«
»Klar«, nuschelte Axel.
»Super«, sagte Müller, schaltete das Handy aus und fuhr los.
* * *
Es war ein Mädchenzimmer gewesen, dieses Rosenkämmerchen, und die fürchterliche Tapete war alt. Vermutlich, dachte Richard, waren die Monsterrosen die Antwort der letzten Hausangestellten auf die raumhohen Fenster und offenen Grundrisse ihrer Arbeitgeber. Man konnte zwar kaum glauben, dass jemand so leben wollte, aber die Spuren waren offensichtlich: In einer Nische war ein winziges Waschbecken angebracht, auf dem Holzfußboden zeigten verblichene Rechtecke, wo einst ein Schrank und das Bett gestanden hatten, und rund um die ehemalige Schlafstatt war eine Vorhangschiene abenteuerlich an den Dachschrägen befestigt. Ansonsten war die Kammer noch in zweierlei Hinsicht interessant. Zunächst mal besaß sie eine weitere Tür. Diese Tür mochte auf einen anderen Teil des Speichers führen, allerdings sah sie nicht aus, als sei sie in den letzten fünfzig Jahren je geöffnet worden. Sie war vollständig eintapeziert und besaß keine Klinke, dafür aber ein sichtbares Schlüsselloch. Zweitens stand vor dieser Tür ein Tisch. Er war jüngerer Bauart, und was darauf lag, kannte Richard, das hatte er alles selbst mühevoll herangeschafft: Vulkangestein, Muscheln, eine Seefahrerkarte und weitere ähnliche Dinge. Da ruhten sie also zusammen, die Kuriositäten und Werkzeuge, waren gestrandet in diesem Kabuff ohne Fluchtweg. Hierher zu Steenbergen hatte Peter Welsch-Ruinart seine Schätze gebracht, und der hatte sie unter Rosen gebettet. Dies war das geheime Zimmer von Gunni. Richard seufzte und berührte spontan eine der Muscheln, wie um ihr Trost zu spenden. Dann wandte er sich zurück zur Treppe. Wenn jetzt ein Vulkan ausbräche und das alles hier zweitausend Jahre lang konservierte, dachte er grimmig, als er sich die enge Stiege hinunterzwängte, dann hätte dereinst die Archäologenschaft was zum Staunen: eine Ledermappe mit einer einzelnen Briefmarke darin, etwas Sand in einem urnenartigen Gefäß, eine sehr abgegriffene Seefahrerkarte in einer besonderen Klimaschutzkiste und noch weitere, ähnliche Dinge, alles im kleinsten, höchsten und geheimsten Raum eines mitteleuropäischen Intellektuellenhauses auf einer Art Altar aufgestellt – daraus konnte man glatt einen geheimen Historienkult konstruieren.
Nun also zu Steenbergens Büro. Das lag immer noch prächtig nach Süden hinaus, mit Aussicht auf die Straße. Widerwillig näherte Richard sich den herumliegenden Papierstapeln. Sogar den Computer fuhr er hoch und sah sich die Mailbox an, die ließ sich ohne Passwort öffnen, klar: Dies war Steenbergens Privatcomputer, da war der Zugangscode vermutlich eingespeichert. Das war ja ganz gut, so kam er an Steenbergens private Korrespondenz, aber leider empfing die Mailbox sofort mindestens fünfhundert Mails. Frustriert sank Richard auf Steenbergens ergonomisch geformten Hocker. Er hatte es gewusst: Das würde ein netter Abend werden.
* * *
18.07 Uhr
»Müller, Kabel Deutschland«, sagte Müller zu der alten Frau Zangerle aus Nummer 17b. »Wir haben telefoniert.«
Axels Van parkte am Straßenrand hinter ihm und gab eine plausible Kulisse für seinen Auftritt als Müller von Kabel Deutschland ab. Als Kostüm hatte er sich eine blaue Arbeiterweste übergeworfen. In den Händen hielt er eine beeindruckende Werkzeugtasche, sein Laptop und ein Klemmbrett. Darauf prangte ein Kabel-Deutschland-Aufkleber, und über der Adressenliste, die er aus dem Internet-Telefonbuch ausgedruckt hatte, steckten noch drei Kabel-Deutschland-Visitenkarten. Einen entsprechenden Ausweis hatte er auch gefälscht.
Frau Zangerle musterte ihn neugierig. »Ja«, sagte sie. »Aber Sie sind nicht von Kabel Deutschland.«
Müller war einen kurzen, erschrockenen Moment lang sprachlos. Versuch ja nicht, mich aufzuhalten, blöde alte Kuh, lag ihm auf der Zunge, ich hab das Auto, die Jacke, die Visitenkarten, den Ausweis, was willst du denn noch? Doch eine Stimme in ihm mahnte zur Ruhe. Das ist ein Witz! Sie macht einen Witz! Sie sagt dir gleich, dass dein Namensschild verrutscht ist, dass sie sowieso nicht lesen kann, dass sie Kabel Deutschland immer anders ausspricht, dass …
»Ich habe dort angerufen«, sagte Frau Zangerle stattdessen klar und deutlich. »Es kam mir komisch vor, dass Sie nach fünf noch Hausbesuche machen wollen, wo doch jeder weiß, dass den Leuten von der Telefongesellschaft ihr Feierabend heilig ist. Kabel Deutschland weiß von keiner Störung.« Sie blickte Müller triumphierend ins Gesicht. Es war wie in einem schrecklichen Traum: Er konnte nichts sagen. Er musste ihrem Blick ausweichen. Sie hatte ihn zu plötzlich zu direkt angesehen, ihn überrascht und aus dem Konzept gebracht. Jetzt benahm er sich schuldbewusst, ohne etwas dagegen tun zu können. Das war der Super-GAU, da half nicht einmal mehr der gefälschte Ausweis, diese Alte würde ihm einfach nicht glauben.
»Und wieso«, brachte er heraus, »haben Sie mir dann aufgemacht?«
»Neugier«, sagte die alte Frau. Müller sah auf, in ihre Augen, und da funktionierte er wieder. Er schob den Fuß nach vorn. Gerade rechtzeitig, denn sie hieb die Tür zu. Vielmehr, sie versuchte es.
»Was wollen Sie?«, fragte sie verächtlich, als er kurz darauf drinstand im Haus, all seine Sachen inklusive Laptop einfach fallen ließ und die Tür, in der noch der Schlüssel stak, zitternd hinter sich schloss. »Wollen Sie Geld? Ich habe kein Geld. Und ich bin alt. Schauen Sie mich an. Sie werden keine Freude an mir haben.«
Müller sah Frau Zangerle an. Alte Schachtel, von nichts eine Ahnung? Alt war sie tatsächlich. Ein verhutzeltes kleines Weiblein, dünn, grau, mit wässrigen Augen, die ihn aber entschlossen fixierten. Die Angst sah er auch, die konnte sie nicht ganz verstecken. »Ich wollte eigentlich nur mal an Ihr Telefon«, flüsterte er voll ehrlichen Bedauerns.
»Warum?«, fragte sie mit einer Schärfe, die ihm vermutlich suggerieren sollte, sie stünde noch direkt neben ihm. Tatsächlich bewegte sie sich langsam rückwärts. Zum –
Müller war mit zwei Schritten bei ihr und zerrte sie von ihrem Telefonapparat weg. Ein vorsintflutliches Teil, mit einem Spiralkabel, das den Hörer mit dem eigentlichen Gerät verband. Viel hätte sie damit nicht ausrichten können, aber Müller wollte nichts riskieren. Er reagierte über. Beruhige dich, schrie er sich innerlich an, beruhige dich! Die gezerrte Frau Zangerle gab einen angstvollen, erstickten Laut von sich und suchte automatisch Halt bei ihm. Müller spürte ihren Griff an seinem Arm. Er war rührend zart. Die ganze alte Dame wirkte leicht wie ein Korb voll Laub und nicht besonders sicher auf den Beinen. Uralt eben. Auch sie zitterte, verhalten, aber voller Panik. Damit hatte sie sicher nicht gerechnet, als sie die Tür aufmachte: dass der entlarvte Betrüger mit hereinkam.
»Alles in Ordnung?« Müller hatte seine normale Stimme wiedergefunden und packte Frau Zangerle an den Schultern, um sie zu halten, vielleicht auch nur, um sich selbst aufzurichten an ihr. Er drückte sie an sich, damit sie aufhörte zu zittern, denn sein eigenes Zittern war schlimm genug.
Doch Frau Zangerle beruhigte sich nicht. Sie schloss nur die Augen, ballte die Fäuste und flüsterte heiser: »Sie sind ein Russe, gell? Machen Sie nur schnell, es ist nicht das erste Mal.«
Müller ließ sie los, und sie stolperte gegen die Wand. Er dachte, sie würde fallen, doch sie fing sich. »Frau Zangerle«, sagte Müller.
Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu, hasserfüllt und so flammend, wie das mit ihren wässrigen Augen eben möglich war.
»Passen Sie auf«, sagte Müller. »Ich möchte Ihnen nichts tun. Ich will nur an den Telefonanschluss, und eigentlich nicht mal an Ihren, sondern an den von 17c, doch da erreiche ich niemanden, daher dachte ich, probier’s mal in der Nachbarschaft. Sie haben hier eine alte Hausanlage, und will’s der Teufel, vielleicht sogar noch einen gemeinsamen Anschluss.«
»17c?«, fragte Frau Zangerle, räusperte sich und strich, immer noch zitternd, ihren Rock gerade. »Sie meinen den Herrn Steenbergen?«
»Genau.«
»Den werden Sie niemals mehr erreichen«, sagte Frau Zangerle befriedigt. »Haben Sie es nicht gelesen?«
»Was?«, fragte Müller und ein merkwürdiges, glühendes Gefühl machte sich in ihm breit. Haben Sie es nicht gelesen. Haben Sie es nicht gehört. Es stand in jeder Zeitung.
»Er ist erstickt worden«, sagte Frau Zangerle feierlich.
»Ach was«, sagte Müller.
»Von einem Vulkan.«
* * *
Nach kurzer Suche gab Richard auf: Steenbergens Mails waren eigentlich nur Werbenachrichten, und von den Millionen Dokumenten, die er besessen und bearbeitet hatte, konnte jedes einzelne brisant und geheim sein. Allerdings hätte schon »geheim« und »brisant« draufstehen müssen, um ihm aufzufallen. Er war eben kein Ingenieur und auch kein Wirtschaftskriminalist. Er verstand kaum die Titel von Steenbergens Dissertationen, das einzig Lesbare für Richard war der Spesenordner, in dem der Herr Umwelt-Doppeldoktor seine Dienstreisen aufgelistet hatte, natürlich war er Vielflieger. Es mochte an seiner eigenen Beschränktheit als Historiker liegen, aber das Einzige, was er hier bemerkenswert fand, war das kleine Zimmerchen und diese rührende Suche nach antiken Mysterien. Doch ein richtiges fieses Geheimnis, ein Mordmotiv steckte da nicht drin. Die richtig fiesen Geheimnisse, dachte Richard, fand man eben niemals offen auf einem Tisch herumliegend. Fiese Geheimnisse befanden sich unter der Matratze, im Badezimmerschrank, im Keller, im Safe. Tapfer stand er auf und begann seine Suche von vorne.
* * *
18.20 Uhr
Es war jetzt nicht mehr die Frage, aber Müller fragte es sich trotzdem: Hätte er diesen GAU verhindern können? Hätte er einfach umkehren und gehen können, mit Laptop und Klemmbrett zurück in sein weißes Auto steigen und wegfahren und es anderweitig versuchen? Oder den Ausweis rausholen und sie überzeugen?
»Was immer Sie auch vorhaben«, sagte die alte Frau Zangerle im Ton einer gereizten Gräfin, »Sie sollten es schnell tun, denn ich erwarte jeden Moment meinen Enkelsohn. Er kommt immer um die Zeit. Genau. Halb sieben oder früher. Gleich wird er da sein.« Sie verschränkte die dünnen Arme und blickte Müller streng an.
Hätte man ihr nicht vorlügen können, dass die Mädels in der Telefonzentrale von Kabel Deutschland notorisch schlecht informiert waren und Störungen grundsätzlich erst einmal abstritten, sodass sein abendlicher Besuch ungewöhnlich kundenorientiert, aber sonst völlig korrekt war? Wäre das so abwegig gewesen? Und was würde sie tun, wenn er jetzt einfach ging? Die Nachbarschaft vor Betrügern von Kabel Deutschland warnen? Die Redakteure von irgendeiner Reality-Krimi-Doku anrufen? Still den Triumph genießen, dass sie eine Lüge durchschaut hatte?
»Er ist Maurer.«
Vor fünf Minuten war er noch Boxer gewesen, dieser ominöse Enkel. Ein Zweieinhalbmetermann, ohne Zweifel, und er verbrachte alle Abende bei der Oma. Ein Hirngespinst. Müller sammelte seine Sachen vom Boden auf und schob Frau Zangerle vor sich her in die Küche. »Sind diese Reihenhäuser hier gleich gebaut?«, fragte er. »So vom Grundriss her?«
»Vor langer Zeit mal, ja«, antwortete Zangerle. »Aber das hat dann jeder nach seiner Fasson geändert. Wir mussten erst mal Wände einziehen, als wir es gekauft haben, da war ja nichts.« Erschöpft sank sie auf ihren einzigen Küchenstuhl und hob dann erschrocken das Kinn, als wäre ihr eingefallen, dass sie keine Schwäche zeigen durfte. »Mein Enkel wird sich fragen, was so wichtig an Herrn Steenbergens Telefon ist, dass Sie deshalb bei mir eindringen müssen«, sagte sie drohend. »Ungebeten!«, setzte sie noch hinzu.
Ja, genau das, dachte Müller, von schlimmsten Ahnungen erfüllt, war das Problem. Er durfte nicht auffallen. Darum war er ja auch nicht einfach ins leere Nachbarhaus eingestiegen. Das Gebäude war leider eine Art natürliche Festung: Den rückwärtigen Garten umschlossen Rasenflächen, die allesamt klein, intensiv bespielt oder wahnsinnig überschaubar waren, und direkt am Vordereingang stand eine Straßenlaterne, die nachts hell auf die Häuserfront strahlte. Außerdem besaß er keinen Dietrich. Das Risiko eines Bruchs war einfach zu hoch. Alles, was Steenbergens bizarrem Tod nur den kleinsten Verdachtsmoment hinzufügte, musste den GAU auslösen. Allerdings würde man den Manager und Wissenschaftler Steenbergen nicht unbedingt mit seiner greisen Nachbarin in Verbindung bringen. Der Typ, der die Abende im Haus nebenan verbrachte, war er kaum gewesen. »Haben Sie Herrn Steenbergen gut gekannt?«, fragte Müller, während er sein Laptop auf den Küchentisch legte und kurz untersuchte. Hoffentlich hatte es den Sturz heil überstanden.
»Na ja«, antwortete Frau Zangerle wortkarg und beobachtete ihn angestrengt. Sie trägt keine Brille, dachte Müller. Sie kann mich wahrscheinlich gar nicht richtig sehen und daher auch nicht gut beschreiben. Sie ist nur eine arme alte Frau. Und sie hat Format. Aber es half nichts: Er nahm ein Paar weißer, leichter Baumwollhandschuhe aus seiner Werkzeugtasche und streifte sie über.
Die alte Frau Zangerle blieb völlig reglos sitzen, doch ihr schmaler, runzliger Mund wurde zu einem festen Strich.
»Wo ist denn Ihr Hausanschluss?«, fragte Müller ruhig und sah sich beiläufig in der Küche um. Innerlich verfluchte er sich. Dieser Besuch hatte ein reiner Erkundungsgang sein sollen, nur ein Sondieren der Lage. Und jetzt das. Er brauchte ein Kissen. Frau Zangerle verfolgte seine Bewegungen aus ihren argwöhnischen, wässrigen Augen. Dann, ganz plötzlich, zog sie mit einem absolut schauerlichen Gurgeln Luft ein und begann pfeifend zu hyperventilieren.
Müller stolperte zurück, erschrocken von dem unerwarteten Anfall, und starrte Zangerle an.
»Pillen!«, ächzte sie, was er erst verstand, als sie es wiederholte. »Pillen! Bad!«, dann presste sie ihre Hand aufs Herz und beruhigte sich ein wenig, atmete aber nach wie vor schwer und pfeifend. »Bitte«, sagte sie mit einem flehenden Blick, der Müller das Herz brach, »bringen Sie – mir – Pillen. Aus dem Bad. – Oben.«
Er schüttelte langsam und mit tiefem Bedauern den Kopf und trat einen Schritt zurück. Dieser Anfall war ein Zeichen. Ein Geschenk, das man annehmen musste.
»Sie –«, keuchte die alte Frau daraufhin, ballte ihre Hände zu Fäusten und richtete sich halb auf. »Sie wollen in Steenbergens Haus? Das ist von hier ganz leicht!« Ein groteskes Lächeln verzerrte ihr Gesicht. »Ich zeig’s Ihnen. Wirklich leicht. Sie müssen nur«, sie gurgelte wieder so schrecklich, »Pillen. Bitte. Bad.« Die letzten Worte verloren sich in einem Flüstern, dann fiel sie über den Tisch, zuckte, und regte sich nicht mehr.
Und Müller sich erst einmal auch nicht.
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Richard sagte sich, dass er genauer hinsehen musste. Er musste Einzelheiten beachten, er musste treffend interpretieren wie bei einem Übersetzungstext, er musste die einfachen Dinge prüfen, die Konnotationen. In die Zuckerdose schauen. In der Zuckerdose war aber nur Zucker, und auch sonst waren die Details dieses erfolgreichen Steenbergen-Lebens in dem weiten Haus dann doch enttäuschend banal. Das Bezeichnendste war vielleicht der Hunderter-Sparpack Kondome mit abgelaufenem Verfallsdatum, der Richard schmerzlich an sein eigenes Liebesleben erinnerte. Bei den Wertsachen hingegen lag Steenbergen klar vorn: Er hatte eine Rolex in der Nachttischschublade und eine maßgeschneiderte Profi-Musikanlage vom Allerfeinsten, allein die Kabel mochten mehrere tausend Euro wert sein. Aber dann die CD-Sammlung: Phil Collins bis Eric Clapton. Im Kühlschrank: vergammelte Singlepackungen Salat, irgendwelcher japanischer Yuppie-Schnickschnack und viele angebrochene Marmeladengläser. Im Schnapsschrank: volle Flaschen, teils noch als Geschenk verpackt. Im Bücherschrank: eine zweibändige Nietzsche-Biografie direkt neben Dan Browns gesammelten Werken, dazu eine große Menge populärwissenschaftlicher Geschichtsbücher sowie eine kleine Sammlung ungelesen aussehender Literatur über kritische Umweltthemen. Das Einzige, was Richard zumindest in leichte Unruhe versetzte, war ein Schlüssel, den er am Schlüsselbrett in der Küche fand. An diesem einfachen Zimmerschlüssel hing, mit grober Schnur befestigt, ein uraltes Pappschild, auf dem in gestochenem Sütterlin das Wort Trockenboden stand. Dieser Schlüssel konnte zu nichts Geringerem gehören als zu der geheimnisvollen Tür im Rosenzimmer auf dem Speicher. Zwar war die Tür eintapeziert, und das Sütterlin auf dem Schild legte nahe, dass sie schon lange nicht mehr benutzt worden war, andererseits durfte Richard bei seiner Hausuntersuchung kein Zimmer auslassen; am Ende war die Tapete doch nicht so alt, und auf dem Trockenboden lagerten Waffen und Drogen. Er nahm also den Schlüssel, holte sich ein scharfes Messer aus der Küche und ging hinauf zum Speicher.
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