Kitabı oku: «Dattans Erbe», sayfa 6

Yazı tipi:

Tom Sawyer streicht ein Zimmer

Pünktlich um zehn klopfte es an meiner Tür. Tatjana stand in Malerkutte und mit Papierhut auf dem Kopf vor mir. Und sie hielt zwei Rollen, einen Eimer und zwei Stangen in der Hand.

„Hier, das habe ich gerade von Wolodja geholt. Wenn wir noch etwas brauchen, sollen wir einfach runterkommen. Er lebt richtig auf, endlich hat er mal jemanden, dem er von vorn bis hinten helfen kann. Einmal Rundum-Versorgung. Wie war die erste Nacht? Hast du gut geschlafen?“

Ich glaubte fest daran, dass das, was man in der ersten und letzten Nacht an einem fremden Ort träumte, in Erfüllung ging. Es war ein blöder Aberglaube, aber ich glaubte daran. Ich hatte davon geträumt, dass ich als Ärztin unterwegs war, zumindest trug ich einen Arztkittel. An andere Personen konnte ich mich nicht erinnern.

„Ja, alles bestens. Ich muss gleich noch einmal runter, weil ich einen Schraubenzieher brauche. Die Lampe muss weg.“

Tatjana schaute besorgt, fast panikhaft.

„Aber du bist doch keine Elektrikerin, oder? Das solltest du sein lassen. Unbedingt.“

Auch das hatte ich vergessen. Russen hatten instinktiv Angst vor Strom. Ich grinste vor mich hin, weil ich an Lenins Maxime Sowjetmacht + Elektrifizierung = Kommunismus denken musste. Vielleicht hatte es deshalb nicht mit dem Kommunismus geklappt. Oder aber die Verweigerung einfachster Elektroarbeiten war die späte Rache für das Kommunismusexperiment.

„Wenn du magst, kannst du ja schon anfangen, die Sachen abzudecken, dann gehe ich mal runter zu Wolodja.“

Ich zeigte Tatjana, wo alles lag und verschwand in Richtung Labyrinth. Wolodja saß wieder in seinem Sessel, diesmal liefen Schlager. „Guten Morgen, Wolodja. Tut mir leid, dass ich direkt schon wieder da bin und Ihren Rat benötige, aber ich bräuchte mal einen Schraubenzieher. Ich will, bevor wir anfangen zu streichen, die hässliche Neonleuchte abschrauben.“

Wolodja war entsetzt. Noch entsetzter als Tatjana. „Nein, das geht auf gar keinen Fall. Sie als Frau können das sowieso nicht.“

Was war das denn?

„Außerdem ist die Elektrik in diesem Haus unberechenbar. Ich habe hier jahrelang als Hausmeister gearbeitet. Da kenne ich jede Wohnung. Was glauben Sie denn, warum alle diese hässlichen Lampen haben?“

Das musste ich mir nicht anhören. Zu Hause brachte ich alles allein an, hatte sogar Lampen selbst gebaut und dabei einiges an Kabeln verlegt und an der Wand verschraubt. Phase und Erdung, ich kannte mich aus.

„Dann werde ich wohl die Erste sein, die daran etwas ändert. Vielleicht haben Sie ja sogar noch eine überschüssige Lampe für mich?“ Damit hatte er nicht gerechnet. Ich erwartete irgendein biestiges Widerwort, aber stattdessen stand er auf und machte sich mit mir in Richtung Schatzkammer auf.

„Dann komme ich aber mit nach oben. Das kann ich nicht verantworten. Glauben Sie mir. Die Lampen, die hier liegen, haben die Nachbarn abgegeben, weil sie nicht wussten, wohin damit. Keiner konnte sie montieren. Manche sind noch in Originalverpackung, sie wurden nie benutzt.“

Ich sah mir alles an. Eine Lampe war kitschiger als die andere. Dann entdeckte ich eine Glaskugel. Sie erinnerte mich an das Lichtermeer im Palast der Republik, Erichs Lampenladen … Das wäre doch gar nicht so ganz übel, dachte ich bei mir.

„Die dahinten, die würde ich gern nehmen.“

Wolodja packte alles zusammen, nahm seinen Werkzeugkoffer und kam mit nach oben. Die Lampe hatte ich mir unter den Arm geklemmt. Ich kam mir vor wie bei „Tom Sawyer streicht einen Zaun“. Nur hatte ich meine Helfer nicht einmal bestechen müssen.

Das Abbauen ging leichter als gedacht. Ich hatte natürlich Wolodja machen lassen. Mein Einsatz beschränkte sich auf das Halten der Leiter. Tatjana hatte schon in einer Ecke angefangen zu malern. Ab und an war ein Meckern zu hören, weil die Farbe nicht richtig auf der Tapete hielt. Eigentlich hätten wir das einweichen und abspachteln müssen, aber dazu hatte keiner Lust, auch deshalb, weil niemand wusste, was unter der Tapete lauerte. Es war ein lustiges Arbeiten. Drei Leute in einem kleinen Zimmer, in der Mitte das Schlafsofa, auf der Leiter Wolodja. Tür und Fenster standen offen, damit der Farbgeruch schnell verflog. Nadezhda hätte verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen – die offene Tür, die Möbel auf dem Flur, die Nachbarn hier bei mir. Unauffällig sah anders aus. Ständig kam jemand vorbei, der über den Flur schlurfte und dabei verstohlen neugierig unser Treiben musterte. Mich wunderte das rege Begängnis und ich fragte mich, warum die Leute im Morgenmantel unterwegs waren, ein Handtuch über die Schulter geworfen hatten oder eine Zeitung und Klopapierrolle unterm Arm trugen. In Latschen trotteten sie an uns vorbei. Auch eine Frau, die einen großen Suppentopf vor sich hertrug, hatte ich gesehen.

„Was machen die da, Tatjana? Warum kommen hier so viele Leute lang? Der Treppenaufgang ist doch auf der anderen Seite.“

Tatjana drehte sich verwundert um und schaute zur Tür, um zu sehen, wen ich meinte. „Ach die … Na die gehen duschen oder auf die Toilette. Manche kochen auch.“

„Wie, kochen und auf die Toilette? Haben die in ihrer Wohnung etwa keine Küche und kein eigenes WC?“

Schon bei der Frage kam ich mir doof vor, denn das selbst gebastelte Bad war das Erste, was mir negativ in der Wohnung aufgefallen war. „Der Block war mal ein Wohnheim. Früher wohnten zwei oder vier Studenten in so einem Zimmer. Toiletten, Duschen und Gemeinschaftsküche befanden sich am Ende des Korridors. Als 1990 alles privatisiert wurde, blieben viele Bewohner einfach und kauften ihre Zimmer. Manche rüsteten um, so wie die Sluchina, aber das ging nicht überall, weil die nötigen Leitungen fehlen. Bei uns drüben ging es nicht. Und so habe ich zwar eine große Küche und zwei Zimmer, aber nicht einmal ein Bad.“

Plötzlich klopfte jemand am Türrahmen.

„Hab doch gehört, dass sich neben mir was tut. Was um Himmels willen macht ihr denn bloß? Was ist mit Olga? Ist mein Häschen etwa nicht mehr da? Durchgebrannt mit dem Lackaffen von dahinten, oder was?“, fragte ein ungekämmter, stämmiger Typ in Jogginghose, der aussah, als ob er gestern ein paar Biere zu viel hatte.

„Guten Morgen Sergej“, sagte Tatjana betont freundlich. Dann beugte sie sich zu mir und zeigte mit der Rolle in der Hand auf den Typen. „Darf ich vorstellen? Das ist dein rechter Nachbar, er arbeitet auf Montage und ist nur alle paar Wochen hier. Und da wird gefeiert.“ Dann wandte sie sich wieder ihm zu.

„Olga ist ausgezogen. Du hast jetzt eine neue Nachbarin. Das ist Anna aus Berlin, sie erforscht die Geschichte unserer Stadt. Also reiß dich zusammen, wenn deine Kumpels da sind oder du von deinen Sauf-Touren nach Hause gewankt kommst.“

Wir hatten erst eine Stunde gestrichen, aber waren so gut wie fertig. Wolodja hatte die neue Lampe ohne Probleme angeschlossen und das Zimmer strahlte in weißem Glanz. Ich war zufrieden. Sergej hatte es sich derweil auf dem abgedeckten Sofa mit einem Bier gemütlich gemacht und sah uns zu.

„Wenn ich auch etwas helfen kann, dann gebt Bescheid Mädels.“

Wir waren fertig. Das Putzen wollte ich Sergej nicht zumuten. Aber dann dachte ich an den Kühlschrank. Nadezhda könnte ihn auch gut aus Wolodjas Zwischenlager abholen. Was weg war, war weg. Aber weder den alten Wolodja noch die zierliche Tatjana hätte ich darum bitten können, dieses Monstrum drei Etagen nach unten zu hieven.

„Ich hätte vielleicht etwas, aber sicher ist das viel zu schwer für Sie. Das kann ich Ihnen eigentlich nicht zumuten. Nein …“ Ich schüttelte den Kopf und verstummte. Ich wollte ihn locken. Für einen russischen Mann war nichts zu schwer, wenn eine Frau auch nur in Erwägung zog, dass dies so sein könnte.

„Ach was! Wo brennt die Luft? Was soll ich machen?“

Ich zeigte auf den Kühlschrank. „Der müsste runter zu Wolodja. Mir ist er zu groß. Die Sluchina will ihn abholen und mir einen kleinen dafür bringen.“

Sergejs Augen blitzten auf und plötzlich nahm er eine straffe Haltung an. „Was? Das Schmuckstück soll weg?“ Er kratzte sich am Hinterkopf. „Wir können auch tauschen, wenn Sie nichts dagegen haben. Sie bekommen meinen kleinen und ich nehme den hier. Da geht wenigstens ordentlich was rein und richtig kalt ist der auch. Noch einer von der alten Sorte.“

Mir war das nur recht und sicher wäre die Sluchina auch froh, wenn sie nicht noch einmal herkommen müsste.

„Von mir aus gern. Abgemacht. Ist aber nur geliehen, wenn die Sluchina ihn wiederhaben will, dann muss er zurück.“

Dann machten wir die Gerätschaften sauber und meine Helfer verabschiedeten sich. Wir hatten die Möbel reingeholt und nun saß ich wie ein Fremdkörper auf dem Sofa, sah auf die schicken weißen Wände und die ollen Möbel. Ich holte die Dose raus und legte los. Es würde übel stinken. Wer weiß, ob ich bei dem Gestank schlafen könnte, aber ich wollte es hinter mich bringen, außerdem beflügelten mich die Wände. Nadezhda würde das Kabuff von gestern nicht wiedererkennen. Nach gut einer Stunde war ich auch mit den Möbeln fertig. Kaum zu glauben, was aus den hässlichen Furnierteilen geworden war. Ich war im Streichfieber. Von der weißen Farbe war noch reichlich übrig. Also beschloss ich, mir auch das Bad vorzunehmen. Das war leichter gedacht als getan, denn überall hingen irgendwelche Leitungen oder Kabel. Die Decke vom Bad ging noch halbwegs, aber dann kam der hässliche Duschvorhang, der an der Wand festgemacht war. Wenn ich hier an der falschen Stelle zog, konnte alles einkrachen. Deshalb schaute ich mir die Duschtasse und deren Verankerung im Fußboden etwas genauer an. Ich lag auf dem Boden und zog an dem Kram, der unter der Dusche lag. Eine Schüssel, eine Bürste, mehrere Scheuerlappen und Putzzeug kamen mir entgegen. Puuh. Ich dachte an die Kakerlaken, vielleicht hatten sie genau hier ihr Zuhause. Plötzlich spürte ich einen Widerstand. Irgendetwas hing dort. An der Unterseite der Duschtasse klebte ein Päckchen, irgendetwas in einer Plastiktüte. Ich zog es ab, öffnete es und hatte ein kleines Büchlein in der Hand. Leider konnte ich nichts damit anfangen. Es waren Listen, alle etwas durcheinander, ohne erkennbare Ordnung. Obwohl jeder Eintrag fast die gleichen Informationen enthielt, konnte ich kein sich mir erschließendes System erkennen. Mal begannen die Einträge mit dem Datum, dann folgte manchmal ein Ort, ein andermal begann der Eintrag mit ein paar Buchstaben und Ziffern. Das Einzige, worin sich jeder Eintrag glich, waren die letzten beiden Spalten. Hier waren hinter jedem Eintrag zwei Geldbeträge aufgelistet. Der Betrag in der linken Spalte war immer höher. Bei genauem Hinsehen fast immer um ein Drittel. Mal waren die Beträge in Yen, dann in Dollar oder Rubel ausgewiesen. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber allein der Umstand, dass das Büchlein hier an dieser Stelle versteckt war, ließ mich misstrauisch werden. Es war eine Frauenhandschrift. Der letzte Eintrag war vom 1. August, also etwa vier Wochen alt. Das musste von Olga sein. Sie musste das unmittelbar vor ihrem Verschwinden vermerkt haben. Ich packte das Päckchen in mein Nachtschränkchen und beschloss, Tatjana nichts davon zu erzählen.

Wo war ich hier nur wieder hingeraten?

Ich strich schnell noch die Bereiche, an die ich problemlos rankam. Einfach weitermachen, dachte ich, bloß nicht zu viel nachdenken. Dann packte ich die Folie zusammen und wischte den Boden so gut es ging. Ich wollte raus. Mir fiel auf, dass ich noch nicht einmal unten am Meer gewesen war. Stattdessen hatte Tatjana meinen Tag gestern und heute komplett verplant und mir kaum eine freie Minute gelassen. Meine neuen Bekannten waren zwar nett, aber irgendwie war mir das fast schon zu viel. Zu Hause war ich meist für mich allein. Martin arbeitete immer lange und Paul machte sein eigenes Ding. Meine Nachbarn zogen mich deshalb manchmal auf. Sah so eine richtige Familie aus? Wahrscheinlich nicht.

Kreuzzug in Schlappen

Die nächsten Tage vergingen im Gleichfluss, tagsüber war ich im Archiv, danach hatte ich es mir zur Angewohnheit gemacht, bei Wolodja und Tanja vorbeizuschauen. Seit meiner Umgestaltungsaktion erlebte Wolodja wieder Zulauf. Tatjana hatte Fotos von meinem Zimmer gemacht und ihm ausgedruckt. Wolodja präsentierte sie wie die letzte Nummer der „Schöner Wohnen“. Die Nachbarn waren neugierig und wollten sehen, wie es in der 321 aussah und wie „die Neue“ die sperrigen Sowjetmöbel zu neuem Leben erweckt hatte. Dabei kam der eine oder andere auf eigene Ideen und Wolodja war wieder ein gefragter Mann. Das tat ihm gut und er lebte richtig auf in seiner neuen, alten Rolle. Auch ich war nicht ganz unbeteiligt daran. Den klobigen Tisch aus der Kochecke hatte ich noch rausgeworfen und stattdessen eine schmale Tischplatte an der Wand befestigt und mit einer ebenso breiten Platte nach unten hin abgestützt. Es sah aus wie ein schmaler Tresen, an dem zwei zierliche Stühle standen, fast wie in einem Bistro. Da drüber hing ein Bord. Oben drauf die Teller, Schüsseln und Töpfe, unten hingen an Schraubhaken die Tassen. Ein Klemmspot sorgte für genug Licht auf dem Tisch. Die Kochplatte stand nun auf dem Kühlschrank von Sergej. Auch dafür hatte ich eine Arbeitsplatte zurechtgesägt und sie auf ein schmales Regal rechts neben dem Kühlschrank geschraubt. Darin hatte ich meine Lebensmittel untergebracht. Alles war minimalistisch geplant, aber gerade das Einfache machte es besonders. Und der kleine Raum war nun perfekt ausgenutzt. Es war unglaublich, was man aus den alten Möbeln noch herausholen konnte. Die ganze Renovierung hatte mich keine hundert Euro gekostet. Anfangs hatte Wolodja gemurrt, weil ich für meine Küchenkonstruktion einen großen Kleiderschrank hatte zerlegen müssen. Aber als er das Ergebnis sah, strahlte er. Ich hatte alles neu gestrichen und neben dem Weinrot kam auch noch ein dezentes Beige hinzu. Und dann war da noch dieses große Bild, das über mein Sofa kam. Eigentlich war es eine der drei Schranktüren, die wir als Abstreichfläche für die Pinsel genutzt hatten. Als wir aufräumten, hielt ich kurz inne. Ich schaute auf die Tafel und fand, dass uns, ohne es geplant zu haben, ein richtiges Kunstwerk gelungen war: die Farben und Formen, dazwischen festgeklebte Zeitungsschnipsel und Lappenreste. Also kam es an die Wand. Mein Zimmer wirkte in seiner asketischen Klarheit und mit der Fensterfront zum Meer tatsächlich wie aus einem Katalog für modernes Wohndesign. Es war mir selbst fast schon ein bisschen peinlich.

Irgendwann hatte ich eine pikierte Mail von der Sluchina im Postfach. Sie schrieb, dass sie gehört habe, dass meine Aktivitäten im ganzen Block die Runde machten. Sogar Fotos würden kursieren. So habe sie sich das nicht vorgestellt, als sie mir das Okay zur Verschönerung gegeben hatte. Sie hatte erwartet, das Zimmer an eine zurückgezogene Forscherin zu vermieten.

Oje, auch das noch. Ich machte drei Fotos und schickte sie ihr. Dann fragte ich, ob sie etwas von Olga gehört hätte. Die Antwort folgte auf dem Fuße und fiel milder aus als erwartet. Sie wusste nichts von Olga. Vom Zimmer war sie geradezu entzückt.

„Anna, Sie sind eine Künstlerin. Es sieht aus wie ein Atelier – so hell, so modern und dabei so elegant. Mit einer ganz eigenen, individuellen Note. Einfach toll!“ Die Mail schloss mit dem Hinweis, dass, wenn sie das künftig vermieten würde, sicher mehr drin sei … Mir fiel ein, dass ich keinen Mietvertrag hatte. Im Prinzip konnte sie mich nach dem bezahlten Monat von heute auf morgen raussetzen. Es war vollkommen bescheuert gewesen, ihr die Bilder zu schicken, aber ich war so stolz auf unser Gemeinschaftswerk aus den Kellerresten, dass ich nicht an mich hatte halten können. Auch Martin und Bornecker hatten sich die Bildserien anschauen müssen. Ich ärgerte mich über meine Naivität und antwortete kurz, dass ich mir vorbehalten würde, das dann abzubauen.

Der Block … Vielleicht hätte Nadezhda eher schreiben sollen: der Flur … Mittlerweile kannte ich fast alle Nachbarn auf dem Flur links der Treppe. Russische Hausflure hatten etwas Gespenstisches: Es gab keine Namensschilder – weder an den Türen noch an den Briefkästen. Überall nur Nummern. Die Bewohner hasteten mit leicht gesenktem Haupt und seitlichem Tunnelblick aneinander vorbei, ohne sich wahrzunehmen oder gar zu grüßen. An der Wohnungstür angekommen, galt es, die Tür blitzschnell aufzuschließen. Dies erfolgte, ohne sich umzudrehen, aber mit leicht geneigtem Kopf, sodass etwaige Verfolger oder Rumlungerer aus dem Augenwinkel erspäht werden konnten. In der Wohnung angekommen, wurde sofort von innen verriegelt, als galt es, die Kronjuwelen vor herannahenden Räubern zu schützen. Viele Türen waren mit einem Schließmechanismus ausgestattet, der an mittelalterliche Trutzburgen erinnerte und den Vergleich mit Alcatraz nicht hätte scheuen müssen. Der Vorgang des Eintretens verlief in Sekundenschnelle und spätestens nach einer Woche hatte der Neuankömmling sowohl Spähhaltung als auch Schließverhalten verinnerlicht. Ich hasste diese Hyperwachsamkeit, dieses paranoide Kontrollverhalten, weil es dem offenen und gastfreundlichen Wesen der Russen komplett widersprach und kaum einer etwas in seiner Wohnung aufbewahrte, das dieses Maß an Wachsamkeit gerechtfertigt hätte.

Russische Hausflure stanken fast immer, entweder nach dem Müllschlucker, nach Katzenpisse oder sonst welchen Exkrementen. Sie sahen heruntergekommen aus, die Farbe blätterte von den Wänden, Lampen fehlten oder flackerten müde. Oft tappte man durchs Dämmerlicht und stolperte, weil der Fußbodenbelag durchlöchert war oder Wellen warf. Es war ein herrschaftsfreier Kosmos, der ganz sich selbst überlassen schien. Das Privatleben begann hinter der Wohnungstür. Alles, was sich davor abspielte, war öffentlich und somit fremd, nicht zur Familie gehörend. Sich darum zu kümmern, war aus russischer Sicht wie Hoffnung auf gesellschaftlichen Wandel an eine Parlamentswahl zu knüpfen. War wie ehrlich Steuern zahlen, wie Geld zum Fenster rauswerfen. Es war vollkommen abwegig. Das fing schon bei der Wohnungstür an: Innen war sie gepflegt, vielleicht sogar gepolstert oder mit Stahl verstärkt, außen zerfiel sie fast.

Als ich bei meinem zweiten Auslandssemester in Moskau in einem richtigen russischen Wohnheim untergebracht war, warfen die Bewohner des Studentenwohnheims – allesamt Doktoranden – gern ihren Müll aus dem Fenster, weil sie zu faul waren, zum Müllschlucker zu gehen. Was sich draußen ansammelte, ging sie nichts an. Unten zog dann regelmäßig eine Putzfrau ihre Runden und hob den Müll auf. Sie trug einen gelben Bauarbeiterhelm, um sich vor dem Flugmüll zu schützen. Einmal hatten es die Akademiker mit der Entsorgung etwas übertrieben und einen Ausländer aus dem Fenster geworfen. Die Polizei ermittelte, drei Wochen flog nichts, aber danach war alles wieder beim Alten.

Nun wohnte ich selbst in so einem Block. Dass ich sie alle kennengelernt hatte, hing nur mit Tatjana, Wolodja und unserer Streichaktion zusammen. Nur deshalb hielten sie in ihrem Stechschritt inne. Manchmal hatte ich aber auch den Eindruck, dass meine Nachbarn vielleicht sogar ein wenig froh waren, dass ich anders war. Sie konnten mich deshalb einfach etwas fragen, ohne misstrauisch beäugt zu werden und hatten einen Vorwand, um mich in ihre Wohnung zu lotsen, um mir etwas zu zeigen oder mich auf einen Tee einzuladen. Mit mir konnten sie auf der Treppe plaudern, ich befand mich jenseits ihres Regelwerkes. Innerhalb weniger Tage lernte ich so viele Menschen kennen, wie in Berlin in Monaten nicht. Jeder erzählte mir seine Geschichte. Eine skurriler als die andere. Wenn ich allein an Aljoscha dachte, der Anfang der 1990er Jahre als dienstältester Kapitän der Pazifikflotte die Nase voll von seinem Job hatte und komplett umgesattelt hatte. Seitdem betrieb er ein privates Puppentheater. „Damals waren wir die Marionetten. Jetzt halte ich welche in der Hand“, hatte er einmal zu mir gesagt. Geschichten, die mir zu Hause keiner abnehmen würde. Und alles hatte auf dem Hausflur begonnen. Nie hätte ich geglaubt, so etwas je erreichen zu können. Es gab zwei Sakramente, die kein Deutscher hätte verändern können und an denen bislang jeder gescheitert war – Hausflur und Toilette. So wie der Hausflur eine feindliche, fremde Zone war, so war die Toilette ein Bereich des Ekels, in dem es nie Toilettenpapier gab. Warum es nicht möglich war, dass Toilettenpapier in einer öffentlich zugänglichen Toilette, zum Beispiel in einer Bibliothek, länger als zehn Minuten an Ort und Stelle verblieb, mochte mir nicht einleuchten. Wer nahm es mit? Selbst die Mitarbeiter des Deutschen Historischen Institutes in Moskau hatten resigniert. Jeder von ihnen – selbst der Direktor – hatte eine eigene Klopapierrolle, die beim Gang aufs Örtchen mitgeführt werden musste. Campingplatzatmosphäre auf hohem Niveau. Als ich im letzten Frühjahr dort war, folgte mir ein Praktikant schnellen Schrittes und wedelte mit der Rolle.

Für meine Freunde in Berlin wäre das nicht nachvollziehbar gewesen, aber ich war euphorisch. Ich hatte den Hausflur zu einem Ort der Begegnung gemacht und kam mir vor wie auf einem Kreuzzug. Die unverrückbaren Grundfesten waren ins Wanken geraten und ich hatte einen Fuß in der Tür. Und weil ich wusste, dass mich ohnehin alle belächelten, klebte ich nach einer Woche ein Schild an meine Tür: Anna Stehr. Daneben hängte ich einen kleinen Notizblock und einen Stift. Mal sehen, ob jemand eine Nachricht hinterlassen würde. Ich nahm mir vor, die erste Nachricht aufzuheben. Ich würde sie einrahmen – ein großes Passepartout mit dem winzigen Zettel in der Mitte. Ja, das gefiel mir.

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