Kitabı oku: «Wo die wilden Maden graben», sayfa 4
6.
Die Interviewerin kichert, als ich ihr antworte, was mir das Lied bedeutet, und dass der Text so groß ist, dass ich mich letztens, als ich ihn mal wieder gehört habe, selbst gefragt habe, wie ich das bloß hingekriegt habe. Sie verzieht den Mund zu einem Jetzthaust-du-aber-ganz-schön-auf-die-Kacke-Blick, dabei hat sie mich selbst danach gefragt. Sie fragt mich was, und ich versuche, ihr eine ehrliche Antwort darauf zu geben. Was erwartet sie denn, etwa, dass ich mich selbst kleiner mache, als ich mich fühle?
»Ach, weißt du, der Text soll Heimatlosigkeit ausdrücken, aber als ich ihn schrieb, war ich gerade damit beschäftigt, meine Grafikdesignprüfung abzulegen und hatte nicht genug Zeit, den Song so richtig perfekt zu machen.« Wäre es das, was sie »sympathisch« nennen würde? Ich kann ihre Gedanken lesen: Sie denkt, ich will provozieren, den Liam Gallagher spielen oder so was. Aber Provokation ist mir scheißegal. Liam Gallagher sowieso.
»Du scheinst ja ganz schön von dir überzeugt zu sein!«
Mit »von dir überzeugt« meint sie »von deiner Band/Musik/Kunst überzeugt«. Ich ignoriere diese Vereinfachung und sage:
»Ja«, und ich denke dazu: ja, was denn sonst! Zu welchem Zweck sollte ich das alles sonst seit über zwölf Jahren machen? Fürs Geld vielleicht? – Dann könnte ich mich besser wieder in die Hotline setzen, oder hätte von Anfang an einen Beruf erlernen sollen, mit regelmäßigem Einkommen und einem Minimum an Sicherheit, Sozialleistungen, Rente.
Für den Erfolg? – Na ja, es wäre definitiv kein Problem, ein paar Songs aus dem Ärmel zu schütteln, die in das derzeitige Deutschrock-Konsens-Schema passen und damit eine wesentlich höhere Chartstauglichkeit hätten als der Zwischen-den-Stühlen-Kram, den wir machen.
Oder etwa für das Rockstargefühl? – Da bräuchte ich nur ein paar ätzende Stadionrockansagen in die Show einzubauen, ein nicht geringer Anteil des Publikums wartet ja nur darauf, sich von den Typen auf der Bühne dirigieren zu lassen. »Seid ihr alle gut drauf?«, »Und jetzt alle die Hände in die Luft!«, »Ihr seid das beste Publikum das wir je …« und das ganze Pipapo.
Aber das interessiert mich alles nicht. Wir sind schließlich eine Band, kein Dienstleistungsunternehmen. Ja, ich will Erfolg, aber nur mit dem, was ich mache und woran ich glaube. Ich glaube an das Besondere in meiner Band. Scheiß auf das unausgesprochene Gesetz, dass man gefälligst bescheiden sein soll. Ich bin stolz und ich werde einen Teufel tun, das zu verstecken. Wenn ich mir eine Band angucke und nicht das Gefühl habe, dass sie brennen für das, was sie tun, dann können sie noch so gut spielen, sie werden mich nicht berühren. Scheiß auf Technik. Scheiß auf Musikstile. Scheiß auf falsche Bescheidenheit.
Es ist schade, dass sie mich nicht versteht. Schade, dass der Glaube an die eigene Kunst so oft mit Arroganz gleichgesetzt wird. Mit Hochnäsigkeit. Doch damit muss ich mich abfinden, denn so ist es immer gewesen. Die Interviewerin ist freundlich, also gibt es keinen Grund für mich, unfreundlich zu sein. Ich muss mich von der Vorstellung lösen, mich immer erklären zu können. Das geht zu oft nach hinten los. Ich kann nur versuchen, so geradeaus und ehrlich zu sein, wie es geht, und entweder, ich werde verstanden, oder nicht. Also soll sie mit meiner Antwort machen, was sie will. Und die Menschen in den Gästebüchern und Foren dieser Welt sowieso.
Ich schweife ab. Ich höre ihr nicht mehr zu.
»… Festivals oder doch lieber Clubshows?«
»Äh, wie bitte? Tschuldigung, ich hab die Frage nicht mitbekommen.«
»Spielt ihr lieber Festivals oder doch lieber Clubshows?«
»Ja, also, da habe ich keine Meinung zu.«
Seit über zwei Jahren sitzt du in dieser Hotline und erzählst aufgeregten Menschen, dass sie erstmal für fünfzehn Minuten den Stromstecker ihrer ISDN-Anlage ziehen und sich dann wieder melden sollen. Manchmal auch Sinnvolleres. Seit über zwei Jahren fragst du dich, was du hier überhaupt machst. Warum haben die dich überhaupt eingestellt in dieser technischen Kundenbetreuung, eine größere Technikniete als dich kannst du dir gar nicht vorstellen. Du bist unbeholfen und uninteressiert. Du bist ein Fachidiot mit ein bisschen angelerntem Basiswissen, der bei spezielleren Fragen ständig im Backoffice anrufen muss, um sich bei der Hilfe helfen zu lassen. Du bist faul und unkommunikativ. Die Leute aber sind zufrieden mit dir. Sie sagen, du hättest eine beruhigende Stimme. Dabei bist du der unruhigste Mensch, den du kennst. Sie sagen, kaum jemand sei so geduldig und freundlich am Telefon. Das sind zwar Eigenschaften, die du gerne magst, aber noch nie hat jemand gesagt, dass sie auf dich zutreffen.
Da deine Kunst eine brotlose ist, du aber nichts anderes machen willst als Musik, bist du auf Nebenjobs angewiesen. Du hattest Dutzende davon. Die meisten in irgendwelchen Lagern: Kisten schleppen, Ware kommissionieren, Kartons packen, Regale auffüllen, Bestände zählen. Große Firmen, kleine Firmen, Jobs in riesigen Hallen, auf dem Dachboden eines Bauernhofes, in Kühlhäusern, einmal sogar im Tiefkühlbereich eines Supermarkts. Das ist stumpfe, eintönige Arbeit, im Großen und Ganzen aber besser als diese Büroscheiße hier. Nur kann man sich bei Lagerjobs die Arbeitszeit nicht so flexibel einteilen, da muss man die Schichten durchziehen. Vierzig Stunden pro Woche, ein paar Wochen lang, bis genug Geld zusammen ist, um wieder eine Weile damit auszukommen. Das ist mit dem Musikmachen nur schwer vereinbar, deswegen musst du bei diesem Job bleiben.
Die Rückkehr zum Bürojob nach einer Tour ist das Schwierigste. Seit Sonntag seid ihr wieder da. Es waren nur zehn Tage, aber das reicht, um dir das Gefühl zu geben, aus einem anderen Universum zurückzukommen. Touraction versus Hotlinetelefonie: Du kannst dir keinen größeren Gegensatz vorstellen. Zwei freie Tage hast du dir gegönnt, jetzt sitzt du wieder hier. Irgendwo muss das Geld ja herkommen, schließlich hast du zwei Wochen lang nichts verdient, von den hundertfünfzig Euro Taschengeld, die ihr euch am Sonntag aus der Bandkasse ausgezahlt habt, mal abgesehen.
Du beklagst dich nie. Nicht vor anderen. Wenn du mit deiner Mutter telefonierst und sie dich fragt, wie du über die Runden kommst, sagst du, dass alles gut läuft und sie sich keine Sorgen machen soll. Unabhängigkeit ist wichtiger als Geld. Du hast einen ausgeprägten Hang zum stillen Leiden. Vor dir selbst kannst du jammern, du kannst dich in deinem Selbstmitleid suhlen, und du hast eine rege Phantasie, die dir dabei hilft. Aber du willst nicht anderen damit auf die Nerven fallen. Als hättest du in dir drin eine Klagemauer, die verhindert, dass etwas davon nach draußen dringt. Oh, der Gedanke gefällt dir. Er ist dumm aber schön. Wer das hier liest, ist selbst schuld. Wie damals in der Schule: »Wer das hier liest ist doof«, mit Edding auf die Pulte geschmiert. Und gleich daneben: »Edding 2000 grüßt alle Putzfrauen«. Du musst lachen, wenn du dran denkst.
Der Raum ist in kleine Parzellen aufgeteilt und in jeder sitzt ein »Call Agent« mit einem Headset auf dem Kopf vor seinem Computer und nimmt Anrufe entgegen. Du schreibst und liest und schreibst und liest in deiner Parzelle. Du hasst alle, die bei dieser Hotline anrufen und dich beim Schreiben und Lesen stören, aber im selben Moment empfindest du Mitleid mit ihnen. Sie werden schamlos abgezogen und ausgequetscht von diesem Konzern, daher versuchst du, ihnen zu helfen, wenn sie schon mal dran sind. Du berechnest zum Beispiel nicht das, was du berechnen müsstest. Gegenüber Frauen bist du besonders aufmerksam und nett, weil auch die meisten Frauen besonders aufmerksam und nett sind.
Eine Reihe weiter reden sie über dich. Du merkst es an den Blicken im Nacken. Es ist Mittag, und da ist wenig los. Keine übervollen Warteschleifen, sondern nur alle paar Minuten mal ein Anruf. Die meisten deiner Mitarbeiter sind davon unterfordert. Sie wissen nichts mit sich anzufangen. Klopfen öde Sprüche, spielen sich flache Bälle zu. Jeder Wurf ein Treffer. Sie turteln und scherzen. Erzählen langweiliges Zeug über sich selbst und wie geil sie drauf sind. Pöbeln sich lässig an und machen sich tote Komplimente.
Das schlimmste, was ein Mensch mit seinem Mund machen kann, ist das Wort »Okay« auszusprechen, wie es geschrieben wird. Also nicht englisch, sondern wie der Vorname Kai. »Oh Kai«. Man hört es hier am laufenden Band. Statt »Ich auch«, oder »Mir gehts genauso«, sagt man »Dito«, mit langem iiii, und statt »Was hast du denn gedacht?«, oder »Spinnst du!«: »Ha-llooo?«
Jetzt tuscheln sie über den Eigenbrötler, der da gekrümmt über seiner Chinakladde sitzt und schreibt. Du hast ein Buch aufgeschlagen vor dir. Ab und zu blickst du vom Schreiben auf und tust so, als würdest du im Buch etwas ablesen, damit es ein wenig nach Recherchen fürs Studium oder ähnlicher Arbeit aussieht. Mit aller Kraft willst du vermeiden, dass dich jemand auf das Schreiben anspricht.
Eine tut es: »Was schreibst du denn da? Tagebuch?«
Dir wird heiß. Du lächelst. »Ja, so ähnlich, also. So dies und das, irgendwie.« Sie strahlt dich an. Du glaubst, sie findet es »süß« und »sensibel« von dir, dass du Tagebuch schreibst. Du fragst sie schnell irgendwas.
»Sag mal, weißt du zufällig, wann es die Schichtpläne für nächsten Monat gibt?« Du hörst nicht zu, als sie dir antwortet. Murmelst leise »Hmm« und »Ach so« in deinen Bart.
Du versuchst, freundlich zu sein. Du bewunderst sie; sie ist nett, sie interessiert sich für dich. Es ist natürlich oberflächliches Interesse, vielleicht nur Neugier, aber immerhin – du bist nicht mal dazu in der Lage. Du wärst auch gerne nett. Dein Leben lang wolltest du deinen Mitmenschen beweisen, dass du kein Arschloch bist. Eine einzige Quälerei. Sinnlos und brutal.
Langsam verebbt das Gespräch. Du bist erleichtert, als du einen Anruf reinbekommst und dich guten Gewissens von ihr wegdrehen kannst.
»Hier spricht Rita Mangelkrämer. Ich weiß nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin, ich hab Probleme mit meinem Telefon, da klingelt gar nichts mehr und die Leute rufen schon auf dem Handy an und fragen, wieso bei mir immer besetzt ist! Also das ist offenbar schon seit Stunden so, ich hab das gar nicht bemerkt, das geht ja auch nicht, ich bin ja hier im Geschäft, ich muss ja erreichbar sein! Ist das eine Störung oder so? Bei meinem Nachbarn gehts, der hat aber auch nicht dieses ISD – …, dieses eine da mit den mehreren Leitungen!«
Ein guter Anruf. Mangelkrämer, was für ein geiler Name! Du notierst ihn in deinem Buch. Den kannst du bestimmt noch zu irgendwas gebrauchen.
»Frau Mangelkrämer, da brauch ich zunächst mal Ihre Rufnummer.«
Sie gibt dir eine Nummer ohne Vorwahl.
»Frau Mangelkrämer, gehe ich recht in der Annahme, dass sie aus Berlin anrufen?«
»Ja natürlich, äh, woher wissen Sie das, sehen Sie das an meiner Telefonnummer?«
Du denkst: Nein, aber Menschen aus Berlin geben grundsätzlich nie ihre Vorwahl an, weil sie denken, Berlin wäre das Zentrum der Welt und alle hätten dieselbe Vorwahl, und sagst:
»So ist es, Frau Mangelkrämer.«
Der DJ gibt sich wirklich Mühe, die Songauswahl ist aushaltbar, aber niemand tanzt. Auch wir sitzen nur an unseren Tischen und klopfen hier und da einen Takt auf unseren Gläsern mit. Gut, dass ich abgesagt habe, als die Tourneeleitung mich gefragt hat, ob ich heute hier auflegen will. Der Veranstalter hatte das angeboten, aber ich habe dankend abgelehnt, weil ich von den letzten Tagen einigermaßen müde und schlapp bin. Außerdem habe ich damit auf früheren Touren keine guten Erfahrungen gemacht.
Einmal sind wir nach einem Auftritt extra noch zu einer Disco gefahren, unsere Promoagentur hatte uns dort einen Gast-DJ-Auftritt klargemacht. Bereits am Eingang schwante mir Böses, denn die Hälfte der Besucher trug schwarz, überall Lack und Leder, blutrünstige T-Shirt-Aufdrucke und geschminkte Gesichter. Aus den Boxen dröhnte so genannter Nu Metal, die vielleicht schlimmste Musik, die die Welt je gehört hat. Ich wurde dem DJ vorgestellt, der recht kurz angebunden war. Er hatte offensichtlich nicht so richtig Bock auf die Unterbrechung durch mich. In meiner CD-Mappe befanden sich Dinosaur Jr, Elliott Smith, Marvin Gaye, Blondie, Monochrome und Zoot Woman. Mit dieser Musik hätte ich mir dort einige Feinde gemacht, also suchte ich in den hauseigenen CDs nach erträglichen Kompromissen. Als ich ein paar Sachen zusammen hatte fragte der DJ, welches mein erstes Stück wäre.
»AC/DC, ›Whole Lotta Rosie‹«, antwortete ich.
»Oh, das ist aber gewagt, die Leute stehen hier eigentlich auf harte Musik!«, meinte er.
Wenn du wüsstest, dass ich nicht ansatzweise so was »Hartes« dabei habe, dachte ich. Und überhaupt widerstrebt es mir, Musik mit solch dümmlichen Etiketten zu versehen. Marvin Gaye war mit Sicherheit zehn mal härter drauf als die ganzen pathetischen Waschlappen, die hier auf dem Dancefloor zu auf C gestimmten Computergitarren ihre frischgefönten Matten schwingen. Ich fing also mit AC/DC an. Von ein paar Altrockern abgesehen kannte das offenbar niemand. Die Tanzfläche war und blieb leer. Ich quälte mich durch dreißig Minuten Gitarrenmusik und signalisierte dann dem DJ, dass ich noch zwei Songs spielen und anschließend wieder an ihn übergeben würde. Er schien erleichtert. Ich auch. Meine Bandkollegen standen an der Bar und tranken Bier. Als vorletzten Song spielte ich »New Noise« von Refused. Die Tanzfläche war mit einem Mal komplett voll, die Leute gingen total ab. Plötzlich stürmte der DJ wutentbrannt in die Kanzel und schrie mich an, was ich mir denn dabei gedacht hätte, diesen Song aufzulegen, das sei sein Prime-Time-Smasher, der gehöre mit ganz bestimmten anderen Songs von Slipknot und Marilyn Manson zusammen. Ich hätte ihm sein Set total versaut. Ich zuckte nur mit den Schultern und ließ ihn stehen. Mein als letztes geplanter Blackmail-Song kam nicht mehr zum Einsatz, weil der DJ hektisch nach dem einzig wahren Refused-Anschluss suchte. An der Bar meinten die anderen, sie würden jetzt gerne gehen. Die drei Getränkebons, die wir pro Person bekommen hatten, waren auch längst weg. Was für ein Scheißladen.
Seitdem habe ich nicht mehr so richtig Bock. DJ zu sein, ist doch auch ein mieser Job. Reine Dienstleistung. Sobald man die Leute mal zum Tanzen gebracht hat, ist man Sklave ihres eingeschränkten Musikgeschmacks oder eines wie auch immer gelagerten Common Sense. Die Kreativität der meisten DJs orientiert sich am kleinsten gemeinsamen Nenner ihres Publikums, und ich kann ihnen das nicht mal verübeln. Bei elektronischer Musik mag das ja anders sein, aber ich möchte mit keinem Popoder Rock-DJ der Welt tauschen. Mir fehlt auch der missionarische Eifer, die Leute zu »guter Musik« erziehen zu wollen. Einem Menschen, der sich freiwillig Korn oder Nickelback als Soundtrack zu seinem Leben aussucht, habe ich nun mal nicht viel mitzuteilen.
Meine Entscheidung, heute nicht aufzulegen, ist eine gute Entscheidung. Und eine Runde Mitleid mit dem Typen, der sich da oben abmüht und keinerlei Reaktion erntet.
Die Stimmung unter uns ist etwas gereizt. Heute haben wir uns häufig angezickt. Alle sind etwas erschöpft, das passiert oft nach einigen Tagen auf Tour. Wir befinden uns gerade in der kurzen Zeitspanne, wo die erste Tour-Euphorie verflogen ist, sich der Tour-Flow aber noch nicht eingestellt hat. »Tourkoller« wird das oft genannt. Eine latente Gereiztheit liegt in der Luft.
Aus dem Getränkekarton im Bus wird eine Flasche Whiskey angeschleppt. Je langweiliger der Abend, desto mehr scheinen Manche aus der Band es wissen zu wollen. Wir teilen uns auf. Die eine Hälfte fährt mit dem Sprinter zum Hotel, wer noch bleiben will, kommt später mit dem Taxi hinterher. Ich weiß nicht, was ich will, aber Simon will noch hier bleiben. Das erleichtert meine Entscheidung, mit zum Hotel zu fahren, denn Simon und ich haben ein Zimmer zusammen, das ich somit noch für eine Weile alleine habe. Zum Fernsehen, zum an mir Rumspielen, oder zum einfach nur mal so alleine sein.
»Sollen wir los?«
»Wir warten noch auf Mario, der Trottel hat mal wieder sein Handy irgendwo liegen lassen.«
»Oh Mann, der soll mal einheizen, ich will ins Bett!«
7.
»Ey Tourneeleitung, wann müssen wir morgen früh los?«
»Zehn Uhr.«
»Warum so früh?«
»Schikane.«
Das war gestern Abend, und wir haben uns bepisst vor Lachen. Der Ton hier ist rau. Hart aber unherzlich, sozusagen. Außenstehende halten uns für irre Arschlöcher, die sich nicht für zehn Cent leiden können, und manchmal sind wir das auch.
»Quarz mal nicht so in meine Richtung!«
»Ich schlag gleich in deine Richtung, du Penner.«
Besonders derbe Anmachen werden mit großem Gelächter belohnt. Genüsslich zieht man über die Schwächen des anderen her. Es gibt eine Art demokratische Verteilung dabei, jeder ist mal dran, und wer sich die Blöße gibt, allzu eingeschnappt auf eine Anmache zu reagieren, muss damit rechnen, dass von nun an ständig darauf rumgeritten wird. Als ich vor zwei oder drei Jahren mal innerhalb weniger Monate ein paar Kilo zugenommen hatte, begann Mario, mich »der Dicke« zu nennen. Hätte ich mich damals nicht so darüber aufgeregt, wäre das sicher recht schnell im Sande verlaufen. Jetzt aber nennen mich die Typen in meiner Band immer noch ab und zu so. Jedes Mal könnte ich Mario dafür eine reinhauen, darf mir das aber nicht anmerken lassen.
Von der Tourneeleitung wird der angewandte Reisegruppendarwinismus gutgeheißen. »Humpelnder Hase, wird schnell draufgehauen«, sagt er, und behauptet, das wäre ein bekanntes Sprichwort, wir seien nur alle zu blöd, es zu kennen.
Es gibt Allianzen und Koalitionen, die aber selten von Dauer sind. Man sucht sich bei einem Thema Verbündete, steht diesen unter Umständen aber beim nächsten Disput schon zähnefletschend gegenüber. Den harten Macker zu spielen und bloß keine Schwäche zu zeigen, ist die eine Variante. Ich mache es lieber andersrum und suche Unverwundbarkeit dadurch, dass ich all meine Schwächen offen lege und dadurch den anderen den Wind aus den Segeln nehme. Ich weiß nun mal nicht, in welche Richtung man ein Schloss aufschließt, und wenn es nicht eindeutig markiert ist, weiß ich nicht, wo bei einem Duschknauf das kalte und wo das warme Wasser ist. Ich bin ungeduldig, schnell genervt und ständig überreizt. Ich bin oft unverhältnismäßig hart in meinem Urteil und neige zur Übertreibung. Wenn ich mich für etwas begeistere, für einen Film, ein Buch oder einen Song, reagiere ich manchmal so euphorisch, dass meine Freunde nur noch augenrollend abwinken. Dasselbe passiert, wenn ich mit ganzem Körpereinsatz meine Abscheu über eine Person, eine Band oder eine Angewohnheit kundtue. Ich habe keine Ahnung von Technik oder Naturwissenschaften, Fußball oder Autos, kann schlecht schmecken und gar nicht riechen, und nach dem Essen habe ich ständig Spinatfäden oder Mohnkörner zwischen den Zähnen hängen. Meine Fürze klingen wie der Dieselmotor unseres früheren Bandbullis. Ich lache selbst am lautesten darüber. Dadurch, dass ich mich über mich selbst lustig mache, nehme ich den anderen den Spaß daran. Es klappt zwar nicht immer, aber wenigstens manchmal.
»Was gibts denn zu mampfen?«
»Auflauf, schmeckt gut!«
»Bah, Auflauf ist doch der letzte Scheiß! Jeder Idiot kann einen Haufen Unrat in eine Schüssel werfen und Käse drüber streuen. Aber du frisst ja eh nur Mist. Du hast überhaupt keine Ahnung von Essen!«
»Jaja, ist ja gut, musst nicht gleich so grantig werden.«
»Ich bin überhaupt nicht grantig!«
»Bist du wohl, die ganze Zeit schon. Diespasstmirnicht, daspasstmirnicht …«
»Ey, DU laberst mich doch die ganze Zeit so dumm von der Seite an! Du Arschloch!«
Schon seltsam, wie sehr man sich voneinander entfernt, wenn man so viel aufeinander hängt. Wir sind wie ein altes Ehepaar. Wir sehen uns jeden Tag, und doch kriegen wir zuweilen sehr wenig vom anderen mit, weil der Alltag uns weniger aufmerksam, weniger sensibel macht. Weil wir uns so sehr aneinander gewöhnt haben und es als selbstverständlich ansehen, die Zeit miteinander zu verbringen. Respekt und Achtung schwinden schnell, wenn man sich zu viel auf der Pelle hängt. Und hier hat schließlich keiner die Möglichkeit, mal einen Tag von den anderen frei zu nehmen. Wir sind immer die Band, das Kollektiv, und dem muss im Zweifel alles andere untergeordnet werden. Wer damit nicht klarkommt, hat auf so einer Tour nichts verloren. Um dem Ganzen wenigstens temporär entfliehen zu können, müssen wir uns kleine Nischen schaffen. Manchmal fühle ich mich schon deutlich entspannter, wenn ich nur mal eine Viertelstunde alleine auf dem Klo gesessen und dort geschrieben, gelesen oder auch nur die Wände angestarrt habe.
»Sag mal Werner, hast du dir die Haare blondiert?!«
»Ja, wieso, passt dir was nicht?«
»Sieht total behindert aus!«
»Das kommt ja vom Richtigen. Wie fühlt man sich eigentlich mit so einer Hitlerjugend-Memorial-Frisur?!«
»Na, immerhin trage ich keine scheißefarbenen Schuhe wie du.«
Eigentlich sind wir wirklich gute Freunde, ehrlich! »Was sich liebt, das neckt sich«, heißt eins von den Sprichwörtern, die man auch außerhalb von Tourneeleitungskreisen kennt, und da scheint was dran zu sein. Wir vergreifen uns beim Necken nur leider oft im Ton. Ich beschließe, dass wir wieder freundlicher zueinander sein, liebevoller miteinander umgehen müssen. Schließlich sind wir eine kleine Familie. Ohne unsere Freundschaft wären wir nur ein weiterer Verein, aneinandergebunden aus Zweck- oder Gewohnheitsgründen, nicht besser als Kaninchenzüchter, Fußballmannschaften oder die zerstrittenen Familien meiner Eltern. Ich muss einen Anlauf starten, ich muss das loswerden. Vielleicht später, oder morgen, jetzt ist auf jeden Fall nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Ich bin zu kaputt, und wir sind alle sauer, weil Dr. Menke und Kowalski derbe verpennt haben.
Wir sitzen auf dem Parkplatz vorm Hotel im Bus und warten. Die Tourneeleitung musste die beiden vor zehn Minuten regelrecht aus den Betten zerren. Sie haben sich wahrscheinlich noch die Nacht in der Nichtslosdisco mit literweise Großmaulsuppe (Whiskey-Cola) um die Ohren gehauen. Eine Fünfhundert-Kilometer-Fahrt liegt vor uns und wir haben keine Zeit zu verlieren. Der Langsamste bestimmt das Tempo, so einfach ist das. Der Langsamste ist hier nicht besonders beliebt. Als sie endlich ihre Taschen auf die Rückbank werfen und schuldbewusst schweigend einsteigen, starren alle genervt geradeaus. Werner sitzt am Steuer und versucht, die Stimmung aufzulockern.
»Hey, sollen wir uns nicht alle gegenseitig was zu Weihnachten schenken?«
»Halt die Schnauze und fahr los.«
Alle lachen über meine gelungene Gehässigkeit.
Du hast einen Kloß im Hals, als du deinen Großvater zum ersten Mal seit Jahren wiedersiehst. Er hat so oft nach dir gefragt, das hat man dir immer wieder erzählt. Als Kind hast du ganze Tage bei Opa und Oma verbracht. Wenn deine Mutter arbeiten war, oder an den Wochenenden. Immer wolltest du dort schlafen, immer war es toll bei ihnen. Du durftest viel länger aufbleiben als zu Hause, und der Vorrat an Schokolade war schier unerschöpflich. Und jetzt – Jahre ist es her, dass du ihn zuletzt getroffen hast. Deine Oma ist schon lange tot. Du wusstest, dass er heute hier sein würde, auf dieser Familienfeier, vor der du dich nach Jahren der Abstinenz nicht drücken konntest. Er spielt auf einem Keyboard, und du setzt dich dazu. Du glaubst zu erkennen, dass er seine Augen nur mit Mühe und Not trocken halten kann, als er dich anschaut. Ihr unterhaltet euch. Er versucht, die Fassung zu wahren, und du rechnest ihm das hoch an. Du gibst dir alle Mühe, versuchst lustig zu sein und charmant. Er fragt dich nach deiner Musik, und du erzählst ihm davon. Er bewundert deine Bescheidenheit, als du ihm erzählst, dass du kein Auto hast, kein Geld, keinen Urlaub und keine Aussicht auf irgendwas davon, und dass es dir trotzdem gut geht. Er hat vielleicht schon vor langer Zeit damit abgeschlossen, dass aus dir noch mal was Ordentliches wird, und nun respektiert er dich dafür, dass du überhaupt schon so lange durchgehalten hast.
»Gibt es nicht mehr oft, dass jemand so zufrieden und bescheiden ist.«
Er meint es ernst. Hieltest du dich nicht selbst immer für unzufrieden? Seltsames Gefühl, von einem Fünfundachtzigjährigen soviel Respekt entgegengebracht zu bekommen.
Er ist ein Lichtblick auf dieser Versammlung, und er geht viel zu früh. Du nimmst dir mal wieder so allerhand vor, regelmäßige Besuche und Anrufe, mehr Interesse, Geschenke, und kurz darauf lachst du dich selbst aus, weil du weißt, dass das ja doch wieder nichts wird. Du gehörst hier nicht hin, in diese Welt. Du bist nicht bereit dafür. Nicht bereit für die Geburtstagsfeierunterhaltungen. Nicht bereit für den Overload an Verwandtschaft. In dir verkrampft sich alles. Es ist beklemmend. Wie Ersticken. Du hast dich immer wie stranguliert gefühlt, an diesen langen öden grauen Sonntagnachmittagen als Kind, wo zwischen Kaffee und Kuchen und endlich, endlich Heimfahrt die Pflicht bestand, dir unangenehme Fragen von Onkels und Tanten und langweilige Spiele mit den doofen Cousinen gefallen zu lassen. Jetzt sitzen sie da. Nicht alle, nur ein paar, aber das reicht. Sie lassen sich nichts anmerken, verhalten sich, als sei es ganz normal, dass du plötzlich neben ihnen sitzt. Dennoch fühlst du dich beobachtet. Du kennst sie noch, hast sie aber Jahre nicht gesehen. Du willst sie auch nicht sehen. Als du fünfzehn warst, hast du dir gedacht, dass jeder von denen nach starker Hand und Arbeitslager schreit, wenn er euch Punks in der Stadt rumhängen sieht. Die wollten euch doch am liebsten alle vergasen. Diese Erkenntnis war für dich ein spitzen Vorwand, endlich mit gutem Gewissen alles abzubrechen. Und jetzt sitzt ihr hier zusammen, und sie geben sich Mühe, nett zu sein. Und nichts ist mehr schwarzweiß.
Die erwachsen gewordenen Gesichter von Cousins und Cousinen. Du verwechselst ihre Namen. Onkel und Tanten müssen erst von irgendwem angesprochen werden, bevor du sie wieder einordnen kannst. Manchmal ein Lachen oder ein Blick, der Erinnerungen wachruft. Dein Bruder hält dich auf dem Laufenden.
»Wo ist denn eigentlich Onkel Willi?«
»Ach, der kommt doch nicht. Hat sich doch schon vor Jahren mit Udo zerstritten, als sie versucht haben, dessen Ex-Frau um ihren Anteil am gemeinsamen Haus zu bescheißen. Seitdem reden sie kein Wort mehr miteinander. Wenn eine größere Familienfeier ansteht, gibt es immer genaue Sitzpläne, damit die beiden nicht an einem Tisch sitzen müssen.«
»Ach, stimmt ja, ganz vergessen.«
Du erinnerst dich: Hier sind alle untereinander zerstritten. Die Leichen im Keller stinken meilenweit gegen den Wind, aber nie verliert jemand ein Wort darüber. Alle wahren den Schein und verbringen den Nachmittag mit abgeschmackten Bemerkungen über dies und das.
»Jaja, komm du erstma anne sechzich«, sagt der eine.
»Du bis’ doch noch gar keine sechzig!«, entgegnet der andere.
»Anne sechzich hab ich gesagt. Anne sechzich! Ich bin mehr sechzich als wie fünfundfünfzich.«
»Mehr sechzig als wie fünfundfünfzig, da haste Recht, ja.«
»Mehr sechzich.«
»Ja.«
Schweigen.
»Ja, so is das alle.«
Schweigen. Dann, zur Tante: »Wie alt bist du gewesen?«
Tante: »Einundfünfzig. Ich werd jetzt zweiundfünfzig.«
»Mhm.«
»Ja.«
Schweigen.
»Ich mach das dunkle Hefeweizen lieber als wie das helle. Mach ich irgendwie lieber. Würziger ist das.«
»Ja?«
»Ja.«
Schweigen.
»Das is würziger, das Dunkle. Irgendwie.«
»Mhm.«
Du bist der stille Betrachter. Körperlich anwesend, geistig voll da, aber auf einem anderen Planeten. Weil du niemanden brüskieren willst, bist du gezwungen, ab und an Regungen zu zeigen. Ein Lächeln hier, ein Kommentar dort. Zum Glück blitzt und donnert es seit über einer Stunde, das gibt euch Gelegenheit, wenigstens ab und zu aufs Wetter zurückzukommen. Besser, als über Politik zu reden (»Die da oben machen doch sowieso, was sie wollen.« – »Ja, und wer muss das ausbaden? Der kleine Mann!« – »Richtig!«), oder über deine berufliche Zukunft (»Ist ja schön und gut, so ein Hobby zu haben, aber irgendwann muss man auch mal was Richtiges machen, meinst du nicht auch?!«), oder über Freisprecheinrichtungen fürs Handy, die übers Autoradio laufen.
»Gibt es bei eBay.«
»Bei eBay, da gibts alles. Alles gibts da!«
»Bist du auch da?«
»Ich bin da auch. Kannst du dein Butterbrot verkaufen, da bei eBay. Alles. Alles.«
»Ja. Wahnsinn.«
»Wahnsinn ist das, was du da alles kaufen kannst. Und verkaufen.«
»Mhm.«
»Ulla, hast du noch so ’ne Kaltschale!«
Ach, das ist doch der Hüskamp von drei Häuser weiter, der dich damals erwischt hat, als du mit den älteren Jungs aus der Nachbarschaft versucht hast, mit einer Schrotflinte Tauben abzuschießen. Der ist ja auch ganz schön alt geworden. Er winkt mit seiner Bierflasche, und alle lachen wegen seiner pfiffigen Ausdrucksweise. Ulla bringt ihm ein neues Bier. Alkohol ist der Stoff, der hier alles zusammenhält. Wie überall anders auch.
Du führst dein Glas schon mechanisch an den Mund. Kostest jeden Schluck voll aus. Du willst so wenig sprechen wie irgend möglich.
Und wie oft du heute schon aufs Klo gerannt bist! Sitzt einfach da auf der Klobrille und starrst die Regale an. Du hast hier mal gewohnt. Es sieht hier immer noch so aus wie vor fünfzehn Jahren. Glaubst du jedenfalls. Da draußen hinterm Haus hast du deine Kindheit verbracht. Zu der Zeit standen dort noch keine Häuser. Nur Wiesen, Felder, ein paar Pferde. Der Wald, in dem ihr Hütten gebaut habt. Die Maisfelder, in denen du zum ersten Mal geraucht hast. Seltsam, du kannst dich kaum dran erinnern. Du denkst an Fotoalben, und einiges fällt dir wieder ein. Aber das meiste ist weg, unwiderruflich gelöscht. Du vergisst alles, was du nicht aufschreibst. Vielleicht ist das die Begründung für deinen Wahn. Du willst schreiben, schreiben, schreiben. Auch jetzt. Aber du kannst dich doch nicht bei denen an den Tisch setzen und mitschreiben, was sie reden. Die würden dich für total bekloppt halten, und womit? – Mit Recht! Du bist ihnen ohnehin schon nicht geheuer.
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