Kitabı oku: «Woanders am Ende der Welt», sayfa 5
»Erzähl!«
»Dann mach dich auf das Schlimmste gefasst.«
Florian streckte die Beine unter dem Tisch aus. Das musste ein gutes Restaurant sein, die Terrasse war voll, und er hörte um sich nur Französisch: lauter Einheimische. Zum Glück hatte er einen der Tische am Rand der Terrasse erwischt, von dem aus er die Aussicht zum Meer hin genoss. Die Sonne stand noch immer hoch am Himmel und spiegelte sich auf dem stillen Wasser des Hafenbeckens; am Horizont zeichneten sich die Silhouetten der tour Vauban und der kleinen Kapelle ab. Im roten Wehrturm war er nicht gewesen, aber in der Kapelle. Dass die Engländer ihr den Turm abgeschossen hatten, 1697, hatte ihn weniger beeindruckt als die MG-Einschusslöcher im Dachgebälk. Das waren, dem Reiseführer nach, Spuren der Befreiung Camarets durch die Amerikaner.
Aber es war ein zu schöner Abend, um über den zweiten Weltkrieg nachzugrübeln und über das Tagebuch seiner Oma. Der Kellner kam und Florian gab seine Bestellung auf. Er hatte sich für die Meeresfrüchteplatte entschieden; so etwas war hier sogar erschwinglich.
»Am liebsten würde ich den Typ vergraulen, und zwar schnellstmöglich! Hast du keine Idee, wie ich das machen könnte?« Marie sah Isabelle flehentlich an.
»Nein, aber weißt du was? Ich bin froh, dass dieser neue Nachbar da ist.«
»Wie bitte?«
»Wie es scheint, lenkt der dich von deinem Kummer ab.«
»Wie meinst du das jetzt?«, fragte Marie verblüfft.
»Den ganzen Abend hast du nur über einen Mann gesprochen, und es ist nicht der, von dem ich gedacht hatte, eine Menge zu hören.«
»Hm. Vielleicht ist sogar etwas dran. Vielleicht habe ich heute wirklich weniger an – ihn gedacht …«
»Kannst du wirklich nicht einmal seinen Namen aussprechen?«
»Doch«, sagte Marie langsam, »heute Abend vielleicht schon. Sylvain.« Sie wartete, aber die gewohnten Tränen wollten nicht kommen. Also holte sie tief Luft und begann, erstmals einem anderen Menschen von ihrer Trennung zu erzählen.
Florian riss die Augen auf, als die Meeresfrüchteplatte vor ihn gestellt wurde. »This is for one person?«, hakte er beim Kellner nach und hob einen Finger. Der Kellner nickte, wünschte ihm »bon appétit« und ließ ihn mit der Pyramide von Meeresfrüchten allein. Na denn, sagte sich Florian und musterte die ungewohnten Bestecke, die neben der Meeresfrüchteplatte ihrer Benutzung harrten. Vorerst griff er dann doch zur herkömmlichen Gabel und pulte eine Miesmuschel aus ihrer Schale. Miesmuscheln hatte er schon gegessen, mit denen kam er klar; für den Hummer gab es die Schere, für die Austern das Messer und die Spießchen mussten für die Meeresschnecken sein. Er würde das schon in den Griff kriegen.
»Sag mal, du lachst doch nicht über meine Probleme?«, fragte Marie schroff ihre Freundin.
Isabelles Gesicht wurde ernst. »Blödsinn, ich lache doch gar nicht, und schon gar nicht über dich! Was denkst du! Ich habe jedes Wort über dich und den Dreckskerl gehört! Ich lache nur ein bisschen über den da. Dreh dich mal unauffällig um. Er sitzt schräg rechts hinter dir. Unauffällig!«
Marie tat es – und ließ die Gabel los, die in die Hummersauce fiel. »Oh nein!« stieß sie hervor, aber nicht wegen der Soßenspritzer auf ihrem T-Shirt.
Isabelle, die den Ausruf ihrer Freundin noch anders interpretierte, beteuerte nachdrücklich: »Doch, das ist es ja eben. Das macht der schon die ganze Zeit! Der hat von Meeresfrüchten keine Ahnung«, sie kicherte. Der Mann, den sie beobachtet hatte, kämpfte eben mit der Schere, die ihm helfen sollten, den Hummer zu bewältigen. Besonders geschickt war er aber nicht …
Marie beugte sich zu ihrer Freundin vor und zischte: »Das ist er!«
»Wer?«, fragte Isabelle laut zurück.
»Na er – der Panzerfahrer und Hortensienmörder!«, raunte Marie entnervt.
»Echt?« Isabelles Blick schoss noch einmal zu dem Mann hin. »Der sieht gar nicht aus wie ein Deutscher«, stellte sie fest.
Marie verdrehte die Augen. »Warum, weil er nicht blond ist?«
»So oder so, der ist niedlich. Was ist der für ein Sternzeichen?«
Marie starrte ihre Freundin an. »Niedlich? – Mal ehrlich, willst du unbedingt ein Dessert? Ich würde gern gehen.«
»Du bist viel zu emotional, wie immer«, bemerkte Isabelle. »Ist doch nicht schlimm, wenn dein Nachbar zufällig im selben Restaurant mit uns sitzt. Ich werde jedenfalls nicht wegen ihm auf mein Dessert verzichten. Und das solltest du auch nicht.«
»Na toll, soll ich dir vielleicht seine Telefonnummer beschaffen?«
»Das Sternzeichen würde mir vorerst genügen.«
»Aïe!« Etwas Hartes hatte Marie am Hinterkopf getroffen. Sie hob das Geschoss vom Boden auf. Eine Meeresschnecke. Langsam wandte sie sich um. Auch er sah zu ihr – sein Gesicht annähernd so rot wie der Hummer auf seinem Teller.
»Sorry. Aus den Fingern geflutscht«, rief er zu ihnen hinüber und lächelte zerknirscht.
»Wirklich süß«, gluckste Isabelle. Aber Marie war der Appetit vergangen und sie setzte sich bald damit durch, das Restaurant ohne Dessert zu verlassen und ihrer Freundin stattdessen ein italienisches Eis in der Waffel zu spendieren.
Florian tat es leid, seine Nachbarin und ihre Freundin gehen zu sehen. Er hätte sich gerne richtig bei ihr entschuldigt – für sämtliche »Pannen« des Tages. Er hätte sie zu etwas einladen sollen, zu einem Nachtisch oder einem Wein. Aber plötzlich schien diese Marie es ja sehr eilig zu haben; und er kämpfte seinerseits noch immer mit seinem Hummer und Co … So blieb Florian noch einige Zeit im Chez Philippe und rundete sein Festmahl zuletzt mit einer köstlichen Mousse au chocolat blanc ab. Die war leichter zu essen; mit Löffeln kannte er sich aus.
Auf seinem Rückweg nach Mengleuff musste Florian später anhalten und aussteigen. Wegen des Sonnenuntergangs, über einer Bucht. Die Sonne war eben hinter der Horizontlinie des Meeres versunken; trotzdem war die Atmosphäre noch voller Licht. Durchdrungen von einem Licht, das intensiv violett war. Der Himmel hatte dieselbe Farbe wie das Meer. Nur durch die gekräuselte Spur der Wellen konnte man Wasser und Luft voneinander unterscheiden. Dann riss plötzlich die dünne Wolkenschicht auf und legte den kristallklaren Abendhimmel frei, transparentes Blau mit einem Hauch Gelb-Orange … Florian überkam eine Gänsehaut angesichts dieses bezaubernden Naturschauspiels. In diesem Moment meldete sein Handy, das er ohne zu überlegen nach dem Restaurantbesuch eingeschaltet hatte, eine Nachricht. Auf dem Display sah er ihren Namen: Katharina.
Er hatte eben an Katharina gedacht, den magischen Augenblick mit ihr teilen wollen, nun meldete sie sich von sich aus. Sofort las er ihre SMS: »Wo bist du? Es gibt viel zu regeln! Ich will die Scheidung.« Etwas in Florians Bauch zog sich zusammen, und es war nicht der Hummer. Er versuchte tief durchzuatmen, den plötzlichen Brechreiz zu bekämpfen. Aus einem Impuls heraus startete er einen Rückruf – die Mailbox ihres Handys sprang an, sie hatte das Gerät ausgeschaltet.
»Scheiße! Verdammt, Katharinaaa!«, schrie er ihren Namen über das Meer; aber was nützte das? Sie war tausendzweihundert Kilometer weit weg, und innerlich noch viel weiter …
Marie hatte gleich gewusst, dass es regnen würde. Wenn der Sonnenuntergang so violett war, kündigte das einen Wetterwechsel an. Sie zog die Strickjacke fester um sich und setzte sich mit der Mappe auf das alte Bettgestell vor dem Altar-Schrank.
Es war mitten in der Nacht, aber wie so oft konnte Marie keinen Schlaf finden. Daher fing sie an, in Elodies alten Mappen zu blättern. Denn einen Stapel davon hatte sie ja noch nicht durchgesehen, und die Neugier war stärker als die Abschreckung durch das unheimliche Fundstück von neulich, das Portrait des deutschen Offiziers. Und so saß Marie da, bis sie dreizehn Mappen durch hatte. Alles Modezeichnungen, aus den neunziger bis fünfziger Jahren (nach unten hin wurden die Mappen des Stapels älter). Eine beachtliche Sammlung. Und dazwischen, immer wieder, Portraits, Portraits, Portraits. Gesichter von Menschen, die Marie nie gekannt hatte. Bis sie zur letzten, untersten Mappe kam. Und das waren keine Modezeichnungen mehr, nein; das waren die Zeichnungen der ganz jungen Elodie, aus der Bretagne!
Marie war zutiefst bewegt, als sie vertraute Landschaften wiedererkannte – gewisse Blicke von der hiesigen Steilküste; nahe Wegekreuzungen mit Kalvariensteinen; knorrige alte Apfelbäume – und ihr Haus, von der Rückseite! Und da, da war auch die Wasserpumpe! Noch nicht sichtbar verrostet. Wie seltsam, sie so auf Papier zu sehen, festgehalten von Elodies jugendlicher Hand! Und dann … Zutiefst gerührt hob Marie das Blatt heraus, ein Portrait ihres papys als Junge. Dem Datum nach war der kleine Erwann zwölf Jahre alt gewesen; aber diesen wachen und verschmitzten Blick, den kannte sie gut, das war noch immer ganz der ihres papys!
Lange konnte sie sich von dem Anblick dieses Bildes nicht lösen; als sie es doch beiseitelegte, erschien darunter ein verblasstes Schwarz-Weiß-Foto, auf dicke Pappe gezogen. Ein Mann mit schwarzem Haar und Schnurrbart; er trug eine Seemannsuniform. Um eine Ecke des Fotos war ein schwarzes Trauerband geklebt. Marie ahnte, wen sie vor sich hatte. Sie wandte das Foto um. Da stand es, in Elodies Handschrift: »Andenken an meinen geliebten Vater.« Marie schluckte. Ihr Urgroßvater Cadiou war bei einem Unwetter auf See ertrunken. Wann war das gewesen? Sie wusste es nicht genau.
Unter dem Trauerfoto lagen noch ein brauner Postumschlag und darunter vereinzelte Postkarten, anscheinend von Freunden an Elodie geschrieben, viel später, als sie bereits in Paris lebte. Marie hatte keine Lust mehr, das weiter durchzusehen. Sie fühlte sich ausgelaugt, vielleicht würde sie jetzt schlafen können.
Eine wahre Sturzflut prasselte auf das Dach; eingelullt von dem Tosen, schlief Marie wirklich bald ein.
Vergeblich wälzte Florian sich im Bett herum. Ihm gingen die Worte durch den Kopf, die er noch eben gelesen hatte. Seine Oma hatte ihre ersten Eindrücke von der »Fremde« beschrieben; sie hatte von dem Heimweh geschrieben, von der Sehnsucht nach ihren Eltern und von der Einsamkeit in ihrer Kammer, im Haus einer schweigsamen Witwe namens Madame Keroas. Einsamkeit in der Fremde, ja, das konnte er nachvollziehen. – Seine Oma hatte so genau geschildert, wo ihr Quartier in Telgruc gelegen hatte; würde er das Haus dort noch finden, am Kirchplatz?
Lange lag er noch wach, dachte mal an Katharina, mal an die junge Marlene, allein im Haus der Witwe Keroas. Er konnte innerlich nicht abschalten, obwohl er zutiefst erschöpft war. Er lag nur da und lauschte, lauschte auf das Prasseln des Regens auf dem Dach, eines Regens, der plötzlich losgegangen war, mit Urgewalt, niemals hätte Florian mit Regen gerechnet… Er schlief ein.
2 Die drei traurigsten Dinge auf Erden: Ein Herd ohne Feuer, Ein Tisch ohne
5. Gute Freunde
Florian ging auf die Rückseite des Hauses. Das Gras durchnässte ihm Schuhe und Strümpfe. Die Hände in die Seiten gestemmt, sah er nach oben und meinte zu erkennen, wo das Problem lag: Zwei Schieferplatten des Daches hatten sich gelöst und waren heruntergerutscht. Er fand sie unweit seiner nassen Füße im Gras. An einer der Platten war eine Ecke abgebrochen, die andere war unversehrt. Wenn er auf das Dach kletterte, konnte er versuchen, sie an ihren Platz zurückzuschieben. Unter der oberen Schieferschicht verkantet, würden beide Platten vorläufig halten; wenn er Glück hatte …
In der Gerümpelkammer des Hauses hatte er eine Leiter entdeckt, er ging sie holen. Wieder im Garten, stellte er die Leiter an die Hauswand, nahm die Schieferplatten an sich und stieg hinauf.
Die Stelle mit dem Loch lag höher, als es von unten ausgesehen hatte. Florian musste bis auf die oberste Sprosse der Leiter steigen. Nicht nach unten sehen, beschwor er sich; er hatte Höhenangst. Das Dach war glitschig. Nun lag er bäuchlings darauf und spürte, wie die Nässe in seine Kleider kroch. Vorsichtig streckte er sich, so weit es ging, er wollte nicht durch falsche Bewegungen weitere Schieferplatten zum Fallen bringen. Die Platten waren in gebogene Nägel geschoben, aber diese Nägel waren verrostet. Behutsam schob er die erste Schieferplatte an ihren Platz. Sie hielt. Dadurch motiviert, schob er die zweite daneben. Prompt fiel ihm die erste entgegen und schlitterte an ihm vorbei das Dach hinunter. »Mist«, knurrte Florian zwischen den Zähnen und fing zumindest die andere auf. Er schob sie wieder nach oben, drückte – sie schien zu halten. Oder doch nicht? Aber sie musste! Mit einem Ruck stellte Florian sich auf die Zehenspitzen und drückte den rechten Arm durch, um die Platte mit etwas Gewalt unter die darüber liegende zu zwingen. Da rutschten seine Zehen von der Leiter; er suchte vergeblich Halt, stürzte …
Nach dem Aufprall auf dem nassen Erdboden fragte er sich kurz, ob seine bisherige Reparatur funktioniert hatte und wo die vom Dach geschlitterte Platte lag. Dann erst spürte er einen stechenden Schmerz im Handballen.
Marie hielt sich die Ohren zu, es half nicht. Das Bollern hörte nicht auf. Dann war sie wach genug, um zu verstehen, dass das Geräusch von der Tür kam. War das schon Pierre? Der wollte erst um zehn kommen. So spät konnte es noch nicht sein?
Sie raffte sich auf und ging nach unten. Müde öffnete sie dir Tür – kein Pierre. Aber sie sah gleich, was los war. Sie wollte nicht, aber es musste sein. Sie ließ den Deutschen hinein.
Der humpelte zum erstbesten Stuhl am Esstisch und ließ sich darauf fallen. »Yvonne Le Roux hat gesagt, ich soll zu Ihnen gehen«, erklärte er matt, wie zur Entschuldigung.
Ohne ein Wort zu verlieren, füllte Marie eine Schüssel mit warmem Wasser und griff sich ein sauberes Tuch. Sie schüttelte den Kopf, als sie das bakterienverseuchte Ding sah, das er sich um die blutende Hand gewickelt hatte, und entfernte den blutgetränkten Lappen mit geschickten Fingern. Aïe. Das sah schmerzhaft aus. Prüfend sah sie dem Deutschen in das Gesicht, es war weiß wie ein Laken. »Sie können kein Blut sehen«, stellte sie fest.
»Zumindest nicht meines.« Er stöhnte auf, als sie seine Hand bewegte, um den langgezogenen Schnitt durch den Handballen aus einem anderen Winkel zu untersuchen.
»Es ist nicht tief«, murmelte sie.
Florian zwang sich, auf seine Hand zu sehen. Alles voller Blut, er konnte da gar nichts erkennen. »Haben Sie das gesehen, ja?«, fragte er skeptisch.
Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen. Abwesend bemerkte Florian, wie groß und dunkel Maries waren, mit langen, gebogenen Wimpern.
Marie lächelte grimmig. »Nicht weinen, das ist nicht tödlich. Ich wasche es aus… Et voilà. Nicht tief, sehen Sie?«
»Lieber nicht.«
Wortlos ließ sie seine Hand los und ging ins Badezimmer, um Desinfektionsmittel, Klammerpflaster und Verbandszeug zu holen. Das würde genügen, zu nähen war nichts. Das deutsche Ekel hatte wirklich Glück. Es war ihr Vater, der leidenschaftliche Arzt, der seinen Töchtern eingebläut hatte, man müsse stets Klammerpflaster und Verbandszeug im Haus haben.
Als Marie aus dem Bad zurückkehrte, hing der Deutsche buchstäblich in den Seilen, genauer über der Stuhllehne. Der wollte jetzt nicht auch noch ohnmächtig werden? Der musste reden, damit er bei der Stange blieb! Also wusch Marie die Wunde nochmals aus und begann dabei mit einem kleinen Verhör. »Was ist passiert?«
»Da war … Au! Da waren Schieferplatten herausgerutscht … Wasser im Haus … Ich bin hochgestiegen, um das zu reparieren … Aber ich bin abgerutscht und habe mich an etwas geschnitten, an einer scharfen Schieferplatte oder einem rostige Nagel oder was weiß ich … Alles ging so schnell. Ist die Verletzung schlimm?«
Er sah sie an, wie … Irgendwie hatte dieser erwachsene Mann etwas von einem kleinen Jungen. Pah, geschah ihm ganz recht. Marie setzte ein strenges Gesicht auf. »Die Hand muss – wie sagt man für amputer?«, fragte sie.
»Amputieren?! Ach so, kleiner Scherz, ja?« Florian versuchte, tapfer zu lächeln, auch wenn er Maries Humor etwas morbide fand.
Grimmig sah sie von den blauen Kinderaugen zurück auf die Wunde. »Ich tue das darauf«, sie hielt ihm die Flasche Desinfektionsmittel vor die Nase. »Achtung, das brennt«, kündigte sie mit einer gewissen Genugtuung an.
Die Hand in der ihren zuckte bei dem Kontakt des Wattestäbchens mit der Verletzung, aber der Deutsche gab keinen Laut von sich. Marie griff zum Klammerpflaster.
»Es tut mir wirklich leid mit Ihren Hortensien«, murmelte er jetzt und schaute sie treuherzig an.
Was war nur los mit ihr? Sie würde doch jetzt nicht auf diese Jammerlappennummer reinfallen und weich werden? Energischer als nötig klammerte Marie die Wunde zusammen, wobei der Verletzte zischend die Luft ausstieß.
»Sie denken vielleicht, wir sind nun Freunde, weil ich Sie verbinde, aber das ist nicht wahr! Sie haben meine Hortensien getötet und das ist Ihnen egal, in Wahrheit! Sagen Sie nicht das Gegenteil. Leuten mit solchen Autos glaube ich nicht! Und ich will sie nicht als Nachbar. C’est clair? Die Hand! Für den Verband!« Marie streckte wütend ihre Hand nach seiner aus; er hatte sie ihr vor Schreck entrissen.
»Die Hand«, wiederholte sie ungeduldig. Weil er sie ihr nur zögerlich reichte, berührten ihre Fingerspitzen sich plötzlich ganz leicht – und beide zuckten zurück. Verwirrt sahen sie sich in die Augen, dann beide gleichzeitig weg. Keiner der beiden kommentierte das durchkribbelnde Gefühl bei der Berührung. Kein Schmerzgefühl; damit hatte es nichts zu tun gehabt.
»Also, die Hand?«, fragte Marie vor Schock extra patzig.
Florian reichte sie ihr noch einmal. Beide atmeten auf. Vielleicht, weil Marie gleich kräftig zugegriffen hatte, kam es nicht noch einmal zu unpassenden Nebenwirkungen.
Was war das eben, fluchte Marie innerlich und konnte nicht umhin, beim Bandagieren zu bemerken, wie groß seine Hand in ihrer war, aber dennoch feingliedrig, mit für einen Mann merkwürdig zarten Fingern. Nicht die Hände eines Mannes, der damit arbeiten muss, folgerte sie – und ärgerte sich sofort über sich: Was ging es sie an, ob dieser Mann Bauarbeiter oder kein Bauarbeiter war? Marie schnaubte und zog den Verband allzu fest zu.
»Hey, geht das etwas behutsamer?«, brachte Florian heraus. Wie konnte jemand mit so kleinen Händen und geradezu zart aussehenden Fingern dermaßen brutal zupacken?!
Wütend funkelte sie ihn an, lockerte den Verband aber.
»Ist doch wahr. Eine deutsche Ärztin hätte mich vorsichtiger verbunden«, murmelte Florian entnervt. Warum konnte sie ihn immer nur böse anstarren?
Marie grinste und sagte sanft: »Ich bin Veterinär.«
Sie wechselten kein Wort mehr, bis der Verband befestigt war. Endlich stand der Deutsche auf und ging zur Haustür. Er hielt
schon die Klinke, wandte sich aber noch einmal um. »Hören Sie«, begann er, »Sie haben mir geholfen, dabei wissen Sie gar nicht, wer ich bin. Mein Name ist Florian Reinart. Und Sie heißen Marie, nicht wahr?« Er wartete auf eine Antwort, aber Marie verschränkte nur die Arme und sah ihn schief an.
»Na gut. Dann Entschuldigung für gestern und nochmals danke für heute. Ich meine es ernst. Aufrichtigen Dank.«
Marie nickte ganz leicht, das musste ihm wohl genügen. Also nickte auch er und ging.
Sobald der Deutsche aus dem Haus war, stöhnte Marie auf. Zu viel Aufregung für einen Morgen. Und bald kam Pierre! Hastig räumte sie das Verbandszeug weg und ging duschen.
Draußen, im Hof vor Boris’ Haus, standen zwei alte Clios, einer weiß, der andere rot. Ein Mann und eine Frau warteten vor der Haustür. Nun kam der Mann, untersetzt und grauhaarig, auf Florian zu. »Monsieur Reinart?«, rief er. »Bonjour. Monsieur Rapp m’a téléphoné.«
Der Verwalter, es gab ihn wirklich! Er stellte sich als Monsieur Le Guern vor und die Frau als Madame Tanguy. Madame Tanguy würde putzen. Florian atmete auf. Zumindest etwas, das sich von selbst regelte.
»A propos, the roof is damaged«, Florian zeigte auf das Dach.
Der Verwalter und die Putzhilfe sahen sich an, dann ihn; dann ließ Le Guern etwas von »téléphoner« und »Monsieur Rapp« fallen. Na gut, das Dachproblem würde sich offenbar nicht so schnell und schon gar nicht von allein lösen. Florian senkte den Kopf und ging voran in das Haus.
»Salut, Marie!« Pierre Manac’h strahlte sie an und beugte sich hinunter, um ihr die bises zu geben. Er roch stark nach Aftershave.
»Du bist früh«, stellte Marie fest und schob ihn weg. »Willst du einen Kaffee?«
Pierre lachte. »Na, das ist ja eine schöne Begrüßung dafür, dass wir uns das letzte Mal vor einem Monat gesehen haben und ich zum ersten Mal in deinem Haus bin!«
Marie seufzte. »Ich weiß, ich weiß. Isabelle hat gestern auch schon die Gekränkte gespielt. Aber ich musste eben mal ganz allein sein.«
»Jetzt entschuldige dich bloß nicht. Ich versteh’ schon, was mit dir los war.« Er lächelte sie mitfühlend an.
Marie lächelte leise zurück. Das liebte sie so an ihrem besten Freund: Er zickte nie lange rum und war immer für einen da, wenn man ihn brauchte.
Sie führte ihn durch das Haus, erklärte ihm, welche Möbel zum Schrottplatz mussten und welche aus Brest zu holen waren und kochte ihm einen Kaffee. Er hatte sich extra frei genommen, ließ er beiläufig fallen; sie sah ihn dankbar und schuldbewusst und ein wenig forschend an. Manchmal wusste sie nicht genau, ob Pierre aus Freundschaft allein so immer für sie da war.
Florian fragte sich, was er mit seinem Vormittag machen sollte. Weggehen, solange die Putzfrau da war, wollte er nicht. Im Tagebuch seiner Oma lesen? Aber bei dem Brummen des Staubsaugers konnte er sich doch nicht konzentrieren, und er war obendrein hundemüde. Nun stoppte das Geräusch des Saugers und Madame Tanguy erschien, um vielsagend einen zum Bersten vollen Staubsaugerbeutel in die Höhe zu halten.
»Verstehe. Sie brauchen einen neuen«, interpretierte Florian die Geste. »Wait, please – attendre, s’il vous plaît!«
»Attendez«, korrigierte Madame Tanguy.
»Attendez«, murmelte Florian verlegen und huschte an der Putzfrau vorbei die Treppe hoch. Irgendwo in der Rumpelkammer hoffte er Staubsaugerbeutel zu finden.
Nachdem er tatsächlich fündig geworden war, verließ er mit dem vollen Beutel das Haus, um nach einer Mülltonne zu suchen. Er ging einmal um das Haus herum, aber da war keine. Als er mit seinem Beutel ratlos inmitten des Hofes stand, rollte ein schrottreifer VWBus Baujahr 1970 oder so langsam an ihm vorbei. Das Fenster auf der Fahrerseite war heruntergekurbelt, Florian konnte nicht anders, als hineinzusehen. Sein Blick kreuzte den eines Womanizers mit Locken und Dreitagebart. Auf dem Beifahrersitz saß Marie.
War ja klar, dass so eine Frau einen Freund hatte; aber so einen? Das war ganz klar einer von denen, die sich selbst am meisten lieben. Nun, was regte er sich auf? Konnte ihm doch egal sein, mit wem die sich abgab …
»Wer war der Typ mit dem Müllbeutel und dem bohrenden Blick?«, wollte Pierre wissen, nachdem er um die Kurve gebogen war.
»Der Nachbar. Ein Deutscher.« Marie zuckte die Achseln. Etwas hielt sie davon ab, mehr ins Detail zu gehen.
»Ist der okay?«, hakte Pierre nach. »Der guckte so komisch.«
»Ich kenne ihn kaum«, gab Marie ausweichend zurück.
»Ich mag keine Typen mit solchen Protzautos«, verkündete Pierre.
»Ich auch nicht«, sagte Marie entschieden, und das ließen beide so stehen.
»Schön ist Brest nicht«, stellte Pierre dann fest, als sie eine Dreiviertelstunde später durch das Zentrum der Großstadt fuhren. Elodies muffige Couch hatten sie unterwegs entsorgt; sie waren auf dem Weg zu Maries Wohnung.
»Nein, schön ist Brest nicht«, stimmte Marie zu. »Aber es ist voller Leben. Eine echte Studenten- und Arbeiter- und Hafenstadt, da langweilt man sich nie.«
»Soll die Rue de Siam nicht etwas verrucht sein?«, raunte Pierre.
»Unbedingt. Eine echte Hafenstraße. Wenn du brav bist, nehme ich dich mal mit.«
»Ist das ein Versprechen?«
»Wenn du darauf bestehst …« Marie lachte. Aber etwas störte sie heute an seinen Blicken, seinem Tonfall.
Sie hatten Glück, direkt vor dem Eingang des Häuserblocks, in dem Marie gewohnt hatte, fanden sie einen Parkplatz.
Das Gebäude sah von außen heruntergekommen aus, von innen war es in Ordnung gewesen. Marie hatte ihre Wohnung sowieso nur als Zwischenlösung angesehen (das allerdings seit Jahren). Die Wohnung aufzugeben, war jetzt nur schwer wegen der Erinnerungen an Sylvain. Wie oft war er heimlich bei ihr gewesen … Etwas von seiner Präsenz haftete noch an den fast gänzlich entleerten Räumen. Deshalb hatte Marie Angst davor, die erinnerungsgeschwängerte Wohnung nochmals zu betreten. Aber mit Pierre würde es gehen.
Mit Pierre und mit Kev, ihrem durchgeknallten Ex-Nachbarn. Der half ihnen, ihre Couch – ihre eigene, geliebte Kuschelcouch! – die drei Stockwerke hinunter zu schleppen. Die Couch war so groß, dass sie gerade mal so in den VW-Bus passte, Kühlschrank und Bett würden sie in einer Extrafahrt holen müssen. Aber damit hatte Pierre schon gerechnet.
»Dein Ex-Nachbar war komisch«, bemerkte er auf dem Weg aus der Stadt hinaus.
Marie lockerte sich Schulter- und Nackenmuskulatur und meinte: »Kev ist okay. Der lebt nur in zwei Welten gleichzeitig, ein bisschen in unserer und viel mehr in einer virtuellen. Der bräuchte eine Freundin. Jemanden, der ihn erdet und ihm einen Schubs in die richtige Richtung gibt«, analysierte Marie.
»Ja. Die richtige Frau an seiner Seite ist für jeden Mann wichtig, lebenswichtig«, betonte Pierre und sah Marie dabei durchdringend an.
Leicht irritiert hob sie eine Braue und gab ihrem besten Freund keine Antwort.
Florian sah auf die Uhr. Fast zwölf, er hatte schon den Eindruck gehabt, das Putzen würde niemals ein Ende nehmen. Doch nun war Madame Tanguy endlich fort, und er hatte Hunger. Er musste dringend einkaufen. Das Beste war, er fuhr dazu nach Telgruc. Und ja, dann konnte er dort auch nach dem Haus suchen, in dem die junge Marlene einst gewohnt hatte … Eine merkwürdige Aufregung überkam ihn bei dem Gedanken, das von seiner Oma Beschriebene, das bislang nur als Bild in seiner Vorstellung existierte, bald mit dem leibhaftigen Auge zu sehen.
Er wollte schon in den Porsche steigen, da rollte ein anderes Auto auf den Hof. Ein schwarzer VW Golf, nicht neu, aber gewienert. Wer war das? Irgendwie kam ihm der Fahrer bekannt vor.
»Bonjour, Florian Reinart!«, rief der Ankömmling aus, zog die
Sonnenbrille ab und zeigte ein unwiderstehliches Grinsen.
»Olivier Rivoal!«, erkannte Florian jetzt den freundlichen Gendarm, »heute nicht in Uniform?
»Nein, ich habe Urlaub. Da dachte ich, ich sehe nach, ob die Porsche den Weg nach Mengleuff gefunden hat.«
Sie schüttelten sich die Hände, wobei Olivier erschrocken auf Florians verbundene Linke sah. »Was haben Sie, eine Verletzung?«, erkundigte er sich sofort.
»Ich bin vom Dach gefallen, aber gut verarztet worden, es ist nicht so schlimm«, winkte Florian tapfer ab. »Ich wollte eben nach Telgruc, etwas essen. Wollen Sie mitkommen?«
»Gut, aber wir nehmen die Porsche, nicht wahr?«
»Den Porsche? Na gut.«
»Der Porsche, d’accord – die Artikel in Ihrer Sprache sind sehr, sehr schwer zu lernen! Aber die deutschen Autos sind wirklich die besten«, begeisterte Olivier sich dann beim Anschnallen.
Florian startete den Wagen. »So? Boris, der Besitzer des Hauses, würde Ihnen zustimmen. Das hier ist nämlich sein Auto. Er hat es mir geliehen.«
»Warum?«, fragte der Gendarm, beinahe ungläubig.
Florian musste lächeln. »Weil mein Auto in der Werkstatt ist. Boris wird es morgen abholen. Wir haben getauscht, sozusagen.«
»Dann ist er ein sehr guter Freund von Ihnen, Boris?«
Du fragst gar nicht, was ich für ein Auto habe, dachte sich Florian, verkniff sich aber eine Bemerkung. Stattdessen antwortete er: »Boris ist jedenfalls ein sehr guter Kollege. Und ihm gehört, wie gesagt, das Haus, das Sie gesehen haben.«
»Tiens?« Olivier zog ungläubig die Augenbrauen hoch.
»Warum erstaunt Sie das jetzt?«
»Ich dachte, die Deutschen sind ordentlich.«
»An dieses Vorurteil würde ich nicht unbedingt glauben«, gab
Florian schmunzelnd zurück.
Sie fanden einen Terrassenplatz in einer Brasserie am Kirchplatz. Das war günstig; hier ganz in der Nähe musste das einstige Quartier seiner Oma sein. Sie hatte von ihrer Kammer aus direkt auf den
Kirchturm gesehen, hatte sie geschrieben.
Sie bestellten beide das Tagesgericht, ein Meeres-Cassoulet mit verschiedenen Fischsorten. »Und was haben Sie vor, in Ihren vacances?«, fragte Olivier und schenkte Florian Weißwein ein.
»Wollen wir uns nicht einfach duzen?«, fragte Florian zurück und probierte den Wein. »Hm, nicht zu herb, nicht zu fruchtig; sehr gut.«
Olivier legte den Kopf schief. »Très bien, mein Freund«, sagte er langsam. »Aber du musst aufpassen. Wenn du einen Franzosen zu schnell anredest mit du, findet er das aufdringlich. Wenn du einen Bretonen zu schnell anredest mit du, findet er das aufdringlich und er wird misstrauisch. Die Bretonen waren Jahrhunderte auf ihrer Halbinsel unter sich. Sie misstrauen den Fremden.«
»Also, bretonische Frauen sind zickig und Bretonen insgesamt sind misstrauisch gegenüber Fremden. Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«, fragte Florian amüsiert.
»Ah, du hast dir behalten, dass Bretoninnen Zicken sind. Das ist gut. Bretonen sind außerdem stur und rebellisch«, versicherte Olivier.
»Misstrauisch, stur und rebellisch; wenn weiblich, dann außerdem zickig. Warum bist du noch nicht ausgewandert?«, schmunzelte Florian und lehnte sich zurück.
»Ich weiß nicht«, Olivier schien nachzudenken. »Ich liebe das
Meer«, sagte er dann. »Und ich bin einer von ihnen.« Er grinste.