Kitabı oku: «Dattans Erbe», sayfa 5

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„Man könnte sicherlich Einiges daraus machen, der Ausblick ist toll“, antwortete ich nicht allzu diplomatisch. Ich hatte keine Lust auf das ewige Süßholzraspeln, bei dem jeder wusste, dass der andere ihm etwas vorlog und trotzdem mitmachte. Mir ging Olga nicht aus dem Kopf, darüber wollte ich mehr erfahren.

„Wissen Sie, warum die Vormieterin ausgezogen ist? Kennen Sie sie vielleicht?“

Marina schaute etwas erschrocken auf. Gleichzeitig überspielte sie ihre Unruhe mit einer etwas zu schnell ausgesprochenen Floskel. „Heute die, morgen jene. Wenn ich mir das alles merken wollte, bräuchte ich einen Elefantenkopf.“

Ich wollte so schnell nicht aufgeben, denn heute Morgen hatte Marina erwähnt, dass Olga drei Jahre dort gewohnt hatte. Nichts Flüchtiges. „Olga, sie hieß Olga. Sie selbst haben mir doch in Ihrem Brief geschrieben, dass sie sehr lange dort gewohnt hat. Und jetzt wissen Sie plötzlich gar nichts von ihr?

Marina schaute nach unten. Das alles war ihr furchtbar unangenehm. Das Gespräch war damit beendet.

Eine Stunde später war ich wieder in meinem Block. Da ich nichts zu essen hatte, zog ich gleich wieder los. Kein zweites Mal wollte ich ohne Tee und Gebäck dastehen, wenn Tatjana käme. Gleich hinter unserem Haus gab es ein Lädchen, wo sich die Studenten mit Wodka, Zigaretten und den nötigsten Lebensmitteln eindeckten. Ich fand, was ich brauchte.

Mir gefiel der weitläufige Campus der Meeres-Universität, überall junge Leute – die Studenten mit ihren Freundinnen, grüppchenweise Matrosen, mal in blauer, mal in weißer Uniform. Mein erster Tag fern der Borneckerschen Obhut ging langsam zu Ende und ich fand, dass er gar nicht schlecht verlaufen war.

Regentin des Lesesaals

Die Lesesaalchefin schaute etwas desinteressiert von ihrem Buch auf. Offenbar hatte ich sie beim Lesen gestört.

„Ihren Passierschein bitte! Und“, sie zeigte auf eine aufgeschlagene Kladde an der Seite ihres Tisches, „tragen Sie sich ins Benutzerbuch ein.“ Sie verschwand in den Hinterraum, holte meine Akten und legte sie genau auf den Tisch, an dem ich vorgestern gesessen hatte. Dann ging sie wieder zu ihrem Platz und sagte fast lautlos: „So dringend scheint es ja doch nicht zu sein …“

Sollte ich darauf reagieren? War sie im Selbstgespräch? Wer wollte dabei schon ertappt werden? Natürlich war es kein Selbstgespräch, sondern ein Seitenhieb, weil ich gestern nicht da war. Ich musste was sagen, denn ich wollte nicht als faul oder unzuverlässig dastehen.

„Ich musste mich gestern um eine Unterkunft kümmern. Das hat sich hingezogen. Tut mir leid.“

Ljudmila saß mittlerweile wieder hinter ihrem Buch und schaute nur kurz auf. Ihr Blick galt jedoch nicht mir, sondern einem imaginären Punkt neben der Eingangstür. Diese gespielte Ignoranz … Ich wusste ganz genau, dass sie zu gern wüsste, was die Neue aus Deutschland zu berichten hatte. Aber auch ich konnte ignorant sein. Also setzte ich mich wortlos an meinen Tisch und begann zu blättern. Die Akten nahmen mich mit in eine andere Welt. Allein das steife Papier, die aufwendigen Briefbögen und die verschnörkelte, mit Federkiel zu Papier gebrachte Schrift, begeisterten mich. Man sah, dass dieser Art Korrespondenz eine hohe Wertschätzung entgegengebracht wurde. Trotzdem war es kompliziert, das alles zu entziffern. Ich war langsam, verstand fast nichts. Erst nach und nach fuchste ich mich ein. Und obwohl ich kaum etwas fand, das mich weiterbrachte, durchblätterte ich mit Vergnügen einen Folianten nach dem anderen. Notizen machte ich kaum welche. So saß ich bis zum Nachmittag da. Nur einmal ließ ich mir ein Findbuch geben, um neue Akten zu bestellen. Mir dämmerte, dass ich auf diese Weise das Tagebuch nie finden würde. Aber ich verstand mehr und mehr, worum es eigentlich ging. Adolph Dattan war jemand, der in der Bürgerschaft der Stadt einen zentralen Platz innehatte. Er war in unzähligen Gremien, engagierte sich für dieses und jenes, hatte Geld und Einfluss. Die dicken Bände verrieten, dass er angesehen war und die Geschicke der Stadt wesentlich mitbestimmte. Was er nicht alles gefördert hatte … Die Universität hätte es ohne sein Zutun sicher so nicht gegeben. Doch war er nicht nur geachtet, sondern auch beliebt. Die Menschen schätzten ihn – nicht nur seine Geschäftspartner, auch seine Mitarbeiter, ja sogar die Kunden.

Ljudmila schaute ab und an hinter ihrer Brille zu mir rüber, immer unauffällig, aber doch wachsam prüfend. Ich war ein Fremdkörper in diesem Lesesaal und sie wusste nicht, wie sie mit mir umgehen sollte. Eine Historikerin, die nichts aufschrieb, die nur blätterte, manchmal schmunzelte, zuweilen sogar lachte. Ja, einmal musste ich wirklich laut lachen. Dattan war zum Schweizer Honorarkonsul berufen worden und hatte zudem einen Verdienstorden erhalten. Nun befand er es als vordringliche Angelegenheit, die Gouvernementverwaltung über diesen Sachverhalt zu informieren, damit diese die Titel bei künftigen Einladungsschreiben bitte entsprechend verwenden möge.

Dass so jemandem von heute auf morgen fast alles genommen wurde, nicht nur der Besitz, sondern vor allem die Ehre, muss ein Schock gewesen sein. Einen kurzen Moment dachte ich an Olga. Auch sie hatte offenbar viel verloren, aber von ihr wusste ich noch viel weniger. Ich hing in Gedanken ihrer Geschichte nach, dann schaute ich wieder in die Akten. Nein, ich durfte mich nicht verzetteln. Nachher würde ich Tatjana sehen, vielleicht würde ich dann mehr erfahren.

Als ich meine Arbeit beendet hatte und die Akten zum Tisch brachte, kam ein kurzes: „Zurück?“. Ich wusste, dass das im Archiv ausgesprochene „Zurück?“ eigentlich ein: „ganz zurück, ins Depot?“ bedeutete. Keiner gab gern Akten „ganz zurück“. Man konnte nie wissen, ob nicht doch noch etwas nachgeschaut werden musste. Ich brauchte aber keine Nachschlagesicherheit und hatte deshalb zwei Stapel vorbereitet. Der Große links konnte ganz zurück, den Kleinen rechts wollte ich behalten.

„Ja.“

„Das alles hier soll zurück? Haben Sie das überhaupt sorgfältig gelesen? Sie hatten den Stapel gerade mal einen Tag. Ich bezweifle, dass Sie das hinreichend gründlich durchgearbeitet haben.“

Diese graue Maus ging mir schon jetzt auf den Geist. ‚Hinreichend gründlich …‘ Aber ich hatte das untrügliche Gefühl, dass es sie am meisten ärgern würde, wenn ich gar nicht erst darauf reagierte.

„Ich glaube schon“, sagte ich deshalb, lächelte sie an und nahm meinen Passierschein. Das heißt, ich wollte es, denn nun schlug die Regentin zurück.

„Erwähnten Sie nicht vorhin, dass Sie eine neue Adresse haben? Da müssen wir einen neuen Passierschein ausstellen.“ Oje, das konnte dauern …

Olgas Verschwinden

Um fünf klopfe ich wie verabredet bei Tatjana. Sie war zwar immer noch blass, wirkte aber nicht mehr ganz so niedergeschlagen wie gestern.

„Da sind Sie ja. Kommen Sie doch bitte herein, ich koche uns einen Tee. Ich habe Neuigkeiten. Stellen Sie sich nur vor, ich habe eine Postkarte von Olga bekommen. Genau heute, wenn das kein Zufall ist. Sie sind mein Glücksbringer! Olga hat geschrieben, dass es ihr gut geht und dass sie mir beizeiten alles erklären wird. Wo sie steckt, hat sie nicht erwähnt, aber schauen Sie mal auf den Stempel. Das ist doch etwas Asiatisches, oder? Entweder China, Japan oder Korea. Ist auch egal, Hauptsache sie lebt.“

Eigentlich wollten wir zu Wolodja runter, in seine Schatzkammer, und uns um die Streichutensilien kümmern. Stattdessen ging es gleich wieder nur um Olga. Leider.

„Wer war denn derjenige, der ihr so zugesetzt hat?“ Ich wollte das wissen, um hier nicht zufällig diesem Typen in die Arme zu laufen.

„Dimitrij. Dimitrij Ibraimowitsch. Er wohnt auf unserer Etage, ganz hinten in der 311.“

Ganz hinten … Ich wohnte in der 321. Wenn ich mir das genau besah, trennten uns nur vier oder fünf Wohnungen.

„Warum ist Olga nicht zur Polizei gegangen. Der Typ gehört doch hinter Gitter.“

Tatjana ließ die Schultern sinken und schaute nach unten. „Ja, da haben Sie recht. Aber bei uns, wer hört da schon auf das Klagen einer Frau? Auf der Wache hätten sie gesagt, wer seine Miete nicht allein zahlen kann, der muss sich eben das eine oder andere gefallen lassen. So sind die Männer. Wissen Sie, bei uns gibt es das Sprichwort ‚Wenn der Mann seine Frau schlägt, so liebt er sie.‘ Es ist nicht so selten, dass Frauen öfter mal eine übergezogen bekommen.“

Tatjana stockte.

„Aber das, was Dimitrij mit Olga angestellt hat, ist auch hier nicht normal, auch wenn wir Russen härter im Nehmen sind. Das Schlimme ist, dass es mitzubekommen war. Ich bin mir sicher, dass alle, die in dieser Etage wohnen, davon wussten. Auf den ersten Blick wirkte er schüchtern, fast zärtlich. Olga ist darauf reingefallen. Auch ich fand ihn toll. Am Anfang war es wie ein Rausch. Sie war wie im siebten Himmel. Endlich hatte sie jemanden gefunden, der sie vergötterte, der ihr zuhörte, der mit ihr lachte. Sie machten Pläne, wollten Kinder. Aber Dimitrij ist sehr eifersüchtig und – was anfangs keiner gesehen hatte – besitzergreifend. Es fing mit Kleinigkeiten an – ein Kinoabend mit ihren Freundinnen, der ihm nicht passte, ein Foto ihres ersten Freundes in ihrer Brieftasche, die Nachtschichten, die ihn störten. Olga erzählte mir davon und zog sich in ihre Wohnung zurück, die sie partout nicht aufgeben wollte. Später offenbarte sie mir, dass sie sich gar nicht zurückgezogen hatte, sondern von Dimitrij in seiner Wohnung festgehalten wurde. Wie ein Tier. Irgendwann wurde er gewalttätig. Zwar kam es nur alle paar Wochen zu einem Ausbruch, aber die Veilchen hätte ich nicht haben wollen. Olga kam zwei Mal mit geschwollenem Auge zu mir, ich hörte mir ihre Geschichten an und verarztete sie. Dimitrij sah ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Offenbar schien er allen aus dem Weg zu gehen, um sich nicht erklären zu müssen. Ich war es, die ihr riet, zu verschwinden, denn Dimitrij schien wie besessen. Olga hatte erzählt, dass er sie zum Schluss sogar ans Bett angebunden hatte.

Als sie dann tatsächlich verschwunden war, machte ich mir schreckliche Sorgen, auch weil Dimitrij plötzlich weg war. Vielleicht wusste er, wo sie steckte und war ihr gefolgt? Ich hatte das nicht sofort mitbekommen, weil ich Anfang August eine Woche bei meiner Tante in Chabarowsk war. Olga hatte mir dazu geraten. Ein paar Tage weg, das wäre doch mal etwas Besonderes. Ich hätte damals bemerken müssen, dass sie weg wollte. Sie hatte so ein sündhaft teures Kleid. Und bevor ich los bin zu meiner Tante, kam sie mit diesem Kleid rüber. Es war nicht irgendein Kleid, sondern eins von Prada. Olga hatte drei teure Kleider. Das war das schönste. ‚Hier Tanja, das ist für dich, mir ist es zu knapp geworden.‘ Das stimmte, sie hatte etwas zugelegt in den letzten Wochen, aber kein Grund, mir ihr bestes Stück zu schenken. Es war ihr Abschied, nur wusste ich nichts davon, ich verstand es erst viel später. Als ich wiederkam, merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Und dann kam diese SMS von ihr, sie sei weg. Ich bin sofort zu Dimitrij, aber auch er schien verschwunden zu sein. Ihn hatte ich ja ohnehin schon länger nicht gesehen. Ich habe das alles nicht verstanden. Er war kein Schlägertyp oder jemand, der zu tief in Glas guckt. Sonst hätte sich Olga nie darauf eingelassen. Sie hätte alle haben können. Wissen Sie, er hat hier an der Uni unterrichtet, war ein geachteter Forscher. Er hat Olga finanziell unterstützt, alles lief gut, aber irgendetwas hat ihn verrückt gemacht. Ich weiß nicht, was es war. Vielleicht, weil sie nicht schwanger wurde. Olga wollte zwar ein Kind, aber nicht jetzt, weil sie an einem wichtigen Projekt arbeitete, was sie erst abschließen wollte. Sie erzählte, dass er nicht locker ließ. Irgendwann war es kein Bitten und Drängen mehr, sondern Gewalt. Er hat es wieder und wieder versucht, aber Olga wurde einfach nicht schwanger. Ich riet ihr immer wieder, sich zu trennen, woanders hinzuziehen. Ich hatte ihr sogar angeboten mitzugehen, aber ich hatte keinen Erfolg. ‚Dimitrij ist mein Schicksal‘ hatte sie nur gesagt. Ich habe ihn seit Olgas Verschwinden auch nicht mehr gesehen.“

Es war schrecklich. Ich konnte ohnehin nie begreifen, wozu Männer fähig waren, aber dass nun ausgerechnet dort, wo ich wohnte, so ein Typ sein Unwesen hatte treiben müssen und keiner eingeschritten war, lähmte mich. Mir fiel auf, dass ich noch immer an die Tür gelehnt dastand. Ich hatte mich nicht einmal hingesetzt und trotzdem prasselte die volle Ladung auf mich ein. Das gestern schien nur das Präludium. Und schon das hatte mir gereicht.

„Wissen Sie, ob der Kerl einen Schlüssel von Olgas Wohnung hat?“ Mein Magen krampfte sich zusammen. Der Gedanke, dass er von unten Licht in meinem Zimmer sehen könnte, besessen nach oben eilte, um über die zurück geglaubte Olga herzufallen, behagte mir nicht gerade.

„Nein, machen Sie sich keine Sorgen. Die Schlösser hier sind sehr aufwendig, da kann man nicht so einfach einen Schlüssel nachmachen. Olga hatte nur den einen. Und den hat sie bei Wolodja unten versteckt, als sie verschwand. Und überhaupt. Es ist alles ganz friedlich, hier bei uns. Es tut mir so leid. Ich hätte Ihnen das alles gar nicht erzählen dürfen, es belastet Sie nur.“

Tatjana vergrub ihr Gesicht in den Händen und fing an zu weinen.

„Aber ich habe mir so große Vorwürfe gemacht, weil ich zugesehen habe. Ich hätte eingreifen müssen. Aber wie? Es war so schleichend, kaum zu bemerken. Außerdem hatte nur Olga mir das alles erzählt. Dimitrij grüßte mich weiter freundlich, schwatzte sorglos mit mir und den anderen Nachbarn. Kurz, er tat so, als ob nichts sei. Als die Veilchen hinzukamen, sah ich ihn nicht mehr. Aber was hätte ich auch sagen sollen? Es war eine schwierige Situation. Dimitrij war kein Schlägertyp. Wir wollten das nicht wahrhaben, wir alle wollten uns nicht getäuscht haben, nicht sehen, dass der großzügige Intellektuelle zum Tyrannen geworden war. Ja, so war das. Irgendwann war es zu spät. Aber hinterher ist man immer schlauer.“

Tatjana schnäuzte sich laut und rappelte sich auf.

„So, und jetzt ist Schluss mit dem Thema. Sonst denken Sie, dass wir Russen alle so sind. Ich habe uns bei Wolodja angekündigt, aber vorher erzählen Sie mir noch, was Sie hier machen. Das hatten wir das letzte Mal vergessen.“

Mir hatte es die Sprache verschlagen und ich musste mich kurz sammeln. Dann erzählte ich Tatjana vom Archiv, vom alten Bornecker und seinem Großvater und von dem Tagebuch, nach dem ich suchte. Sie saß wie gebannt vor mir, sagte kein Wort, sondern schenkte ab und zu Tee nach. Als ich mit meinem Monolog fertig war, brach es aus ihr heraus.

„Das hört sich ja an wie aus einem Abenteuerroman – diese Verschwörungsgeschichte, die Verbannung, dann die einzelnen Tagebuchteile. Wer sollte das denn auseinandergerissen haben? Da stimmt doch irgendetwas nicht. Wer weiß, was auf den fehlenden Seiten stand … Entweder etwas ganz Persönliches – vielleicht Briefe an eine heimliche Geliebte – oder ein Familiengeheimnis. Vielleicht auch etwas, das das Geschäft betraf, etwas, das nie in die Öffentlichkeit hätte gelangen dürfen. Eine Erfindung? Eine mysteriöse Krankheit? Spionage? Das ist ja wie in einem Krimi. Und das hier, hier in Wladiwostok, in unserer langweiligen Stadt.“

Ich dachte so vor mich hin, dass Geschichte fast immer wie ein Krimi war. Man musste nur eintauchen und schon taten sich ungeahnte Abgründe auf. Das tatsächlich Geschehene wirkte oft viel unglaubwürdiger und spektakulärer als das, was Romanautoren so zu Papier brachten. Würde die Realität sich nicht ständig durch ihre einfache Existenz selbst vergewissern, wir hielten sie für ausgedacht. Ich hatte aufgehört, mich darüber zu wundern. Stattdessen hatte ich mir angewöhnt, der Realität zu misstrauen und alles um mich herum als großen Roman zu betrachten. Man musste nur den Überblick behalten.

„Ja, mal sehen, was ich rausbekomme, in Ihrer langweiligen Stadt. Ich finde sie übrigens gar nicht so langweilig, muss mich nur etwas orientieren. Da prasselt gerade eine ganze Menge auf mich ein. Wollen wir gleich einmal zu Wolodja gehen? Wie heißt er denn richtig? Ich kann ja schlecht Wolodja zu ihm sagen.“

Tatjana winkte ab.

„Aber natürlich, alle sagen Wolodja. Ich kenne nicht einmal seinen Vatersnamen. Vielleicht Wladimir Sergejewitsch? Ich weiß es nicht. Aber bei der Gelegenheit – wollen wir nicht zum Du wechseln? Ich habe Ihnen, habe dir so viele private Dinge erzählt … da wäre es komisch, beim Sie zu bleiben.“

Wolodja

Tatjana zog ihre Strickjacke über und dann gingen wir in den Keller. Vielleicht war es eher Souterrain, denn es kam noch etwas Tageslicht in die Räume. Wir arbeiteten uns durchs Labyrinth. Ganz hinten hörte man leise Klaviermusik. Das war also die Schatzkammer. Wolodja saß im Trainingsanzug in einem Sessel und las in einer Illustrierten. Ich hatte ihn mir ganz anders vorgestellt, irgendwie geheimnisvoller. Als er uns hörte, sprang er aus dem Sessel und schloss Tatjana in seine Arme. Auch Wolodja sah blass aus, wahrscheinlich saß er den ganzen Tag in dem Kabuff hier unten. Mit dem Aufzug konnte er auch unmöglich auf die Straße, denn der Sportanzug sah aus, als ob er dreißig Jahre alt war, verschlissen und ausgebeult, auf jeden Fall ein altes sowjetisches Modell. Dazu trug er karierte Filzpantoffeln. Dass es so etwas noch gab … Er war ein typischer Rentner um die siebzig, eine gut konservierte Sowjetausgabe.

„Tanja – da ist ja meine Sonne. Na endlich. Fast zwei Wochen hast du dich nicht blicken lassen und den guten alten Wolodja allein hier sitzen lassen. Muss erst hoher Besuch aus Deutschland kommen, damit du dich an mich alten Zausel erinnerst?“

Tatjana schaute etwas betreten zur Seite. Da musste ich ihr wohl aus der Patsche helfen. „Ich bin doch kein hoher Besuch. Tatjana hat in höchsten Tönen von Ihnen geschwärmt. Ich bin Anna. Seit gestern wohne ich bei Ihnen schräg gegenüber.“

Tatjana stellte einen Teller mit drei Pasteten auf den Tisch.

„Jaja, schon gut, meine Tanja weiß ja, dass ich ihr ohnehin nichts übel nehmen kann.“ Dann trottete er los und sagte halblaut vor sich hin: „Und ihr braucht also Möbel. Na dann wollen wir mal sehen, was der gute alte Wolodja noch so auf Lager hat.“

Er schloss einen Raum auf und wir standen inmitten von Regalen, Tischen und Schränken. Hier hätte man eine Sozialgeschichte des sowjetischen Wohnens abfassen können. Wolodja meinte, dass wir uns ruhig Zeit lassen sollen. Auch wegen des Hochschleppens sollten wir uns keine Gedanken machen, er könne ein paar Studenten dafür in die Pflicht nehmen. Dann schlurfte er wieder zu seinem Sessel. Ich hatte ohnehin nur das eine Zimmer. Zu viele Dinge konnte ich nicht mitnehmen. Die Wahl war deshalb schnell getroffen. Ich entdeckte einen akzeptablen Couchtisch, eine kleine Kommode, ein Bücherregal, einen Nachttisch und einen schmalen Kleiderschrank. Alles stammte aus den 1970ern, hässliche Furniermöbel, die ich mir zu Hause nie hinstellen würde. Ich hatte vor, sie anzustreichen. Irgendein warmer Farbton. Das würde passen. Dann riefen wir Wolodja und ich zeigte ihm meine Ausbeute.

„Wenn ich diese Dinge hier haben dürfte … Ich will nicht ausverschämt sein, aber wenn Sie vielleicht noch einen Teppich hätten, wäre das großartig. Der PVC-Belag in meinem Zimmer hat schon bessere Zeiten gesehen.“

Wolodja nickte und setzte seine Tour fort. „Kommen Sie mit, junge Dame. Hier hinten finden Sie alles aus Stoff. Ich habe hier einen kleinen Raum, der komplett trocken ist. So schimmelt nichts. Kommen Sie, schauen Sie mal: Gardinen, Decken, Kissen und auch Teppiche.

Und dort hinten“, er zeigte auf einen Nachbarraum, „finden Sie allen restlichen Kleinkram: Dinge für die Küche, Töpfe, Geschirr, Kleiderhaken, Spiegel, alles, was man braucht und nie hat.“ Wolodja lachte selbst über seine Sammelwut.

„Ja, es ist kaum zu glauben, was sich über die Jahre ansammelt, dabei holen sich die Studenten schon mal ab und an was bei mir. Aber schauen Sie – das alles hätten die Leute weggeschmissen. Das ist also die neue Zeit. Die Leute wissen einfach nichts mehr zu schätzen. Ihre Eltern haben ein ganzes Leben für solch eine Schrankwand gespart, aber auf einmal kann alles weg, weil es nicht mehr modern ist.“

Wenn ich ehrlich war, fand ich dieses Sammelsurium abgestoßener Möbel auch nicht sonderlich attraktiv. Aber auch ich tat mich schwer, Dinge, die noch funktionierten, wegzuschmeißen. Ich fand es rührend, dass sich jemand darum kümmerte und denen half, die nichts hatten. Immerhin war es besser als nichts. Für mich war es ideal. Was sollte ich mir für die kurze Zeit Möbel anschaffen?

„Ich finde es wirklich toll, dass Sie sich darum kümmern, Wolodja. So jemanden bräuchte man in jedem Haus. Wie kann ich mich erkenntlich zeigen? Was wollen Sie dafür denn haben?“

Wolodja lächelte und trottete wieder zu seinem Sessel zurück. Er setzte sich und zögerte einen Moment. „Wissen Sie, ich brauche kein Geld. Auch wenn ich nicht viel habe, komme ich damit gut aus. Aber ich bin alt und viel allein. Gescheit kochen kann ich auch nicht.“

Dann stockte er. Offenbar war es ihm peinlich, etwas zu erbitten. Tatjana durchbrach die Stille.

„Nun sag schon. Genier dich nicht. Wir alle wissen, dass du ein Leckermaul bist.“

Wolodja schüttelte den Kopf und hob mahnend seine Hand.

„Nun aber halblang. Naja, wahrscheinlich hast du nicht ganz Unrecht. Also … Ich war mal in der DDR, habe dort auf der Werft gearbeitet. Und ich kann mich daran erinnern, dass es in der Kantine immer Suppe gab. Aber die war viel dicker als bei uns, so richtig nahrhaft und mit viel Fleisch drin. Die Deutschen aßen das als Hauptgericht.

Ich habe in Erinnerung, dass sie nicht Suppe dazu sagten, sondern ,In einem Topf‘. Das hat mir damals sehr gut geschmeckt. Wenn Sie das auch können, dann laden Sie mich doch einmal zu ,In einem Topf‘ ein. Geld brauche ich nicht.“

Ich musste lachen. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich in Russland mit einem Eintopf würde punkten können, aber eigentlich gefiel mir der Vorschlag. Ich kochte für mein Leben gern und so könnte ich ihnen etwas von meiner Kultur zeigen, auch wenn Eintöpfe nicht unbedingt zu meinen Lieblingsgerichten gehörten und ich davon eigentlich nichts verstand.

„Das finde ich eine sehr gute Idee. Morgen ist Sonnabend, da würde ich gern die Wohnung auf Vordermann bringen – die Wände streichen und alles putzen. Danach würde ich mir die Möbel vornehmen. Wenn Sie nichts dagegen hätten, würde ich sie anmalen. Was halten Sie von Sonntag oder Montag? Sie und Tatjana bei mir, zum Eintopf? Ich muss Sie aber warnen. Es wird nach Farbe stinken und es gibt keinen Esstisch, nur den hier.“ Ich zeigte auf den Couchtisch. Ehrlich gesagt, wusste ich nicht einmal, ob es ausreichend Teller und einen großen Topf gab. Ich müsste sicher noch einmal in den Raum mit den Küchen-Utensilien.

„Wenn Sie Werkzeuge brauchen oder einen Pinsel, dann kommen Sie wieder. Das habe ich auch alles hier. Sie wissen ja nicht, was die Leute alles wegschmeißen. Einmal benutzt, dann weg damit. So etwas hätte es früher nicht gegeben.“

Wolodja war Gold wert. Wir schleppten zwei Kisten mit Kleinkram nach oben. Den Rest würden mir zwei Studenten vor die Tür stellen. Tatjana erklärte mir, wo der nächste Baumarkt war und ich machte mich noch schnell auf den Weg, damit es morgen früh gleich losgehen konnte. Wer hätte gedacht, dass alles so einfach sein würde. Ich musste unbedingt Martin davon schreiben. Bornecker sollte ich auch endlich mal informieren. Er platzte sicher vor Neugier. Vielleicht hätte ich am Sonntag Muße. Bisher hatte ich mich nur kurz gemeldet, denn hier überschlug sich alles.

Der Baumarkt war ein besserer Haushaltswarenladen, dafür aber nur zwei Busstationen entfernt. „1 000 kleine Dinge“. Früher hatte ich diese Läden geliebt, weil es dort so viel Kleinkram gab. Man fand all das, was man auch in den nächsten zehn Jahren nicht gebrauchen konnte, kaufte es aber trotzdem. Ich hatte Glück, dass es überhaupt weiße Wandfarbe gab, denn eigentlich tapezierten Russen ihre Wände. Kaum einer strich einfach nur. Aber wahrscheinlich hatte sich auch das geändert. Jetzt brauchte ich nur noch Farbe für die Möbel. Auch da war die Auswahl beschränkt. Ich entschied mich für ein mattes Weinrot, denn bei Wolodja hatte ich eine hellbraune Decke fürs Sofa, einen dunkelbraunen Teppich und Vorhänge in beige mitgenommen. Das würde passen. Ich war froh über meine plötzliche Entschlossenheit. Das war sonst nicht meine Stärke.

Als ich mit meinem schweren Farbeimer endlich zu Hause ankam, war es bereits dunkel. Vor der Tür stand schon der Hausrat. Ich bugsierte den Eimer daran vorbei, machte das Licht an und plötzlich sah ich sie. Oh, nein, das hatte ich komplett vergessen. Kakerlaken. Ich erlegte die zwei aufgescheuchten Tiere, erst dann schloss ich die Tür hinter mir. Dann schaute ich an die Decke. Ich würde Wolodja nach einer Lampe fragen müssen. Dieses Neon-Monstrum war ja grauenhaft. Auch der Kühlschrank musste weg. Das Brummen ging mir schon jetzt auf den Geist.

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