Kitabı oku: «Queste der Helden», sayfa 8
Natürlich kannte sie den Jungen nicht einmal. Aber sie hatte mit angesehen, was er auf der Turnierbahn getan hatte; hatte gesehen, wie sehr ihn ihr kleiner Bruder mochte. Seither hatte sie ihn beobachtet, gespürt, dass etwas Besonderes an ihm war; etwas, das anders war als die anderen. Ihre Begegnung mit ihm hatte das nur bestätigt. Er war anders als die königlichen Typen, all die Leute, die hier geboren und aufgewachsen waren. Er hatte etwas erfrischend Aufrichtiges an sich. Er war ein Außenseiter. Einer aus dem gemeinen Volk. Aber seltsamerweise mit einem königlichen Auftreten. Es war, als hätte er zu viel Stolz für das, was er war.
Gwen bahnte sich ihren Weg an den Rand des oberen Balkons und blickte hinunter: unter ihr erstreckte sich der königliche Hof, und sie erwischte noch einen letzten Blick auf Thor, als er mit Reece an seiner Seite hinausgeleitet wurde. Bestimmt waren sie auf dem Weg zur Kaserne, um mit den anderen Jungen zu trainieren. Sie spürte einen Anfall von Bedauern und fing sofort an, darüber nachzudenken, zu planen, wie sie ihn wiedersehen konnte.
Gwen musste mehr über ihn erfahren. Sie musste es herausfinden. Dafür würde sie mit jener Frau sprechen müssen, die alles über jeden wusste und alles, was im Königreich vor sich ging: ihre Mutter.
Gwen drehte sich um und bahnte sich ihren Weg durch die Menge, wand sich durch die hinteren Gänge der Burg, die sie auswendig kannte. In ihrem Kopf drehte sich alles. Es war ein schwindelerregender Tag gewesen. Zuerst die Besprechung mit ihrem Vater am Morgen, seine schockierende Nachricht, dass er ihr die Herrschaft über sein Königreich übertrug. Sie war völlig unvorbereitet gewesen, hätte dies in einer Million Jahren niemals erwartet. Sie konnte es immer noch kaum verarbeiten. Wie könnte sie jemals ein Königreich regieren? Sie schob den Gedanken von sich weg und hoffte, dass der Tag nie kommen würde. Immerhin war ihr Vater gesund und stark, und mehr als alles andere wollte sie doch nur, das er lebte. Bei ihr war. Glücklich war.
Aber sie konnte die Besprechung nicht aus ihren Gedanken verbannen. Irgendwo in ihrem Hinterkopf lauerte der Gedanke, dass eines Tages, wann immer dieser Tag sein würde, sie die Nächste war. Sie würde ihm nachfolgen. Nicht einer ihrer Brüder. Sondern sie. Sie fand es furchteinflößend; es gab ihr aber auch ein Gefühl von Bedeutsamkeit, von Selbstbewusstsein, anders als alles, was sie bisher kannte. Er fand sie würdig, zu regieren—sie—die weiseste unter ihnen zu sein. Sie fragte sich, warum.
Auf viele Arten bereitete es ihr auch Sorgen. Sie nahm an, dass es eine riesige Menge an Missgunst und Neid aufwerfen würde, dass sie, ein Mädchen, zum Herrschen erwählt worden war. Sie konnte jetzt bereits Gareths Neid spüren. Und das machte ihr Angst. Sie wusste, dass ihr großer Bruder fürchterlich manipulativ und völlig unversöhnlich war. Er würde sich von nichts aufhalten lassen, das zu bekommen, was er wollte, und sie hasste den Gedanken daran, dass er sie im Visier hätte. Sie hatte versucht, nach der Besprechung mit ihm zu reden, aber er wollte sie nicht einmal ansehen.
Gwen rannte die Wendeltreppe hinunter; ihre Schuhe hallten auf dem Stein. Sie bog in einen weiteren Gang, passierte die hintere Kapelle, durch eine weitere Türe, an mehreren Wachen vorbei, und betrat die privaten Gemächer der Burg. Sie musste mit ihrer Mutter sprechen, und sie wusste, dass sie sich hierher zurückgezogen hatte. Ihre Mutter hatte nur noch wenig Geduld für langgezogene gesellschaftliche Anlässe—sie schlüpfte gerne in ihre privaten Gemächer davon und ruhte sich aus, so oft sie konnte.
Gwen passierte eine weitere Wache, lief einen weiteren Gang hinunter, dann stand sie endlich vor der Tür zur Ankleide ihrer Mutter. Sie wollte sie gerade öffnen, doch etwas hielt sie ab. Hinter der Tür hörte sie gedämpft erhobene Stimmen und spürte, dass etwas nicht stimmte. Es war ihre Mutter, die mit jemandem stritt. Sie hörte genauer hin und erkannte die Stimme ihres Vaters. Sie hatten einen Streit sich. Aber worüber?
Gwen wusste, sie sollte nicht lauschen—aber sie konnte nicht anders. Sie streckte die Hand aus und drückte die schwere Eichentür sanft auf, hielt sie an ihrem eisernen Knauf fest. Sie öffnete sie nur einen Spalt breit und lauschte.
„Er kommt mir nicht ins Haus“, fuhr ihre Mutter ihn gereizt an.
„Du urteilst vorschnell, ohne die ganze Geschichte zu kennen.“
„Ich kenne die Geschichte“, schnauzte sie zurück. „Zur Genüge.“
Gwen hörte Gift in der Stimme ihrer Mutter und erschrak. Selten nur hörte sie ihre Eltern streiten—nur ein paar Mal in ihrem ganzen Leben—und hatte ihre Mutter noch nie so aufgebracht erlebt. Sie konnte nicht verstehen, warum.
„Er wird in der Kaserne wohnen, mit den anderen Jungen. Ich will ihn nicht unter meinem Dach haben. Hast du verstanden?“, drängte sie.
„Es ist eine große Burg“, fauchte ihr Vater zurück. „Seine Gegenwart wird dir nicht weiter auffallen.“
„Es ist mir egal, ob sie auffällt oder nicht. Ich will ihn hier nicht haben. Er ist dein Problem. Du warst es, der beschloss, ihn hereinzubringen.“
„Du bist auch nicht ganz unschuldig“, warf ihr Vater zurück.
Sie hörte Schritte, sah, wie ihr Vater durch den Raum schritt und ihn durch die Tür auf der anderen Seite verließ, die Tür so fest hinter sich zuwerfend, dass der Raum bebte. Ihre Mutter stand alleine in der Mitte des Raumes und fing zu weinen an.
Gwen fühlte sich schrecklich. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Einerseits dachte sie, es wäre am besten, sich davonzuschleichen, aber andererseits hielt sie es nicht aus, ihre Mutter weinen zu sehen; konnte es nicht ertragen, sie so zurückzulassen. Sie konnte auch beim besten Willen nicht verstehen, worüber sie sich stritten. Sie vermutete, dass es um Thor ging. Aber warum? Was kümmerte es ihre Mutter? Dutzende Leute lebten in der Burg.
Gwen konnte nicht einfach so weggehen, nicht mit ihrer Mutter in diesem Zustand. Sie musste sie trösten. Sie streckte die Hand aus und drückte sanft die Türe auf.
Sie knarrte, und ihre Mutter fuhr überrascht herum. Sie blickte sie erzürnt an.
„Kannst du nicht klopfen?“, fuhr sie sie an sie. Gwen konnte sehen, wie aufgewühlt sie war, und fühlte sich schrecklich.
„Was ist los, Mutter?“, fragte Gwen und ging sanft auf sie zu. „Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber ich hörte dich und Vater streiten.“
„Du hast recht: du solltest dich nicht aufdrängen“, erwiderte ihre Mutter.
Gwen war überrascht: ihre Mutter war nicht immer einfach, aber kaum jemals so ungehalten. Die Stärke ihres Zornes brachte Gwen ein paar Fuß entfernt zum Stehen. Sie war verunsichert.
„Ist es wegen dem neuen Jungen? Thor?“, fragte sie.
Ihre Mutter wandte sich ab und wischte eine Träne weg.
„Ich verstehe nicht“, drängte Gwen. „Warum kümmert es dich, wo er wohnt?“
„Meine Angelegenheiten sollen nicht deine Sorge sein“, sagte sie kalt; sichtlich wollte sie nicht weiter über die Sache reden. „Was willst du? Warum bist du hergekommen?“
Jetzt wurde Gwen nervös. Sie war hier, weil sie von ihrer Mutter alles über Thor erfahren wollte, aber sie hätte sich keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können. Sie räusperte sich zögernd.
„Ich...wollte dir eigentlich einige Fragen über ihn stellen. Was weißt du über ihn?“
Ihre Mutter drehte sich zu ihr herum und kniff misstrauisch die Augen zusammen.
„Warum?“, fragte sie, todernst. Gwen konnte sehen, wie sie sie abschätzte, geradewegs durch sie hindurchblickte, und mit ihrer unheimlichen Beobachtungsgabe sehen konnte, dass Gwen ihn mochte. Sie versuchte, ihre Gefühle zu verbergen, aber sie wusste, es war zwecklos.
„Ich bin nur neugierig“, sagte sie nicht sehr überzeugend.
Auf einmal machte die Königin drei Schritte auf sie zu, packte sie grob am Arm und starrte ihr ins Gesicht.
„Hör mir gut zu“, zischte sie. „Ich werde es nur einmal sagen. Bleib von diesem Jungen weg. Hörst du mich? Ich will dich nirgendwo in seiner Nähe haben, unter keinen Umständen.“
Gwen war entsetzt.
„Aber warum? Er ist ein Held.“
„Er ist nicht einer von uns“, antwortete ihre Mutter. „Egal, was dein Vater vielleicht denkt. Ich möchte, dass du dich von ihm fernhältst. Verstehst du mich? Schwöre es mir. Schwöre es mir jetzt und hier.“
„Ich werde das nicht schwören“, sagte Gwen und riss ihren Arm aus der allzu heftigen Umklammerung ihrer Mutter.
„Er ist aus dem gemeinen Volk, und du bist eine Prinzessin“, schrie ihre Mutter. „Du bist eine Prinzessin. Verstehst du das? Falls du auch nur in seine Nähe kommst, werde ich ihn ins Exil schicken. Hast du mich verstanden?“
Gwen wusste kaum, wie sie darauf antworten sollte. Sie hatte ihre Mutter noch nie so erlebt.
„Sag mir nicht, was ich zu tun habe, Mutter“, sagte sie schließlich.
Gwen bemühte sich, mit tapferer Stimme zu sprechen, doch tief im Inneren war sie erschüttert. Sie war hierher gekommen, um alles zu erfahren; jetzt hatte sie schreckliche Angst. Sie verstand nicht, was gerade vor sich ging.
„Tu, was du willst“, sagte ihre Mutter. „Aber sein Schicksal liegt in deinen Händen. Vergiss das nicht.“
Mit diesen Worten drehte sich ihre Mutter um, stolzierte aus dem Raum, und schlug die Türe hinter sich zu. Gwen blieb alleine in der hallenden Stille zurück, ihre gute Stimmung in Scherben. Was konnte in ihrer Mutter und ihrem Vater nur so starke Reaktionen hervorrufen?
Wer war dieser Junge?
KAPITEL ZEHN
MacGil saß im Bankettsaal und betrachtete seine Untertanen, er am einen Ende der Tafel und König McCloud am anderen, und hunderte Männer aus beiden Clans dazwischen. Die Hochzeitsfeierlichkeiten liefen noch einige Stunden weiter, bevor die Anspannung zwischen den Clans nach dem Turnier des Tages endlich verflogen war. Wie MacGil vermutet hatte, brauchten die Männer nur ausreichend Wein und Fleisch—und Frauen—um sie ihre Differenzen vergessen zu lassen. Jetzt scharten sie sich alle um dieselbe Tafel, wie Waffenbrüder. Und wirklich: während er sie so betrachtete, konnte MacGil nicht länger wirklich erkennen, dass sie von zwei unterschiedlichen Clans stammten.
MacGil fühlte sich bestätigt: sein meisterlicher Plan war am Ende doch noch aufgegangen. Jetzt schon schienen die beiden Clans einander näher zu sein. Er hatte geschafft, was einer langen Reihe an MacGil-Königen vor ihm nicht gelungen war: die beiden Seiten des Rings zu vereinen; sie, wenn schon nicht zu Freunden, dann zumindest zu friedlichen Nachbarn zu machen. Seine Tochter Luanda saß Arm in Arm da mit ihrem frischgebackenen Ehemann, dem McCloud-Prinzen, und sie wirkte zufrieden. Seine Schuldgefühle ließen nach. Er mochte sie zwar hergegeben haben—doch zumindest hatte er ihr ein Königinnentum verschaffen können.
MacGil dachte zurück an all die Planung, die diesem Ereignis vorangegangen war; erinnerte sich an die langen Tage der Debatten mit seinen Ratgebern. Er war gegen sämtliche Ratschläge seiner Berater gegangen, indem er diese Vereinigung arrangiert hatte. Es war kein ruhiger Frieden, und irgendwann würden die McClouds sich auf ihrer eigenen Seite der Hochlande wiederfinden, diese Hochzeit würde längst vergessen sein, und eines Tages würde sich wieder Unruhe ausbreiten. Er war nicht naiv. Aber nun bestanden zumindest Blutsbande zwischen den Clans—und besonders dann, wenn ein Kind geboren war, konnte das nicht so einfach ignoriert werden. Sollte dieses Kind florieren und eines Tages sogar herrschen, ein Kind von beiden Seiten des Rings geboren, dann konnte vielleicht eines Tages der gesamte Ring vereint sein, die Hochlande würden nicht länger eine Grenze des Unmutes darstellen, und das Land konnte in einer Hand aufblühen. Dies war sein Traum. Nicht für sich selbst, sondern für seine Nachfahren. Immerhin musste der Ring stark bleiben, vereint , um den Canyon zu verteidigen und die Horden aus der Welt dahinter fernzuhalten. Solange die beiden Clans uneins waren, stellten sie eine geschwächte Front gegen den Rest der Welt dar.
„Ein Trinkspruch“, rief MacGil und erhob sich.
Der Tisch wurde still, als hunderte Männer sich ebenfalls erhoben und ihre Kelche hoben.
„Auf die Hochzeit meines ältesten Kindes! Auf die Vereinigung der MacGils und McClouds! Auf Frieden im gesamten Ring!“
„HÖRT, HÖRT“, ertönte ein Chor von Rufen. Alle tranken, und der Saal füllte sich erneut mit dem Lärm von Gelächter und Schlemmerei.
MacGil setzte sich wieder und ließ seinen Blick durch den Saal schweifen, auf der Suche nach seinen anderen Kindern. Da saß natürlich Godfrey, mit beiden Fäusten trinkend, ein Mädchen an jeder Schulter, umringt von seinen nichtsnutzigen Freunden. Dies war wahrscheinlich das einzige königliche Ereignis, dem er je willentlich beigewohnt hatte. Dort saß Gareth, zu nahe an seinem Liebhaber Firth, dem er ins Ohr flüsterte; MacGil konnte an seinen umherirrenden, rastlosen Augen erkennen, dass er etwas im Schilde führte. Der Gedanke daran drehte ihm den Magen um, und er wandte seinen Blick ab. Dort, am anderen Ende des Saales, war sein jüngster Sohn Reece, der am Tisch der Knappen mit dem neuen Jungen, Thor, speiste. Schon jetzt fühlte er sich wie ein Sohn für ihn an, und er freute sich, dass sein Jüngster dick mit ihm befreundet war.
Er suchte unter den Gesichtern nach seiner jüngeren Tochter Gwendolyn und fand sie schließlich abseits sitzend, umringt von ihren Zofen und kichernd. Er folgte ihrem Blick und bemerkte, dass sie Thor beobachtete. Er betrachtete sie lange Zeit und erkannte, dass sie vernarrt war. Das hatte er nicht vorausgesehen. Er war sich nicht ganz sicher, was er davon halten sollte. Er spürte, das könnte Ärger geben. Besonders mit seiner Frau.
„Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen“, kam eine Stimme.
MacGil drehte sich um und fand Argon an seiner Seite sitzend vor, der den beiden Clans dabei zusah, wie sie gemeinsam speisten.
„Was machst du dir aus dem Ganzen?“, fragte MacGil. „Wird es Frieden in den Königreichen geben?“
„Friede ist niemals statisch“, sprach Argon. „Er wächst und schwindet wie die Gezeiten. Was Ihr vor Euch seht, ist eine Glasur aus Frieden. Ihr seht eine Seite der Oberfläche. Ihr versucht, Frieden auf eine uralte Rivalität zu gießen. Doch da sind hunderte Jahre von vergossenem Blut. Die Seelen schreien nach Rache. Und das kann nicht von einer einzelnen Hochzeit übertüncht werden.“
„Was willst du damit sagen?“, fragte MacGil und nahm einen weiteren Schluck von seinem Wein, nervös wie so oft in der Gegenwart von Argon.
Argon wandte sich ihm zu und starrte ihn mit einer Intensität an, die so stark war, dass sie MacGils Herz mit Panik erfüllte.
„Es wird Krieg geben. Die McClouds werden angreifen. Haltet Euch bereit. All die Hausgäste, die Ihr vor Euch seht, werden bald ihr Bestes geben, Eure Familie zu ermorden.“
MacGil schluckte schwer.
„War es die falsche Entscheidung, sie an sie zu verheiraten?“
Argon schwieg eine Weile, bevor er schließlich sprach: „Nicht unbedingt.“
Argon blickte weg und MacGil konnte sehen, dass das Thema für ihn beendet war. Es gab eine Million Fragen, auf die er eine Antwort haben wollte: doch er wusste, sein Zauberer würde sie ihm nicht beantworten, bis er bereit dazu war. Stattdessen beobachtete er also Argons Augen und folgte ihrem Blick zu Gwendolyn, dann zu Thor.
„Kannst du sie dir zusammen vorstellen?“, fragte MacGil, auf einmal neugierig, es zu wissen.
„Vielleicht“, antwortete Argon. „Vieles ist noch nicht entschieden.“
„Du sprichst in Rätseln.“
Argon zuckte die Schultern und blickte weg, und MacGil wurde klar, dass er nicht mehr aus ihm herausbekommen würde.
„Du hast gesehen, was heute auf dem Feld geschehen ist?“, pochte MacGil. „Mit dem Jungen?“
„Ich konnte es sehen, bevor es geschah“, antwortete Argon.
„Und was schließt du daraus? Was ist die Quelle der Kräfte des Jungen? Ist er wie du?“
Argon drehte sich um und blickte MacGil tief in die Augen, und die Eindringlichkeit seines Blickes brachte ihn fast dazu, sich abzuwenden.
„Er ist weitaus mächtiger als ich.“
MacGil starrte ihn erschrocken an. So hatte er Argon noch nie reden hören.
„Mächtiger? Als du? Wie ist das möglich? Du bist der Zauberer des Königs—es gibt niemanden im ganzen Land, der mächtiger ist als du.“
Argon zuckte mit den Schultern.
„Macht kommt nicht nur in einer Form“, sagte er. „Der Junge hat Kräfte, die weit über Eure Vorstellung hinausgehen. Weit über das, was er weiß. Er hat keine Ahnung, wer er ist. Oder woher er stammt.“
Argon drehte sich um und starrte MacGil an.
„Ihr aber wisst es“, fügte er hinzu.
MacGil starrte ihn fragend an.
„Tue ich das?“, fragte MacGil. „Sag es mir. Ich muss es wissen.“
Argon schüttelte den Kopf.
„Sucht in Euren Gefühlen. Sie sind wahr.“
„Was wird aus ihm werden?“, fragte MacGil.
„Er wird ein großer Anführer sein. Und ein großer Krieger. Er wird über seine eigenen Königreiche herrschen. Weit größere Königreiche als Eures. Und er wird ein weit größerer König sein als Ihr. Es ist sein Schicksal.“
Für einen kurzen Moment brannte MacGil vor Neid. Er drehte sich um und betrachtete den Jungen, wie er harmlos mit Reece lachte, an einem Tisch für Knappen, der einfache Junge aus dem Volk, der schwächliche Außenseiter, der Jüngste von allen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es möglich sein sollte. Wenn man ihn jetzt ansah, wirkte er kaum tauglich für die Legion. Er fragte sich für einen Moment, ob Argon falsch lag.
Doch Argon lag niemals falsch und machte nie Ankündigungen ohne guten Grund.
„Warum erzählst du mir das?“, fragte MacGil.
Argon drehte sich um und starrte ihn an.
„Weil es an der Zeit ist, sich bereit zu machen. Der Junge braucht Training. Ihm muss das Beste von allem zuteil werden. Es ist Eure Verantwortung.“
„Meine? Und was ist mit seinem Vater?“
„Ja, was ist mit ihm?“, fragte Argon.
KAPITEL ELF
Thor hatte Mühe, die Augen zu öffnen. Er fühlte sich desorientiert; frage sich, wo er war. Er lag auf einem Haufen Stroh am Boden, mit dem Gesicht nach unten, und seine Arme baumelten über seinem Kopf. Er hob sein Gesicht, wischte sich Sabber aus dem Mundwinkel und verspürte augenblicklich einen stechenden Schmerz in seinem Kopf, hinter seinen Augen. Es waren die schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens. Er erinnerte sich langsam an den letzten Abend, das Festmahl des Königs, das Gelage, seine erste Kostprobe von Bier. Der Raum drehte sich. Seine Kehle war trocken, und in dem Moment schwor er sich, nie wieder zu trinken.
Thor blickte sich um, versuchte, sich in der höhlenartigen Kaserne zurechtzufinden. Überall lagen Körper auf Strohhaufen, der Raum war von Schnarchen erfüllt; er drehte sich auf die andere Seite und fand Reece, wenige Fuß entfernt, genauso bewusstlos daliegen. Erst dann wurde ihm klar: er war in der Kaserne. Der Legionskaserne. Um ihn herum waren Jungen in seinem Alter, ungefähr fünfzig von ihnen.
Thor konnte sich vage erinnern, wie Reece ihm in den späten Morgenstunden den Weg gezeigt hatte, und wie er danach auf dem Strohhaufen zusammengebrochen war. Frühmorgendliches Licht kam durch die offenen Fenster herein und Thor bemerkte bald, dass er der einzige war, der bereits wach war. Er blickte an sich hinunter und stellte fest, dass er in seinen Kleidern geschlafen hatte. Er fuhr sich mit den Fingern durch das fettige Haar. Er würde alles geben für eine Gelegenheit, zu baden—nur hatte er keine Ahnung, wo. Und er würde alles geben für einen Krug Wasser. Sein Magen knurrte—er wollte auch essen.
Das alles war so neu für ihn. Er wusste kaum, wo er war, wo das Leben ihn als nächstes hinführen würde, was die Routinen in der Legion des Königs waren. Aber er war glücklich. Es war eine bezaubernde Nacht gewesen, eine der besten in seinem Leben. Er hatte in Reece einen engen Freund gefunden, und er hatte Gwendolyn ein oder zwei Mal dabei erwischt, wie sie zu ihm herübersah. Er hatte versucht, mit ihr zu sprechen, doch jedes Mal, wenn er sich ihr näherte, ging ihm der Mut aus. Er verspürte einen Anflug von Bedauern, als er darüber nachdachte. Es waren zu viele Leute um sie herum gewesen. Wenn es jemals nur sie beide wären, würde er den Mut aufbringen. Aber würde es ein nächstes Mal geben?
Bevor Thor den Gedanken zu Ende bringen konnte, ertönte ein plötzliches Klopfen an der Holztür der Kaserne. Einen Augenblick später flog sie auf, und Licht flutete den Raum.
„Auf die Beine, Knappen!“, schrie jemand.
Herein marschierten ein Dutzend der Silbernen des Königs in klirrenden Kettenrüstungen und klopften mit Metallstäben an die hölzernen Wände. Der Lärm war ohrenbetäubend, und rund um Thor herum sprangen die anderen Jungen auf.
Der Anführer der Gruppe war ein besonders grimmig aussehender Soldat, den Thor aus der Arena vom Vortag her erkannte—der Stämmige mit der Glatze und der Narbe auf der Nase, von dem Reece ihm gesagt hatte, dass er Kolk hieß.
Er schien es genau auf Thor abgesehen zu haben, als er einen Finger hob und auf ihn zeigte.
„Du da, Junge!“, schrie er. „Ich sagte, auf die Beine!“
Thor war verwirrt. Aber er stand doch bereits.
„Aber ich bin bereits auf den Beinen, Herr“, antwortete Thor.
Kolk trat vor und zog Thor den Handrücken übers Gesicht. Die Demütigung brannte in Thor, während alle Augen auf ihn gerichtet waren.
„Sprich nie wieder so mit deinem Vorgesetzten!“, rügte Kolk.
Bevor Thor antworten konnte, zogen die Männer weiter durch den Raum, zerrten einen Jungen nach dem anderen auf die Füße, traten manchen in die Rippen, wenn sie zu langsam waren.
„Keine Sorge“, kam eine ermutigende Stimme.
Er drehte sich um und sah Reece neben sich stehen.
„Es ist nicht persönlich gegen dich gerichtet. Das ist nur ihre Art. Ihre Art, uns kleinzukriegen.“
„Aber mit dir haben sie das nicht gemacht“, sagte Thor.
„Natürlich nicht; die würden mich nicht anrühren, wegen meines Vaters. Aber höflich sind sie auch nicht gerade. Immerhin wollen sie uns in Form bringen. Sie denken, das hier macht uns härter. Mach dir nicht allzu viel daraus.“
Die Jungen wurden allesamt aus der Kaserne verfrachtet und Thor und Reece fielen mit ein. Als sie nach draußen traten, traf Thor das grelle Sonnenlicht, und er kniff die Augen zusammen und hielt die Hand vors Gesicht. Plötzlich überkam ihn eine Welle von Übelkeit, und er drehte sich um, beugte sich vornüber, und übergab sich.
Er konnte die Jungen um ihn herum kichern hören. Eine Wache gab ihm einen Stoß und Thor stolperte vorwärts, zurück in die Reihe mit den anderen, und wischte sich den Mund ab. Thor hatte sich noch nie so elend gefühlt.
Neben ihm grinste Reece.
„Harte Nacht, wie?“, fragte er Thor mit einem breiten Grinsen und stupste ihm den Ellbogen in die Rippen. „Ich habe dich gewarnt, nach dem zweiten Kelch aufzuhören.“
Thor war schlecht, als die Sonne in seine Augen stach; sie hatte sich noch nie so kräftig angefühlt wie heute. Es war jetzt schon ein heißer Tag, und er konnte spüren, wie sich Schweißtropfen unter seiner Lederrüstung bildeten.
Thor versuchte, sich an Reeces Warnung vom Vorabend zurückzuerinnern—doch er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern.
„Ich kann mich an keinen derartigen Ratschlag erinnern“, gab Thor zurück.
Reece grinste noch breiter. „Eben. Das liegt daran, dass du ihn nicht beachtet hast.“ Reece schmunzelte. „Und diese unbeholfenen Versuche, mit meiner Schwester zu sprechen“, setzte er hinzu. „Es war einfach nur armselig. Ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben je einen Jungen erlebt habe, der sich so vor einem Mädchen gefürchtet hat.“
Thor errötete, als er versuchte, sich zu erinnern. Aber es gelang ihm nicht. Alles war so verschleiert.
„Ich möchte dir nicht zu nahe treten“, sagte Thor. „Wegen deiner Schwester.“
„Du kannst mir nicht zu nahe treten. Wenn sie dich auserwählen sollte, wäre ich begeistert.“
Die beiden marschierten schneller, als die Gruppe einen Hügel hinaufkam. Die Sonne schien mit jedem Schritt stärker zu werden.
„Aber ich muss dich warnen: jede Hand im Königreich will um ihre anhalten. Die Chancen, dass sie dich wählen sollte... nun, sagen wir einfach, sie sind gering.“
Als sie zunehmend schneller durch die weiten grünen Hügel von Königshof marschierten, fühlte sich Thor beruhigt. Er fühlte sich von Reece akzeptiert. Es war verblüffend, aber er fühlte nach wie vor, dass Reece mehr ein Bruder für ihn war, als er je einen gehabt hatte. Während sie voranschritten, bemerkte Thor seine drei richtigen Brüder, die in der Nähe marschierten. Einer von ihnen drehte sich um und warf ihm einen finsteren Blick zu, dann stupste er seinen anderen Bruder an, der ihm ein spöttisches Grinsen schickte. Sie schüttelten ihre Köpfe und wandten sich ab. Sie hatten nicht einmal ein nettes Wort für Thor übrig. Aber er hatte kaum etwas anderes erwartet.
„In Reihe aufstellen, Legion! Sofort!“
Thor blickte auf und sah, wie sich noch weitere der Silbernen um sie scharten und die Fünfzig von ihnen in eine enge Zweierreihe drängten. Ein Mann kam von hinten heran und schlug den Jungen, der vor Thor stand, mit einem langen Bambus-Stab, den er ihm fest auf den Rücken schnalzte; der Junge schrie auf und rückte enger in die Reihe. Bald waren sie in zwei ordentlichen Reihen formiert und marschierten stetig durch die Ländereien des Königs.
„Wenn ihr in die Schlacht zieht, marschiert ihr als Einheit!“, rief Kolk aus, der an der Kolonne entlang auf und ab lief. „Dies ist nicht der Hintergarten eurer Mutter. Ihr marschiert in den Krieg!“
Thor marschierte weiter und weiter neben Reece her, schwitzte in der Sonne und fragte sich, wohin sie wohl geführt wurden. Sein Magen war immer noch vom Bier beleidigt, und er fragte sich, wann er Frühstück bekommen würde, oder etwas zu trinken. Wieder einmal verfluchte er sich selbst dafür, am Abend zuvor getrunken zu haben.
Sie marschierten über die Hügel, unter einem gewölbten Steinbogen hindurch, und erreichten schließlich die umliegenden Felder. Sie passierten ein weiteres gewölbtes Steintor und betraten eine Art Kolosseum. Der Trainingsplatz der Legion.
Vor ihnen standen allerlei Zielscheiben für das Speerwerfen, Pfeilschießen und Steinschleudern, sowie auch Ballen von Stroh, an denen man Schwerthiebe üben konnte. Thors Herz schlug bei diesem Anblick höher. Er wollte loslegen, die Waffen benutzen, trainieren.
Doch als Thor sich gerade zum Trainingsbereich aufmachen wollte, wurde er plötzlich von hinten in die Rippen gestoßen, und eine kleine Gruppe von sechs Jungen, die meisten von ihnen jünger, wie Thor, wurden von der Hauptreihe weggetrieben. Er stellte fest, dass er von Reece getrennt worden war und auf die andere Seite des Platzes geführt wurde.
„Ihr denkt also, ihr werdet trainieren?“, fragte Kolk höhnisch, als sie sich von den anderen trennten und von den Zielscheiben entfernten. „Ihr seid heute mit Pferden dran.“
Thor blickte hoch und erkannte, wohin sie unterwegs waren: auf der entfernten Seite des Feldes liefen mehrere Pferde umher. Kolk warf ihm ein boshaftes Lächeln zu.
„Während die anderen Speere schleudern und Schwerter schwingen, werdet ihr heute die Pferde versorgen und ausmisten. Irgendwo müssen wir alle mal anfangen. Willkommen in der Legion.“
Thors Herz sank. So hatte er sich das aber gar nicht vorgestellt.
„Du denkst, du bist was Besonderes, Junge?“, fragte Kolk, der hinter ihm herankam und seinem Gesicht ganz nahe kam. Thor konnte fühlen, dass er versuchte, ihn kleinzukriegen. „Dass der König und sein Sohn dich so gerne haben, bedeutet mir einen Dreck. Du unterstehst jetzt meinem Kommando. Verstehst du? Es ist mir egal, welche tollen Tricks du am Turnierplatz aus dem Ärmel geschüttelt hast. Du bist nur ein weiterer kleiner Junge. Hast du mich verstanden?“
Thor schluckte. Ihm stand eine harte, harte Trainingszeit bevor.
Um es noch schlimmer zu machen: sobald Kolk sich wegbewegt hatte, um jemand anderen zu quälen, drehte sich der Junge vor Thor, ein kleingewachsener, stämmiger Bursche mit einer flachen Nase, zu ihm um und fauchte ihn an.
„Du gehörst nicht hierher“, sagte er. „Du hast dich hereingeschummelt. Du wurdest nicht ausgewählt. Du bist keiner von uns. Nicht wirklich. Niemand hier kann dich leiden.“
Der Junge neben ihm drehte sich ebenfalls zu Thor um und fauchte.
„Wir werden alles tun, damit du durchfällst“, sagte er. „Dazustoßen ist leicht, im Gegensatz zum Dabeibleiben.“
Thor wich vor ihrem Hass zurück. Er konnte nicht glauben, dass er jetzt schon Feinde hatte, und er verstand nicht, was er getan hatte, um das zu verdienen. Alles, was er je wollte, war, zur Legion zu gehören.
„Warum kümmert ihr euch nicht um eure eigenen Angelegenheiten?“, kam eine Stimme.
Thor blickte hinüber und sah einen großen, schmalen Jungen mit rotem Haar, Sommersprossen im Gesicht und kleinen, grünen Augen, der ihn in Schutz nahm. „Ihr zwei steckt hier beim Schaufeln fest wie wir anderen auch“, setzte er nach. „Ihr seid auch nicht so besonders. Geht und quält jemand anderen.“
„Kümmere du dich um deine Angelegenheiten, Lakai“, schoss einer der Jungen zurück, „oder du kommst auch auf unsere Liste.“
„Versuchs doch“, schnauzte der Rotschopf.
„Ihr sprecht dann, wenn ich es euch sage“, schrie Kolk einen der Jungen an und knallte ihm kräftig eine auf den Kopf. Die beiden Jungen vor Thor drehten sich dadurch zum Glück wieder nach vorne.