Kitabı oku: «Woanders am Ende der Welt», sayfa 3

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Schade? Im Gegenteil! Marie war erleichtert. So hatte sie im Garten ganz ihre Ruhe, und wenn sie nur daran dachte, dass sie einen männlichen Nachbar hätte haben können, kamen heftige Abwehrgefühle in ihr auf. Sie hatte die Nase voll von Männern; jedenfalls hatte sie keinen Bedarf an einem fremden Mann, der sie über die Grenzbüsche zwischen beiden Gärten hinweg anglotzen, anlabern oder im schlimmsten Fall anmachen könnte!

Nach ihrer Rückkehr von Yvonne machte Marie sich den Spaß, einmal um das leere Nachbarhaus herumzuschleichen. In gewisser Hinsicht hatte Yvonne natürlich recht: Es war ein altes Haus wie ihres und der Garten war ähnlich groß, ohne knorrige alte Apfelbäume allerdings, dafür mit einigen interessanten Felsblöcken, die aus dem hohen Gras ragten. War das Natur oder hatten einmal die keltischen Vorfahren Hand angelegt? Das war oft schwer zu sagen. Einer der Felsen sah nach menhir aus; ein anderer nach dem flachen Deckstein eines dolmen.

Marie ging bis zu den gelb blühenden Grenzbüschen und schaute hinüber in ihren eigenen Garten. Die Büsche waren hoch, aber natürlich gab es Sichtlücken. Nein nein, es war wirklich ein Glück, durch keine neugierigen Blicke gestört zu werden!

Gedankenverloren zupfte sie eine Blüte ab, die wärmer gelb war als die des Ginsters: eine verlorene Stechginsterblüte. Sie hielt sich die Blüte an die Nase, schloss die Augen und sog ihren Duft ein, der herb und süß zugleich war, ein wenig wie der von Kokos.

Sie würde jetzt hochgehen, in papys altes Schlafzimmer. Sie würde sich überlegen, was sie daraus machen würde – ein Gästezimmer? Ein Arbeitszimmer mit Leseecke und Schreibtisch? Oder beides kombiniert?

Oben im Zimmer war es warm und stickig. Marie öffnete Fenster und Dachluke. Dann wandte sie sich um, zu dem Bettgestell, das wirklich nicht mehr zu gebrauchen war, und seufzte. Noch etwas, das entsorgt werden musste. Aber der Schrank? Besonders schön war er nicht, aber stabil, aus Massivholz.

Sie drehte am Schrankschlüssel, um hineinzusehen, doch der Schlüssel drehte sich nur zur Hälfte. Ungeduldig ruckelte und drückte sie daran herum, bis er doch knackend nachgab. »Mit dem klemmenden Schloss kommst du doch weg«, beschimpfte Marie den Schrank, während sie die schweren Türen aufzog. Sie stieß einen leisen Schrei aus und sprang zurück, dann begriff sie: Die Augen, die sie aus dem Schrank heraus anstarrten, gehörten einer Figur aus bemaltem Holz.

»Was machst du denn im Schrank?«, fragte Marie laut in das leere Zimmer, um auch den letzten Rest ihres Schreckens loszuwerden. »Du bist mir ja eine schöne Heilige, mit der Oberweite«, grinste sie dann. Die dargestellte Heilige war eine junge Frau mit langem blondem Haar und stattlichem Dekolleté. In den Händen hielt sie einen kleinen Turm; ihre Miene hatte einen leidenden Ausdruck. Marie legte den Kopf schief. Es war eine Figur, wie sie in Kapellen stehen, nicht in Wohnhäusern und schon gar nicht in Schränken. Wo die beiden Schranktüren rechts und links der Heiligen zurückgeschlagen waren, sah das allerdings ein wenig wie ein Altar aus. Ein Haus-Altar?

Marie sah von der Figur zu ihrem Sockel; aber es war gar kein Sockel, es war eine Truhe. Eine hölzerne Truhe, mit Eisen beschlagen. Was war darin? Sofort wollte Marie es wissen! Sie hatte keine Lust, die Heilige anzufassen, hob sie aber doch aus dem Schrank, um den Deckel der Truhe zu öffnen. Sie sah hinein. Ha, da waren sie also, die alten Fotoalben! Sie hatte sich schon gefragt, wo Elodie ihre persönlichen Dinge aufbewahrt hatte.

Marie griff nach dem obersten Album. Es enthielt jedoch keine Fotos, das Album entpuppte sich als Mappe mit Zeichnungen.

Auf dem Rand des alten Bettgestells sitzend, blätterte Marie langsam die Zeichnungen durch. Sie waren alle datiert und signiert; Marie konnte den Namen »Elodie Cadiou« entziffern. Es waren Modezeichnungen aus den sechziger Jahren, und Marie hatte ja gewusst, dass ihre Großtante Modemacherin gewesen war, und keine unbekannte. Trotzdem hatte sie nicht gewusst, dass Elodie so gut, so künstlerisch zeichnen konnte. Marie ließ sich Zeit zum Bewundern jedes einzelnen Blattes, bevor sie sich die nächste Mappe holte. Es gab davon in der Truhe, soweit sie es im Halbdunkel des Schrankes erkennen konnte, zwei dicke Stapel.


Marie hatte alles um sich herum längst vergessen. Fasziniert war sie Mappe für Mappe durchgegangen und hatte nebst den Modeentwürfen aus verschiedenen Jahrzehnten die Zeichnungen von Menschen entdeckt – Portraits, die Elodie von Freunden oder Geliebten gemacht hatte, und Aktzeichnungen (die eine oder andere erotische Zeichnung hatte Marie in Verlegenheit gebracht). Aber das, was sie jetzt in den Händen hielt, war anders. Ganz unten aus der Truhe hatte sie diese grün-schwarz eingebundene, an den Kanten beschabte Mappe gehoben. Und die enthielt Bilder von – Heiligenfiguren! Lauter akkurat und aus mehreren Perspektiven gezeichnete Heiligenfiguren! Das fiel nun wirklich aus dem Rahmen. Und dann sah Marie auf das Datum unterhalb einer Signatur. 1943. Sie blätterte weiter. 1943, 1943 … Und da jetzt, 1944 … Aber da war doch Krieg gewesen! Elodie hatte im Krieg Heiligenfiguren gezeichnet? Warum? Und wo? Die stammten garantiert nicht aus einer Kirche, nicht einmal aus einer sehr großen!

Immer erstaunter über die Anzahl der Figuren und die große Präzision der teils mit Aquarellfarbe kolorierten Bilder blätterte Marie den ganzen Stapel durch, war nun fast unten. Da fiel ein kleineres Blatt ihr in die Hände. Sie zog eine Augenbraue hoch. Eine Liste der gezeichneten Figuren. Nach Monaten sortiert. Wie ein Heiligenkalender. Merkwürdig, wirklich merkwürdig.

Sie ließ die Liste sinken und schaute auf die unterste Heiligenzeichnung – heho, das war die Heilige, die vor ihr stand! »Wenn du reden könntest«, warf Marie der Blonden mit der Märtyrermiene bedauernd zu. Dann hob sie die Zeichnung hoch, um sie ins Licht zu halten. Da entdeckte sie, dass doch noch ein letztes Blatt unter ihr verborgen gewesen war. Mit spitzen Fingern nahm sie das Werk aus der Mappe und sah es sich mit gerunzelter Stirn an.

Das war kein Heiliger gewesen. Helle Augen, eine klassisch-gerade Nase, hohe Wangenknochen, ein energisches Kinn. Ja, der Portraitierte war regelrecht schön gewesen – nur – die militärische Mütze mit dem Adlerzeichen darauf, die war doch die eines Deutschen! Marie las hastig das Datum unter der Signatur: 25. Dezember 1943. Weihnachten. Im Krieg! Was hatte Elodie Weihnachten 1943 bei diesem deutschen Offizier gemacht? Hatte er sie gezwungen, ihn zu portraitieren? Aus einer Ahnung heraus wandte Marie das Blatt um. Und da stand es: »Pour mon amour.« Für meinen Geliebten.

Erschrocken ließ sie das Blatt los. Es glitt zu Boden, von wo aus der deutsche Offizier sie höhnisch anzusehen schien. »Nein, das ist unmöglich«, wies Marie sich zurecht und bückte sich nach der schockierenden Zeichnung. Sie verglich die Signatur mit der Schrift auf der Rückseite. Doch ja, dieselbe Schrift, kein Zweifel. Pour mon amour.

»Hier stimmt etwas nicht. Dafür gibt es eine andere, sinnvolle Erklärung«, sagte Marie sich laut, legte fast böse das Portrait zurück in die Mappe, schlug diese zu, warf sie in die Truhe auf den bereits durchgesehenen Stapel, wuchtete die Heiligenfigur darauf, schloss die Schranktüren und drehte den klemmenden Schlüssel. »Nicht zu fassen«, murmelte sie befremdet und beschloss, im Garten Unkraut mit Wurzel auszugraben, anstatt den zweiten Stapel Mappen durchzusehen, der ruhig länger in der Truhe vor sich hinmodern sollte!


Florian hatte die kleinen Straßen genommen. Er hatte die normannische Schweiz kennengelernt, eine Gegend mit sanft geschwungenen Hügeln, weidenden Kühen und Pferden und weiten Aussichten. In der Bucht von Avranches hatte er die berühmte Silhouette des MontSaint-Michel erspäht, jener beeindruckenden Klosteranlage, die auf einer Flutinsel aus Granitfelsen errichtet war und deren höchster Turm wie ein Pfeil in den lichtdurchfluteten Himmel geragt hatte. Dann war er entspannt die Bucht von Cancale entlang gefahren, hatte die alten Windmühlen an den Straßenrändern ebenso bestaunt wie in den kleinen Badeorten die phantasievollen Villen mit ihren Aussichtstürmchen und den großen Balkons. In Saint-Malo hatte er auf der hohen Altstadtmauer gesessen und ein riesiges Eis gegessen, mit Blick auf das glitzernde Meer mit den kleinen Granitinseln darin, bis – und das war ein Schock gewesen – eine große Sturmmöwe ihn attackiert und einen Teil seiner Eiswaffel erbeutet hatte. Zwei äußerst hübsche Bretoninnen hatten ihn gefragt, ob alles »bien« sei; und er hatte die Hürden der Sprachlosigkeit empfunden und kein vernünftiges Wort den beiden Schönen gegenüber herausgebracht.

Später am Tag hatte es dann noch einen Schrecken gegeben, als er die – zumindest kostenfreie – bretonische Autobahn benutzt hatte, aber dafür mit mehr als hundertzehn Kilometern pro Stunde über der Schlucht von Saint-Brieuc geblitzt worden war. Sorry nochmals, Boris. Seitdem fuhr er wieder auf kleinen Straßen; zu weit nördlich, er wusste es, aber er hatte ja Zeit; und die Aussichten, die er soeben genoss, waren atemberaubend. Die ganze Steilküste und die ihr vorgelagerten Inseln, alles war aus rosa Granit! Im goldenen Abendlicht erglühte der Stein fast orangefarben. Die Versuchung auszusteigen, sich auf einen der orange-rosa Felsen zu setzen und den Sonnenuntergang zu erwarten, war schon groß. Aber er widerstand ihr; er wollte nicht erst spät in der Nacht in Mengleuff ankommen.

Andererseits hatte er Zeit genug, um die Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Fortan fuhr Florian langsam, langsamer als erlaubt, und den einen oder anderen Fahrer hinter ihm nervte das. Die meisten überholten ihn einfach und gut war’s. Aber irgendwann war da dieser eine, der sich auf das Lichthupen versteifte. Florian war empört und fuhr erst recht nicht schneller. Da setzte der Hintermann im großen Renault endlich zum Überholen an. Shit. Der Renault blinkte nach rechts, als Signal, auch Florian solle an den Rand fahren. Es war ein Auto der Gendarmerie. Florian blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Er hielt hinter dem Polizeiwagen, und prompt stiegen aus dem gleich zwei Gendarme aus. Florian ließ resigniert die Seitenscheibe herunter.

»Vos papiers!« Der eine der beiden war an sein Fenster getreten und streckte fordernd die Hand aus.

»Sorry, but I wasn’t too fast«, stellte Florian klar, beugte sich aber trotzdem zu seiner Tasche, die auf dem Beifahrersitz lag. Durch das Beifahrerfenster schaute nun der zweite Gendarm in den Cayenne, mit verschränkten Armen, in einer selbstgefälligen Pose. Florian konnte nicht umhin, den Mann halb amüsiert, halb verächtlich anzugrinsen – was der überraschenderweise erwiderte.

Florian reichte dem Gendarm an seiner Seite des Autos seinen Führerschein. Der nahm sich Zeit, das Dokument zu studieren, oder zumindest so zu tun, als täte er das. Dann verkündete er endlich:

»Quatrevingt-dix. Vous pouvez rouler à quatrevingt-dix, pas à soixante. Ninety, d’accord? Bonnes vacances«, der Gendarm nickte und ging tatsächlich zurück zum Streifenwagen.

Florian atmete auf. Der andere Gendarm mit dem unerwarteten Grinsen nickte Florian seinerseits zu, grinste nochmals breit und unwiderstehlich und folgte seinem Kollegen. Florian schüttelte den Kopf und musste lachen.

Wenig später lachte er nicht mehr, denn er hatte sich hoffnungslos verfahren und fand die bretonische Ausschilderung miserabel.


Marie streckte sich und massierte sich den unteren Rücken. Nur noch die Hortensien gießen, dann war es mit der Gartenarbeit genug. Mit beiden Gießkannen ging sie zu der quietschenden Wasserpumpe. Die vollen Kannen schleppte sie um das Haus herum zu ihren geliebten Blumen, die sie reichlich begoss. Kurz begrub sie die Nase zwischen den duftenden Blütenblättern. Eine leichte Brise schien direkt vom Meer hochzuziehen und fuhr ihr durch das verschwitzte Haar. Marie beschloss, noch hinunterzugehen, in ihre kleine Lieblingsbucht am Fuße der Steilküste, und zu baden.


»Plouescat« stand auf dem Ortsschild, an dem Florian vorbeifuhr. Er stoppte und studierte die Landkarte. Verdammt, wo war das? War das Kaff zu klein, um in der Karte verzeichnet zu sein? Im Zentrum von Plouescat wendete Florian und fuhr die Strecke, die er gekommen war, zurück.

Cléder. Kurz darauf passierte Florian die Stelle, an der ihn die Gendarme gestoppt hatten. Saint-Pol-de-Léon, las er einige Zeit später, aber hier hatte er nicht hinfahren wollen. Dann eine Kreuzung. Links ging es nach Santec, rechts nach Plouénan, geradeaus nach Roscoff. Florian entschied sich für Roscoff. Als er das Städtchen erreicht hatte, wusste er, dass er noch falscher war als zuvor. Er war auf einem Zipfel ganz im Norden gelandet; vom Hafen aus meinte er fast, Großbritannien am Horizont zu erahnen. Das konnte aber nur Einbildung sein, das Licht der Abendsonne auf dem Meer blendete ihn.

An einem Restaurant in Hafennähe pries eine Tafel in ungelenken Buchstaben ein Menu touristique für zehn Euro an. Immerhin, das kam gut; Florian hatte großen Hunger und Durst. Er parkte den Cayenne vor dem Restaurant und betrat es.

»Tiens, bonsoir, Monsieur«, begrüßte ihn laut eine Stimme. Der Gendarm, der vorhin seinen Führerschein kontrolliert hatte!

»Bonsoir«, gab Florian perplex zurück.

»Sit down, s’il vous plaît«, forderte der Gendarm ihn auf, und der andere, der mit dem ansteckenden Grinsen, schaute kurz von seinem Teller auf und nickte ihm zu. Sollte er wirklich? Im Grunde hatte er keine Wahl, denn der laute Gendarm winkte schon der Bedienung, die vor Florian ein weißes Papierdeckchen ausbreitete. »Le plat du jour, c’est très bon«, verkündete der Mann dann, bevor Florian etwas sagen konnte.

Achselzuckend fügte Florian sich. Was würde als nächstes passieren? Während er auf sein Essen wartete, entlockte der Laute ihm mit Gesten und einer Mischung aus Französisch und Englisch sein Reiseziel und amüsierte sich köstlich darüber, dass der Deutsche sein Navigationsgerät nicht beherrschte. Dass der Porsche nicht ihm gehörte, wollte Florian nicht erklären. Dann kam die Bedienung mit zwei Gläsern, einem für Wasser und einem für Wein. Prompt bot der Laute Florian Wein an, aber der schüttelte dankend den Kopf und griff nach der Wasserkaraffe.

»Sie trinken unter Polizeischutz, da kann Ihnen nichts passieren.«

Das war plötzlich der andere Gendarm gewesen, und er hatte wieder dieses breite Grinsen im Gesicht.

»Sie sprechen Deutsch?«, stieß Florian aus.

»Ah, lui! Il adore tous ce qui est allemand«, rief der laute Polizist aus.

»Er sagt, ich liebe alles Deutsche. Olivier Rivoal.« Rivoal legte das Messer beiseite und hielt Florian die Hand hin.

Es wurde ein überraschend unterhaltsames Abendessen. Olivier Rivoal erwies sich als zuverlässiger Übersetzer und amüsanter Unterhalter. Es war seine Idee, sie sollten sich nach Feierabend alle (einschließlich Florian) mit den Vornamen ansprechen. Dass sie dabei trotzdem beim »Sie« blieben, belustigte Florian insgeheim. Der andere Gendarm hieß André; und Florians Namen sprachen die Bretonen französisch aus, mit Nasal am Ende.

Nachdem sie bezahlt hatten, fragte Florian Olivier verlegen, ob der ihm helfen könne, das Navigationsgerät des Porsches zu bedienen.

»Warum, Sie können das wirklich nicht?«, fragte Olivier ungläubig.

»Nein. Für gewöhnlich lese ich lieber Landkarten.«

Olivier verkniff sich eine weitere Bemerkung und kam zum Cayenne mit, um im Handumdrehen »Mengleuff« in das Navi einzuprogrammieren.

»Vielen Dank«, sagte Florian erleichtert, nachdem das gemacht war. In diesem Moment überquerte eine Frau mit Hund nahe bei ihnen die Straße.

Es war noch nicht ganz dunkel, das letzte Rot des Sonnenuntergangs am Himmel zu sehen, und Florian konnte erkennen, dass die Frau lange Haare hatte und figurbetonend gekleidet war. Sie warf ihnen, oder dem Auto, über die Schulter hinweg einen neugierigen Blick zu.

»Seien Sie vorsichtig«, tuschelte Olivier.

»Wie bitte? Was meinen Sie?«, fragte Florian laut.

»Ich meine die bretonischen Frauen. Sie sind sehr schön und flirten gern, aber viele sind Zicken«, raunte Olivier.

»Ich will ganz bestimmt nicht flirten«, wehrte Florian ab und wollte schon erklären, dass er verheiratet sei – da durchfuhr ihn die schmerzliche Erkenntnis, dass er im Grunde ja ein Anrecht auf Flirten hatte, da Katharina einen anderen liebte. Was für ein Blödsinn, wies er sich sofort innerlich zurecht. Er war Katharina niemals fremdgegangen, er würde es auch jetzt nicht tun.

Olivier zuckte die Achseln. »Sie wollen nicht flirten? Aber das liegt nicht in Ihrer Hand, Florian, das entscheiden die bretonischen Zicken! Glauben Sie mir, ich weiß Bescheid, ich war mit einer verheiratet!«

Florian lachte gezwungen. Olivier war also ein geschiedener Mann. Armer Kerl.

Sie verabschiedeten sich herzlich voneinander, und Florian ließ sich vom Navi auf die richtige Landstraße leiten.


Die viele Gartenarbeit, das Schwimmen und ein reichhaltiges Abendessen hatten Marie so müde gemacht, dass sie schnell in einen Halbschlaf fiel. Doch in diesem Zustand zwischen Wachen und Träumen tauchte plötzlich das markante Gesicht des deutschen Offiziers auf, den Elodie Weihnachten 1943 portraitiert hatte. Das Gesicht wurde lebendig, die hellen Augen sahen Marie spöttisch an, der Mund bewegte sich zu einem Flüstern. »Mon amour«, hauchte der Offizier Marie zu, die die Augen aufriss und für einen Moment wieder hellwach war. Dann wälzte sie sich im Bett herum und versuchte, an nichts mehr zu denken.


Mengleuff. Erleichtert las Florian den winzigen Wegweiser, der nach rechts in die unbeleuchtete Nacht wies. Zuletzt war er durch Telgruc gefahren, ein Nest, von dem Boris gesagt hatte, Mengleuff sei fast ein Teil davon, so nahe liege es dabei. Von wegen! Aber gut, er hatte sein Ziel trotz allem gefunden. Der Cayenne holperte in eine Senke. Erste links, Rechtskurve, dann links auf den Hof einbiegen und du stehst vor dem Haus, hatte Boris gesagt. Das Navi war bereits am Ziel angekommen; einen Straßennamen und eine Hausnummer hatte Olivier nicht eingeben können, weil es in Mengleuff beides nicht gab.

Müde lenkte Florian den breiten Wagen in ein Gässchen, das immer enger wurde. Dann kam die angekündigte Rechtskurve und Florian fühlte sich stark beengt, als er zwischen dichten Büschen hindurchfuhr. Er sorgte sich um die Rückspiegel und lauerte auf die Hofeinfahrt, die er endlich erahnte, hinter einem weiteren großen Busch. Erleichtert zog er daran vorbei, registrierte aber erschrocken, dass die Pflanzen an dem Cayenne kratzten. Hoffentlich war der Lack nicht beschädigt, Boris würde ihn sonst killen! Florian parkte direkt vor dem kleinen Bruchsteinhaus, das im Scheinwerferlicht angestrahlt wurde, ehe es in der Nacht versank, als er den Motor ausmachte.


Hatte sie das tiefe Brummen eines Motors gehört? Mitten in der Nacht? Unmöglich. Marie wälzte sich auf die andere Seite und versuchte, endlich zu schlafen.

1 Setze ein Dach, wenn du baust, wenn du baust, setze ein Dach.

4. Erste Eindrücke

Staub tanzte in dem Lichtstrahl, der durch die Dachluke eindrang. Staub bedeckte den Nachttisch neben dem Bett. Staub überzog wie Puderzucker den Schirm der Lampe, die auf dem Nachttisch stand, und Staub lag als sichtbare Schicht auf dem Dielenboden. Florians Blick blieb an dem schweren Schrank aus dunklem Holz hängen, der die karge Einrichtung vervollständigte. Der war nicht nur mit Staubflocken bedeckt. Die Fäden eines immensen Spinnennetzes spannten sich von seinen oberen Kanten zur Zimmerwand. Die war aus Feldstein und nur bis auf Mannshöhe verputzt. Weitere Spinnweben zierten die alten Dachbalken und den Rahmen der Dachluke. Die Spinnen selbst bevölkerten gut sichtbar ihre Behausungen.

Danke, Boris, dachte Florian. Und in diesem Moment freute er sich auf das Gesicht seines Kompagnons, wenn der das belgische und die – wie viele waren es? – drei? –, also die drei französischen Strafmandate erhalten würde …

In der letzten Nacht hatte Florian nur noch Strom und Wasser in Betrieb gesetzt und herausgefunden, wo eine Toilette war (Erdgeschoss neben Treppenaufgang; historisches Toilettenbecken mit Kette) sowie das nächstliegende Waschbecken (keines im Toilettenraum, dafür in der Küche). Nun stieg er aus dem Bett, stakste auf den Fußballen über den schmutzigen Boden. Vielleicht hatte er nicht genug geschlafen, ihm fröstelte es; im Schrank mit den Spinnweben fand er einen nur leicht versifft aussehenden Bademantel, den er überzog, und ein paar Schlappen.

Er verließ das Schlafzimmer und erkundete die Räume des Hauses bei Tageslicht. Oben, dem Schlafzimmer gegenüber, fand er eine Rumpelkammer und ein Bad mit Warmwasserboiler und einer Badewanne unter der Dachschräge, mit Wasserhahn und Duschschlauch. Sollte man da etwa im Liegen duschen? Unten befanden sich, abgesehen von der famosen Toilette, die Küche und der Hauptraum des Hauses, der dominiert wurde durch einen langen Esstisch aus massiver Eiche. Dieser Tisch war das erste Möbelstück, das Florian in Boris’ Haus gefiel. Die kleine Wohnecke am allerdings imposanten Kamin hingegen – nun ja; sie bestand aus einer verblasstroten Sitzgarnitur, einer niedrigen Truhe mit einem dickleibigen Fernsehgerät darauf und einem Rattanregal mit ein paar Büchern. Florian zog eines heraus und blies die Staubflocken fort. Ein Bretagne-Reiseführer, auf Deutsch. Immerhin.

Die Küche war ebenso staubig, von Spinnen bewohnt und museumsreif eingerichtet wie der Rest des Hauses. In einem Hängeschrank, dessen Tür ihm beinah ins Gesicht schlug (eine Halterung fehlte) fand Florian wider Erwarten ein paar Lebensmittel: eine Packung Spaghetti, eine Dose Kekse und ein Glas Kaffeepulver; doch das Pulver roch seltsam, und die Kaffeemaschine sah auch nicht vertrauenserweckend aus. So saß Florian am Ende an dem kleinen Tisch mit der Resopalplatte, eine bretonische Trinkschale mit seinem deutschen Schnellkaffee vor sich, den er zubereitet hatte mit Hilfe seines Gießener Wasserkochers. Hoffentlich vermisste Katharina den – hoffentlich vermisste Katharina ihn, ging es Florian durch den Kopf, und er fühlte sich wie zerschmettert.

Aus Frust aß er die halbe Dreihundert-Gramm-Dose der gefundenen Kekse auf, »Galettes bretonnes, pur beurre«. Sie schmeckten erstaunlich lecker. Und dann kam ihm eine Idee, was er tun konnte, um zumindest vorübergehend das Gefühl der Vereinsamung und Trostlosigkeit beiseitezuschieben, das Besitz von ihm ergriffen hatte, und etwas Sinnvolles zu tun. Er holte das Tagebuch seiner Oma und die Tabelle zum Dechiffrieren der alten Schrift.

Im Wohnzimmer setzte er sich an den großen Tisch. Behutsam, neugierig und furchtsam zugleich schlug er das alte Buch auf und begann, angestrengt zu entziffern: »15. August 1942. Die Marineschule war große Klasse. Jetzt geht es in den Krieg, ich weiß gar nicht, ob ich mich freuen soll.« Die weißen Kreuze, Colleville-sur-Mer, der Soldatenfriedhof. Freude auf den Krieg?! Stockend entzifferte er weiter, fand mühsam in die ungewohnten Schwünge, Bögen und Haken der Offenbacher Schrift hinein, vergaß die Zeit und die Umgebung um sich und allmählich wurde aus dem Entziffern ein langsames Lesen und die Geschichte seiner Oma vor Florians innerem Auge lebendig …

Mit einem lauten Schnaufen kommt die Dampflok vor ihnen zum Stehen. Hektische Betriebsamkeit herrscht um sie herum auf dem Bahnhof von Stralsund. Auf dem Bahnsteig sind sie angetreten, die sechzig Funkhelferinnen, darunter Marlene.

Marlene ist stolz und etwas aufgeregt. Fertig dazu ausgebildet, den Funkverkehr mit der U-Bootwaffe zu führen und feindlichen Funkverkehr aufzuzeichnen, wartet sie mit ihren Kameradinnen auf den ersten, echten Einsatz! Ihre Aufgabe ist verantwortungsvoll, hat man ihr und den anderen eingebläut. Die U-Boote müssen die Feinde von der europäischen Küste fernhalten und die Konvois des Nachschubs für das Reich sichern. Ja, der Krieg – jetzt wird es ernst damit. Nicht nur für die Blitzmädchen, wie die Landser die jungen Funkhelferinnen nennen. Neben ihnen stehen hundertzwanzig frisch gebackene Unteroffiziere der Marine am Gleis. Die Stimmung ist angespannt, aber freudig. Alle wissen, der Krieg ist in die entscheidende Phase getreten. Seitdem die deutschen Truppen an der Atlantikküste stehen, ist er so gut wie gewonnen! Fahren sie bis dorthin, bis an den Atlantik?

Der Waggon, der die Funkhelferinnen zu ihrem Einsatzort bringen soll, ist ein betagter Passagierwaggon, mit Plattformen an beiden Enden. Die Fenster sind mit dunklem Papier verklebt. Marlene trägt einen großen Koffer, ihre Kameradin und alte Freundin Gisela einen Seesack über der Schulter.

»Ich wollte, ich hätte auch so einen Seesack«, seufzt Marlene.

»Wenn du willst, tauschen wir, ich hätte lieber einen Koffer«, lacht

Gisela und rempelt Marlene absichtlich leicht an.

»He«, protestiert die und beeilt sich, hinter Gisela das Abteil zu betreten.

Die Abteile sind einzeln, für jeweils sechs Personen. Jedes hat eine eigene Tür zum Bahnsteig. Durch den Waggon gehen, wie es in den modernen Zügen der Reichsbahn möglich ist, geht hier nicht.

Im Abteil, das sie mit Traute (ausgerechnet!) und drei weiteren Kameradinnen teilen, zieht Gisela sofort ihr Federmesser aus der Tasche und schneidet ein Loch in das Tintenpapier, das auf die Fenster geklebt ist.

»Was machst du, das ist verboten«, protestiert Traute, die so gerne ein Spielverderber ist.

»Du brauchst ja nicht rausgucken«, versetzt Gisela und grinst.

»Hört auf zu streiten«, mahnt Marlene und lässt sich gegenüber

Gisela auf den Fensterplatz fallen.

In der Abteiltür erscheint Leutnant zur See Rosen. »Nun, die Damen, alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragt er, und als sie ihm das versichert haben, wirft Rosen mit Schwung die Abteiltür zu.

»Haben wir ein Glück, dass der mitfährt«, seufzt Gisela und lockert sich die Schulter, über der sie den Seesack getragen hat. Rosen ist ein schneidiger Bursche, blond, aber mit dunklen Augen; die Funkhelferinnen schwärmen für ihn.

Um neun Uhr setzt sich der Zug in Bewegung. Im Zentrum des Reichs ist vom Krieg nicht viel zu spüren. Alles ruhig draußen, der Zug nimmt rasch Fahrt auf und gut zwei Stunden später stehen die Waggons auf dem Anhalterbahnhof in Berlin.

»Berlin!«, ruft Marlene sehnsüchtig aus und schaut zu Gisela.

»Wir werden nicht aussteigen dürfen«, gibt die bedauernd zurück. In diesem Moment wird die Abteiltür aufgerissen. »Sie dürfen sich jetzt am Bahnhof die Beine vertreten, der Zug zu Ihren Einsatzorten wird im Laufe des Tages zusammengestellt und dann soll es morgen früh weitergehen«, verkündet Rosen mit strahlendem Lächeln.

»Wo schlafen wir denn?«, will Gisela wissen.

»Ihr Waggon ist ein Schlafwagen, die Sitze werden zu Liegen gemacht und dann können Sie darauf schlafen«, erklärt Rosen.

Marlene und ihre Kameradinnen gehen in der großen Bahnhofshalle spazieren. Es herrscht reger Betrieb, viel Feldgrau ist zu sehen. Soldaten, die auf Heimaturlaub sind; Soldaten mit Marschbefehlen in das ganze Reich, aber auch ein paar Zivilisten, vorwiegend Frauen, eilen zu ihren Zügen. Die vielen Uniformen und die Plakate mit Aufschriften wie »Feind hört mit«, »Gib, was du kannst, für das Winterhilfswerk« sind aber das einzige, was daran erinnert, dass Krieg herrscht.

Den Nachmittag verbringen die Funkhelferinnen aus Marlenes Abteil mit Spielen. Verpflegung kommt aus der Gulaschkanone. Am Abend richten die jungen Frauen bald ihre Betten und gehen schlafen.


Was ist das? Von draußen hört Marlene das Getrappel vieler Stiefel. Das hat sie geweckt. »Gisela, bist du wach?«, fragt sie ins Dunkel. Jetzt sind Flugzeuge zu hören – Explosionen!

»Wir müssen raus«, ruft jemand; dann gibt es viel Gedränge im Abteil, bis sie sich auf den Bahnsteig schieben. Dort hallen Kommandorufe wider, Rosen eilt auf sie zu. »Es gibt nicht genug Schutzräume«, ruft er ihnen aufgeregt entgegen. »Der Feind kommt aus dem Westen. Die Bolschewiken haben keine Flugzeuge mit solcher Reichweite!«

Die Flieger scheinen gleich über dem Bahnhof zu sein, wie nah und laut die Explosionen über ihnen! Aber dann – nein, Marlene irrt sich nicht – entfernen sich die feindlichen Flieger. Ist die Gefahr vorbei? Wirklich? Doch nach Minuten scheint es wirklich so. Die Frauen sehen sich an, wollen wieder in ihr Abteil gehen.

Gisela drückt Marlene flüchtig die Hand.

»Meinst du, unser Viertel …«, beginnt Marlene besorgt …

Florian hielt inne. Was sollte das heißen, unser Viertel? Die Funkhelferinnen waren in Berlin – seine Oma stammte aus Wetzlar! Ein flaues Gefühl beschlich ihn. Er hatte nicht einmal geahnt, dass seine Oma im Krieg Funkhelferin gewesen war, und jetzt wollte das Tagebuch ihn mit einer weiteren überraschenden Information konfrontieren? Er kannte doch seine Oma – meinte doch, sie zu kennen! Mit neuer Anspannung las er weiter.

»Meinst du, über unserem Viertel …«, beginnt Marlene besorgt, aber bevor Gisela antworten kann, ruft Rosen von hinten: »Wir warten noch! Vielleicht kommt noch eine Angriffswelle.«

Müde und verstört warten Marlene und ihre Kameradinnen eine ganze Zeit lang, bis Rosen endlich Entwarnung gibt.

»Der wollte sich doch nur wichtigmachen«, schimpft Gisela, endlich im Abteil.

Marlene liegt noch lange wach. Sie ist im Krieg. Sie hat den Bombenangriff unversehrt überstanden. Und ihre Familie? Neuigkeiten von daheim werden sie erst erreichen, wenn sie an ihrem Einsatzort ist und den Eltern geschrieben hat, wo sie sich befindet.

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