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KAPITEL SIEBEN
Caitlin und Caleb flogen gemeinsam durch den klaren blauen Wüstenhimmel, nordwärts über das Land Israel, auf das Meer zu. Unter ihnen breitete sich die Landschaft aus, und Caitlin beobachtete, wie sich das Gelände unter ihnen veränderte, je weiter sie flogen. Da waren riesige Flecken Wüste, weit ausladende Gebiete von sonnengetrocknetem Lehm, gespickt mit Steinen, Felsbrocken, Bergen und Höhlen. Es gab kaum Menschen, abgesehen von dem gelegentlichen Schafhirten, von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet, eine Kapuze über dem Kopf, um ihn vor der Sonne zu schützen, seine Herde nicht weit hinter ihm folgend.
Doch je weiter sie nordwärts flogen, um so mehr änderte sich das Terrain. Die Wüste wich sanften Hügeln, und auch die Farben änderten sich, von trockenem, staubigem Braun zu üppigem Grün. Olivenhaine und Weingärten spickten die Landschaft. Doch immer noch waren nur wenige Menschen zu sehen.
Caitlin dachte über ihre Entdeckung in Nazareth nach. In diesem Brunnen hatte sie zu ihrem Schock einen kleinen, wertvollen Gegenstand gefunden, den sie nun in ihrer Hand festklammerte: einen goldenen Davidstern von der Größe ihrer Handfläche. Quer darüber war in kleiner, altertümlicher Schrift ein einzelnes Wort graviert: Kapernaum.
Es war für sie beide klar gewesen, dass dies eine Botschaft war, um ihnen zu sagen, wohin sie als Nächstes gehen mussten. Aber warum Kapernaum?, fragte sich Caitlin.
Sie wusste von Caleb, dass Jesus dort einige Zeit verbracht hatte. Hieß das, er würde sie dort erwarten? Und würde auch ihr Vater dort sein? Und, wie sie zu hoffen wagte, Scarlet?
Caitlin durchsuchte die Landschaft unter sich. Sie war erstaunt, wie unterbevölkert Israel zu dieser Zeit war. Sie war überrascht, wenn sie gelegentlich über ein Haus flog, da die Wohnstätten so spärlich gesät waren. Dies war immer noch ein ländliches, leeres Land. Die einzigen Städte, die sie gesehen hatte, waren eher Ortschaften, und selbst diese waren primitiv, fast alle Gebäude schlicht ebenerdig oder mit einem Stockwerk, und aus Stein erbaut. Sie hatte keine nennenswerten befestigten Straßen gesehen.
Als sie flogen, schwang sich Caleb zu ihr und griff nach ihrer Hand. Es fühlte sich gut an, ihn zu spüren. Sie musste sich fragen, zum millionsten Mal, warum sie hier und jetzt gelandet waren. So weit zurück. So weit weg. So anders als Schottland, als alles, was sie kannte.
Sie spürte tief im Inneren, dass dies die Endstation ihrer Reise war. Hier. Israel. Es war ein so mächtiger Ort zu jener Zeit, dass sie die Energie von allem ausstrahlen spüren konnte. Alles fühlte sich für sie spirituell geladen an, als würde sie in einem enormen Energiefeld wandeln und leben und atmen. Sie wusste, dass ihr etwas Bedeutsames bevorstand. Doch sie wusste nicht, was. War ihr Vater wirklich hier? Würde sie ihn jemals finden? Es war so frustrierend für sie. Sie hatte alle vier Schlüssel. Er sollte hier sein, dachte sie, und auf sie warten. Warum musste sie immer noch so weitersuchen?
Noch drängender waren ihre Gedanken an Scarlet. Sie blickte auf jeden Ort hinunter, den sie passierten, und suchte nach einem Anzeichen von ihr, von Ruth. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie es vielleicht nicht geschafft hatte—doch rasch schob sie diese Gedanken beiseite und weigerte sich, zuzulassen, dass sie so negativ dachte. Sie konnte den Gedanken an ein Leben ohne Scarlet nicht ertragen. Sollte sich herausstellen, dass Scarlet tatsächlich fort war, wusste sie nicht, ob sie die Kraft haben würde, weiterzumachen.
Caitlin spürte den Davidstern in ihrer Hand brennen und dachte erneut darüber nach, wohin sie wohl unterwegs waren. Sie wünschte, sie wüsste mehr über das Leben Jesu; sie wünschte, sie hätte die Bibel als Kind aufmerksamer gelesen. Sie versuchte, sich zu erinnern, doch sie wusste wirklich nur die Grundlagen: Jesus hatte an vier Orten gelebt: Bethlehem, Nazareth, Kapernaum und Jerusalem. Sie hatten Nazareth gerade hinter sich gelassen und waren nun auf dem Weg nach Kapernaum.
Sie fragte sich, ob sie auf einer Schnitzeljagd waren, seinen Fußstapfen folgend, ob er vielleicht einen Hinweis für sie bereithielt, oder ob einer seiner Anhänger einen Hinweis darauf hatte, wo ihr Vater war, oder das Schild. Sie fragte sich wieder einmal, wie alles zusammenhängen konnte. Sie dachte an all die Kirchen und Klöster, die sie durch die Jahrhunderte besucht hatte, und spürte, dass da ein Zusammenhang bestand. Doch sie war nicht sicher, was es war.
Das Einzige, was sie über Kapernaum sicher wusste, war, dass es ein kleines, bescheidenes Fischerdörfchen in Galiläa war, an der Nordwestküste von Israel. Doch sie hatten schon seit Stunden keine Städte mehr passiert—tatsächlich war kaum überhaupt eine Menschenseele in Sicht gewesen—und sie hatte keine Spur von Wasser gesehen—noch viel weniger von einem Meer.
Dann, gerade als sie das dachte, flogen sie über einen Berggipfel hinweg, und als sie ihn überquert hatten, breitete sich die andere Seite des Tals vor ihr aus. Es raubte ihr den Atem. Da, sich endlos erstreckend, war ein schimmernder Ozean. Es war ein tieferes Blau, als sie je gesehen hatte, und es glitzerte geradezu in der Sonne, wie eine Schatzkiste. Daran angrenzend war ein prachtvoller Strand weißen Sandes, und die Wellen rauschten darüber, so weit das Auge reichte.
Caitlin verspürte aufgeregte Spannung. Sie waren in die richtige Richtung unterwegs; solange sie sich am Ufer hielten, würden sie nach Kapernaum gelangen.
„Da“, kam Calebs Stimme.
Sie folgte seinem Finger, kniff die Augen zusammen und blickte auf den Horizont hinaus, und konnte es gerade so erkennen: in der Ferne lag ein kleines Dorf. Es war kaum eine Stadt, kaum überhaupt eine Ortschaft. Da waren vielleicht zwei Dutzend Häuser und ein größeres Gebäude in die Küste eingebettet. Als sie näherkamen, kniff Caitlin die Augen zusammen, betrachtete es näher, doch konnte kaum jemanden sehen: nur ein paar wenige Dorfbewohner waren auf den Straßen unterwegs. Sie fragte sich, ob das an der Mittagssonne lag oder daran, dass es unbewohnt war.
Caitlin hielt Ausschau nach einem Anzeichen von Jesus selbst, doch sah nichts. Wichtiger noch, sie spürte nichts. Wenn es wahr war, was Caleb gesagt hatte, würde sie seine Energie von Weitem spüren können. Doch sie spürte keine ungewöhnliche Energie. Wieder einmal fragte sie sich, ob sie im richtigen Hier und Jetzt waren. Vielleicht hatte dieser Mann unrecht gehabt: vielleicht war Jesus vor Jahren schon verstorben. Oder vielleicht war er noch nicht einmal geboren.
Plötzlich schwang Caleb sich abwärts, auf das Dorf zu, und Caitlin folgte. Sie fanden eine unauffällige Stelle zum Landen, außerhalb der Stadtmauer, in einem Hain von Olivenbäumen. Dann schritten sie durch das Stadttor.
Sie gingen durch das kleine, staubige Dorf, und es war heiß; alles briet in der Sonne. Die wenigen herumschlendernden Bewohner schienen sie kaum zu bemerken; sie waren anscheinend nur darauf aus, Schatten zu finden und sich Luft zuzufächeln. Eine alte Dame trat an den Dorfbrunnen, hob einen großen Schöpflöffel hoch und trank, dann wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
Wie sie so die kleinen Straßen durchquerten, wirkte der Ort vollständig verlassen. Caitlin hielt nach irgendeinem Anzeichen Ausschau, irgendetwas, das sie zu einem Hinweis führen konnte, einer Spur von Jesus, oder ihrem Vater, oder dem Schild, oder Scarlet—doch sie fand nichts.
Sie wandte sich an Caleb.
„Was nun?“, fragte sie.
Caleb blickte ahnungslos zurück. Er schien genauso ratlos zu sein wie sie.
Caitlin drehte sich herum, betrachtete die Dorfmauern, die bescheidene Bauweise, und wie sie so durch den Ort blickte, bemerkte sie einen schmalen, ausgetretenen Pfad, der zum Meer führte. Als sie den Pfad hinunterblickte, durch ein Stadttor hinaus, sah sie in der Ferne das Schimmern des Ozeans.
Sie stupste Caleb an, und auch er sah es und folgte ihr, als sie die Stadt verließ und auf das Ufer zuwanderte.
Als sie sich der Küste näherten, sah Caitlin drei kleine, bunte Fischerboote, wettergegerbt, halb gestrandet im Sand, in den Wellen schaukeln. In einem saß ein Fischer, und neben den anderen beiden, knöcheltief im Ozean, standen zwei weitere Fischer. Es waren ältere Herren mit grauem Haar und dazu passenden Bärten, und Gesichtern, die ebenso wettergegerbt waren wie ihre Boote, sonnengebräunt, mit tiefen Falten. Sie trugen weiße Roben und weiße Kapuzen zum Schutz vor der Sonne.
Caitlin sah zu, wie zwei von ihnen ein Netz einholten und es langsam durch die Wellen zogen. Sie zerrten daran, kämpften mit den Wellen, und ein kleiner Junge sprang aus einem der Boote und rannte zum Netz, um ihnen zu helfen, es einzuholen. Als es das Ufer erreichte, sah Caitlin, dass sie dutzende Fische gefangen hatten, die zappelten und sprangen. Der Junge quietschte vor Freude, während die alten Männer unberührt schienen.
Caitlin und Caleb hatten sich ihnen so leise genähert—besonders mit dem Wellenrauschen im Hintergrund—dass sie sie immer noch nicht bemerkt hatten. Caitlin räusperte sich, um sie nicht zu erschrecken.
Sie alle wirbelten zu ihr herum, und sie konnte sehen, wie überrascht sie waren. Sie konnte es ihnen nicht verdenken: sie mussten ein schockierender Anblick sein, sie beide, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, in moderner Kampfmontur in Leder. Sie mussten ausgesehen haben, als wären sie direkt vom Himmel gefallen.
„Es tut uns leid, Sie zu stören“, fing Caitlin an, „aber sind wir in Kapernaum?“, fragte sie den, der ihr am Nächsten stand.
Er blickte von ihr au Caleb, dann zurück zu ihr. Langsam nickte er zur Antwort.
„Wir suchen jemanden“, fuhr Caitlin fort.
„Und wer soll das sein?“, fragte der andere Fischer.
Caitlin war kurz davor, „meinen Vater“ zu sagen, doch sie hielt sich zurück, da sie erkannte, dass das nutzlos sein würde. Wie sollte sie ihn schon beschreiben? Sie wusste nicht einmal, wer er war oder wie er aussah.
Also nannte sie stattdessen die einzige Person, die ihr einfiel, die sie erkennen könnten: „Jesus.“
Sie rechnete fast damit, dass sie sie verspotten würden, sie auslachen, sie ansehen, als wäre sie verrückt—oder dass sie keine Ahnung haben würden, wer Jesus war.
Doch zu ihrer Überraschung schienen sie von ihrer Frage nicht überrascht; sie nahmen sie ernst.
„Er ist vor zwei Wochen abgereist“, sagte einer von ihnen.
Caitlins Herz setzte kurz aus. Also. Es stimmte. Er lebte tatsächlich. Sie waren tatsächlich in seiner Zeit. Und er war wirklich hier gewesen, in diesem Dorf.
„Und alle seine Anhänger mit ihm“, sagte der andere. „Nur die alten Leute wie wir und die Kinder blieben zurück.“
„Also ist er echt?“, fragte Caitlin schockiert. Sie konnte es immer noch kaum glauben; es war fast zu viel, um es zu erfassen.
Der Junge trat nahe an Caitlin heran.
„Er hat die Hand meines Opas wieder gut gemacht“, sagte der Junge. „Schau nur. Er hatte Lepra. Jetzt ist er gesund. Zeig es ihr, Opa“, sagte der Junge.
Der alte Mann drehte sich langsam herum und zog den Ärmel zurück. Seine Hand sah völlig normal aus. Genauer gesagt, als Caitlin genau hinsah, wirkte es, als würde eine Hand deutlich jünger aussehen als die andere. Es war unheimlich. Er hatte die Hand eines 18jährigen. Rosig und gesund—als hätte man ihm eine neue Hand gegeben.
Caitlin konnte es nicht glauben. Jesus war echt. Er konnte wirklich Leute heilen.
Die Hand dieses Mannes anzusehen, der einst ein Leprakranker war, sie völlig geheilt zu sehen, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Es machte alles real. Zum ersten Mal hatte sie Hoffnung, dass sie ihn wirklich finden würde, und wirklich ihren Vater finden könnte, und das Schild. Und dass sie sie zu Scarlet führen konnten.
„Wisst ihr, wohin er gegangen ist?“, fragte Caleb.
„Jerusalem, soweit wir gehört haben“, rief einer der anderen Fischer über das Rauschen der Wellen hinweg.
Jerusalem, dachte Caitlin. Es fühlte sich so weit weg an. Sie waren den ganzen Weg hierher nach Kapernaum geflogen. Und nun schien es, als wäre das völlig sinnlos gewesen. Nach all dem würden sie umkehren und mit leeren Händen davonziehen müssen.
Doch sie konnte den Davidstern in ihrer Hand brennen spüren, und sie war sich sicher, dass es einen Grund geben musste, warum sie nach Kapernaum geschickt worden waren. Sie hatte das Gefühl, dass da noch mehr war, was sie finden mussten.
„Einer seiner Apostel ist noch hier“, sagte ein Fischer. „Paulus. Ihn könnt ihr fragen. Es kann sein, dass er genau weiß, wohin sie unterwegs sind.“
„Wo ist er?“, fragte Caitlin.
„Da, wo sie sich alle aufgehalten haben. In der alten Synagoge“, sagte der Mann. Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter hinweg.
Caitlin blickte über ihre Schulter und sah auf einem Hügel, den Ozean überblickend, einen wunderschönen kleinen Tempel aus Kalkstein. Selbst in dieser Zeit sah er bereits uralt aus. Mit kunstvollen Säulen verziert blickte er über das Meer hinaus, mit direktem Ausblick auf die rauschenden Wellen. Selbst von hier konnte Caitlin spüren, dass es ein heiliger Ort war.
„Es war die Synagoge von Jesus“, sagte einer der Männer. „Dort verbrachte er all seine Zeit.“
„Danke“, sagte Caitlin und machte sich auf, auf sie zuzugehen.
Als sie losging, streckte der Mann die Hand aus und packte sie mit seiner neuen, gesunden Hand am Arm. Caitlin blieb stehen und sah ihn an. Sie konnte die Energie spüren, die durch seine Hand in ihren Arm pulsierte. Es war anders als alles, was sie je gefühlt hatte. Es war eine heilende, tröstliche Energie.
„Du bist nicht von hier, nicht wahr?“, fragte der Mann.
Caitlin spürte ihn in ihre Augen blicken und konnte erkennen, dass er etwas ahnte. Ihr wurde klar, dass es sinnlos war, ihn anlügen zu wollen.
Langsam schüttelte sie den Kopf. „Nein, das bin ich nicht.“
Er starrte sie eine lange Zeit an, dann nickte er langsam, zufriedengestellt.
„Du wirst ihn finden“, sagte er zu ihr. „Ich kann es spüren.“
*
Caitlin und Caleb wanderten den Strand hinauf, neben ihnen das Wellenrauschen, der Geruch von Salz schwer in der Luft. Die kühle Brise war erfrischen, besonders nach so viel Zeit in der Wüstenhitze. Sie stiegen einen kleinen Hügel hinauf, auf dessen Kuppe die uralte Synagoge eingebettet war.
Caitlin blickte auf, als sie sich näherten: aus abgetragenem Kalkstein erbaut, schien es, als stünde sie schon seit tausenden Jahren hier. Sie konnte die Energie spüren, die von dem Ort ausging; dies war ein heiliger Ort, das konnte sie jetzt schon feststellen. Sein großes gewölbtes Tor stand offen und knarrte im Wind, von der Meeresbrise hin und her bewegt.
Auf ihrem Weg den Hügel hinauf passierten sie kleine Grüppchen von Wildblumen, die scheinbar direkt aus dem Felsen heraus wuchsen, in einer Reihe bunter Wüstenfarben. Es waren die schönsten Blumen, die Caitlin je gesehen hatte, so unerwartet, so unwahrscheinlich an diesem kargen Ort.
Sie erreichten die Hügelkuppe und gingen direkt auf das Tor zu. Caitlin spürte den Davidstern in ihrer Tasche brennen und sie wusste, das war es.
Sie blickte hoch und sah über dem Torbogen, in den Stein eingebettet, einen riesigen goldenen Davidstern, von hebräischen Buchstaben umringt. Es war erstaunlich, darüber nachzudenken, dass sie kurz davor stand, einen Ort zu betreten, an dem Jesus so viel Zeit verbracht hatte. Irgendwie hatte sie erwartet, eine Kirche zu betreten—aber das ergab natürlich, wenn sie genauer nachdachte, keinen Sinn, da Kirchen natürlich nicht bis nach seinem Tod gebaut wurden. Es schien seltsam, sich Jesus in einer Synagoge vorzustellen—aber immerhin wusste sie, dass er Jude gewesen war, und ein Rabbi, also ergab es durchaus Sinn.
Doch welche Relevanz hatte all das für die Suche nach ihrem Vater? Nach dem Schild? Sie fühlte zunehmend, dass all dies verbunden war, all die Jahrhunderte und Zeiten und Orte, all das Suchen in den Klostern und Kirchen, all die Schlüssel, all die Kreuze. Sie hatte das Gefühl, dass es einen durchgehenden roten Faden gab, direkt vor ihren Augen. Und doch wusste sie nicht, was es war.
Sichtlich gab es an dem, was sie finden musste, irgend ein heiliges, spirituelles Element. Was ihr auch seltsam erschien, denn immerhin war dies die Welt der Vampire. Doch dann wiederum, als sie so darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass dies ebenso ein spiritueller Krieg war, zwischen übernatürlichen Kräften von Gut und Böse, von jenen, die die menschliche Art beschützen wollten und jenen, die ihr schaden wollten. Und sichtlich würde was immer sie finden würde riesige Auswirkungen haben, nicht nur auf die Art der Vampire, sondern auch auf die Art der Menschen.
Sie blickte auf die offenstehende Türe und fragte sich, ob sie einfach hineinspazieren sollten.
„Hallo?“, rief Caitlin aus.
Sie wartete einige Sekunden, ihre Stimme widerhallend. Keine Antwort.
Sie sah Caleb an. Er nickte, und sie konnte sehen, dass auch er das Gefühl hatte, sie wären am richtigen Ort. Sie legte ihre Hand auf die uralte Holztüre und drückte sanft dagegen. Sie öffnete sich knarrend, und sie betraten das verdunkelte Gebäude.
Es war kühler hier drin, geschützt von der Sonne, und Caitlin brauchte einen Moment, bis ihre Augen sich angepasst hatten. Langsam taten sie das, und sie betrachtete den Raum vor ihr.
Er war prachtvoll, anders als alles, was sie je gesehen hatte. Er war nicht protzig wie so viele andere Kirchen, die sie gesehen hatte; es war vielmehr ein bescheidenes Gebäude, aus Marmor und Kalkstein erbaut, verziert mit Säulen und mit kunstvollen Schnitzereien an der Decke. Es gab keine Kirchenbänke, keine Sitzplätze—nur einen großen offenen Raum. Am anderen Ende stand ein schlichter Altar—doch an Stelle eines darüber hängenden Kreuzes war da ein Davidstern. Dahinter stand ein kleiner goldener Schrank, in den Abbildungen von zwei großen Schriftrollen graviert waren.
Nur ein paar wenige kleine gewölbte Fenster durchbrachen die Wände, und obwohl Sonnenlicht stellenweise hereinströmte, war es doch düster. Dieser Ort war so still, so ruhig. Caitlin konnte nur das ferne Rauschen der Wellen hinter sich hören.
Caitlin und Caleb tauschten einen Blick aus, dann schritten sie langsam durch den Raum, dem Altar entgegen. Ihre Schritte schallten auf dem Marmor, und Caitlin wurde das Gefühl nicht los, dass sie beobachtet wurden.
Sie erreichten das Ende des Raumes und standen vor dem goldenen Schränkchen. Caitlin studierte die Diagramme, die in das Gold graviert waren: sie waren so detailreich, so komplex, dass sie sie an diese Kirche in Florenz erinnerten, den Duomo mit seinen goldenen Toren. Es schien, als hätte auch hier jemand sein Leben damit verbracht, dies zu gravieren. Zusätzlich zu den Abbildungen der Schriftrollen waren hebräische Buchstaben überall rundum eingebettet. Caitlin fragte sich, was sich darin befand.
„Die Torah“, kam eine Stimme.
Cailtin wirbelte herum, schockiert darüber, eine andere Stimme zu hören. Sie verstand nicht, wie irgendjemand so leise hätte sein können, es schaffen konnte, von ihnen unentdeckt zu bleiben—und wie irgendjemand darüberhinaus ihre Gedanken lesen konnte. Nur eine äußerst besondere Person konnte dies bewerkstelligen. Entweder ein Vampir, oder eine heilige Person, oder beides.
Auf sie zu kam ein Mann in weißer Robe und zurückgeschlagener Kapuze, mit langem, zerzaustem hellbraunem Haar und einem passenden Bart. Er hatte wunderschöne blaue Augen und ein mitfühlendes Gesicht, das von einem Lächeln erhellt wurde. Er wirkte alterslos, vielleicht Mitte 40, und kam mit einem leichten Hinken auf sie zu, einen Gehstock in der Hand.
„Es sind die Schriftrollen des Alten Testaments. Die fünf Bücher Mose. Das ist es, was hinter diesen goldenen Türen liegt.“
Er kam weiter auf sie zu, bis er nur wenige Schritt entfernt war, dann blieb er vor Caitlin und Caleb stehen. Er starrte direkt auf sie, und Caitlin konnte die Intensität spüren, die von ihm ausging. Dies war sichtlich keine gewöhnliche Person.
„Ich bin Paulus“, sagte er, ohne die Hand auszustrecken, die stattdessen auf seinem Gehstock ruhte.
„Ich bin Caitlin, und dies ist mein Ehemann Caleb“, antwortete sie.
Er lächelte breit.
„Ich weiß“, antwortete er.
Caitlin kam sich dumm vor. Es war offensichtlich, dass dieser Mann, der so einfach ihre Gedanken lesen konnte, viel mehr über sie wusste, als sie über ihn. Es war ein unheimliches Gefühl, dass all diese Leute, in all diesen Jahrhunderten und Orten, von ihr wussten, alle auf sie warteten. Es gab ihr noch stärker das Gefühl, einen Zweck zu haben, eine Mission. Doch es machte es umso frustrierender für sie, dass sie nicht wusste, was diese war, oder wohin sie als Nächstes gehen musste.
„Es tut uns leid, dass wir so eindringen“, sagte Caleb. „Aber uns wurde gesagt, dass Jesus hier betete. Dass er erst kürzlich hier war. Ist das wahr?“
Der Mann nickte leicht, seine Augen weiterhin auf Caitlin gerichtet.
„Sie sind schon vor einiger Zeit Richtung Jerusalem aufgebrochen“, sagte er. „Wenn ihr Teil der Massen wäret, die zur Heilung kommen, würde ich euch sagen, dass es zu spät ist. Aber dann wiederum weiß ich, dass ihr nicht hier seid, um geheilt zu werden. Nein. Ihr habt eine gänzlich andere Absicht, nicht wahr?“, fragte er, immer noch auf Caitlin starrend.
Caitlin nickte zur Antwort, spürend, dass dieser Mann bereits alles wusste. Und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie noch ein anderes Gefühl: dass dieser Mann ihrem Vater nahe stand. Dass er wusste, wer er war. Das Gefühl jagte einen Schauer durch ihren Körper. Sie hatte sich ihm noch nie zuvor so nahe gefühlt.
„Ich suche meinen Vater“, sagte Caitlin und konnte hören, wie ihre Stimme erwartungsvoll zitterte.
Der Mann lächelte zurück.
„Und er sucht dich.“
Caitlins Augen weiteten sich überrascht.
„Kennen Sie ihn?“, fragte sie.
Der Mann nickte zur Antwort.
„Wo ist er?“, fragte Caitlin ungeduldig.
Doch der Mann seufzte nur, drehte sich herum und schritt zu einem Fenster. Er stand eine lange Weile da und blickte auf das Meer hinaus.
„Es ist nicht an mir, das zu sagen.“
All diese Rätsel machten Caitlin verrückt. Sie hielt es nicht mehr aus. Sie musste wissen, wo er war.
„Warum können Sie mir das nicht einfach sagen?“, fragte Caitlin aufgebracht.
Der Mann stutzte.
„Ich könnte es dir sagen“, sagte er, „doch du würdest nicht zuhören.“
Das machte Caitlins Verwirrung nur noch tiefer. Sie hatte keine Ahnung, was er damit meinte.
„Du bist an der Endstation deiner Zeitreise“, setzte er fort. „Du bist näher daran, deinen Vater zu finden, als du dir vorstellen kannst. Doch es sind auch mächtige Kräfte am Werk. Dunkle Kräfte. Es steht viel auf dem Spiel, und sie wollen das Schild. Und sie schrecken vor nichts zurück, um es zu bekommen.
Die Zeit wird kommen, in der du eine Wahl treffen musst. Ein großes Opfer bringen. Vergiss nicht, dass dein Vater und das Schild vor allem anderen kommen müssen. Vor allen persönlichen Begehren. Selbst vor der Familie. Verstehst du? Es wird nicht einfach sein. Es stehen dir schwere Entscheidungen bevor. Doch du musst sie treffen. Für uns alle. Verstehst du das?“, fragte er wieder.
Caitlin nickte langsam zur Antwort, doch sie verstand nicht ganz. Welche Entscheidungen würde sie treffen müssen? Konnte dieser Mann ihre Zukunft sehen? Sie hatte das unheimliche Gefühl, dass er das tat.
„Wir alle zählen auf dich“, fügte er hinzu. „Du musst deinen Vater finden. Du musst das Schild bekommen, bevor sie es haben. Wenn sie es zuerst bekommen, wird undenkbares Übel und Grausamkeit für alle Zeit hereinbrechen.“
Caitlin fühlte, dass es dringender war als je zuvor, ihren Vater zu finden, und das Schild, vor allem bevor es die anderen taten. Doch sie hatte immer noch keine Ahnung, wo sie anfangen sollte.
„Du kannst deinem Vater erst begegnen, wenn die Zeit stimmt. Nicht eine Sekunden davor oder danach. Es gibt einen Zyklus des Schicksals im Universum. Die Sterne müssen genau richtig stehen. Und dann, und nur dann, könnt ihr einander begegnen.“
Der Mann wandte sich ihr zu, und Caitlin spürte, dass er noch mehr wusste—nicht nur über ihren Vater, sondern über Scarlet.
„Und was ist mit meiner Tochter?“, fragte sie. „Ist sie hier? In dieser Zeit, an diesem Ort?“
„Ja“, antwortete der Mann schlicht.
Seine direkte Antwort überraschte Caitlin, und begeisterte sie zugleich. Scarlet war hier. Sie war am Leben. Eine Welle der Erleichterung traf sie—und auch Vorfreude. Sie musste sie finden.
„Wo ist sie?“, forderte Caitlin.
Der Mann schüttelte den Kopf.
„Wiederum ist es nicht an mir, dies zu sagen. Doch das sage ich dir: bevor du deinen Vater nicht gefunden hast, wirst du Scarlet nicht finden. Suche nach Scarlet, und du wirst sie beide verlieren. Suche nach deinem Vater, und du wirst sie beide finden.“
„Doch ich weiß nicht, wie ich ihn finden soll“, schnappte Caitlin frustriert.
„Oh, und wie du das tust“, antwortete der Mann. „Du hast den ersten Hinweis bereits gefunden. Du hast auf deine Intuition vertraut, und es hat funktioniert. Nun liegt es da in deiner Hand.“
Caitlin erinnerte sich plötzlich: der Davidstern. Sie hielt ihn auf der offenen Hand vor sich, untersuchte ihn, und überlegte.
Der Mann durchquerte langsam den Raum, streckte die Hand aus und nahm den Stern. Er hielt ihn hoch und betrachtete ihn. Er nickte zufrieden.
„Siehst du?“, sagte er. „Ich hätte dies nicht finden können. Es war für dich bestimmt. Und dich alleine. Nur du kannst ihn benutzen.“
Caitlin blickte zu Caleb, von der Bahn geworfen. Er blickte verständnislos auf sie zurück.
Ihn benutzen?, wunderte sie sich.
„Wie?“, fragte sie.
Er blickte zu dem goldenen Podest vor dem Schränkchen hinüber, und Caitlin folgte seinem Blick.
Im Zentrum des Podests war eine Aushöhlung. Als sie genauer hinsah, stellte sie schockiert fest, dass die Form von exakt der Größe ihres Davidsterns war. Sie sah den Mann zur Bestätigung an, und er gab ihr den Stern zurück und nickte.
Sie ging hinüber. Sie streckte vorsichtig den Stern aus und legte ihn in das Podest. Er passte perfekt und versank an der kleinen Stelle.
Plötzlich ertönte ein Geräusch hoch über ihrem Kopf. Caitlin blickte hoch und sah, wie sich ein kleines Stück der Decke unter dem Geräusch von übereinander schabendem Stein zurückzog. Wie es sich öffnete, strömte ein Strahl Sonnenlicht in einem scharfen Winkel herein und erleuchtete eine kleine Stelle an der Wand, etwa 30cm breit.
Caitlin war schockiert. Sie eilte mit Caleb zur Wand hinüber, und als sie genauer hinsah, bemerkte sie, dass dieses Mauerstück sich vom Rest der Mauer unterschied. Als die Sonne daraufschien, konnte sie gerade noch Buchstaben ausmachen, die in den Stein graviert waren.
Es war eine Botschaft. In altertümlichen hebräischen Lettern geschrieben, die von rechts nach links verliefen.
Sie hatte keine Ahnung, was es bedeutete. Sie blickte zu Caleb hinüber, in der Hoffnung, dass er es tat.
„Kannst du das lesen?“, fragte sie.
Er nickte, mit vor Überraschung weiten Augen. Er sah drein, als hätte er gerade einen Geist gesehen.
„Es ist eine Botschaft“, sagte er und blickte sie an. „Und sie ist von deinem Vater.“
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