Kitabı oku: «Woanders am Ende der Welt», sayfa 8

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Sie hatte den Eindruck, sich setzen zu müssen; genau in dem Moment setzte er sich, und zwar in den Schatten eines Nazi-Mauerrests, und nun blätterte er in einem schwarzen Heft. Marie wollte gar nicht wissen, was das für ein Heft war! Und diesen Mann – Marie wurde von Schamgefühl überkommen –, diesen Mann hatte sie vorgestern, widerwillig immerhin, beinah sympathisch gefunden; aber nein, es war schlimmer: Bei der Berührung ihrer Finger hatte buchstäblich etwas zwischen ihnen gefunkt!

Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging. Sie hatte keine Lust mehr auf wandern.


Vergeblich versuchte Florian sich vorzustellen, wie dieser Berg mit der sagenhaften Aussicht unter deutscher Besatzung ausgesehen hatte. Hier war seine Oma hingeschickt worden, um irgendeinem Offizier diese merkwürdig nichtssagende Nachricht des Obersts zu überbringen. Er holte die Kladde aus dem Rucksack hervor. Also noch einmal, wie war das alles gewesen? Da war die Passage, so hatte alles angefangen …

Marlene ist im Büro des Obersts, auf der Kommandantur. Sie ist überrascht, fast erschrocken darüber, dem hohen Befehlshaber gegenüberzustehen. Er ist noch nicht lange da, gerade eine knappe Woche. Vorher war er im Landesinneren gewesen, Kommandant auf Schloss Trévarez, eine zentrale Schaltstelle der deutschen Besatzung. Mehr weiß Marlene von ihm nicht. Was will er von ihr, einer einfachen Funkhelferin? Sie weiß nicht, was sie erwartet.

Der Oberst fragt, ob sie schon einmal auf dem Ménez-Hom war. Sie bejaht das. Er legt ein Couvert vor ihr auf den Tisch. Es ist versiegelt. Es enthalte eine Botschaft für Oberstleutnant Hähnel. Ob sie sich den Namen merken könne? Jawohl, das kann sie. Die Botschaft sei persönlich abzugeben, an den Oberstleutnant selbst. Der Oberst legt einen von ihm unterzeichneten Passierschein daneben. Er soll den Durchlass zu Hähnel garantieren.

Marlene nimmt beide Dokumente mit klopfendem Herzen an sich. Warum gerade sie? Doch Befehl ist Befehl.

Als sie zögernd stehenbleibt, will der Oberst wissen, ob sie noch Fragen habe. Ja. Wie soll sie auf den Berg kommen? Sie kann nicht fahren. Der Oberst ruft Leutnant Rosen herein. Rosens Blick streift sie, dann steht Rosen vor dem Oberst stramm. Dem verdankt sie also ihre Mission, ahnt Marlene. Als ob sie seine Bevorzugung wollen würde! Rosen erhält den Befehl, einen Fahrer und ein Fahrzeug bereitzustellen. Nach einigen Minuten erscheint er mit einem Jungen. Viel mehr als das ist der Kriegsgefangene nicht. Es ist der, der Marlene zugezwinkert hat, als sie vor Monaten in Telgruc ankam. Aus der Entfernung hat sie ihn seitdem hin und wieder gesehen.

Der Oberst hebt skeptisch die Augenbrauen. Aber Rosen sagt: »Das ist ein fixer Junge. Fährt jedes Fahrzeug, spricht Französisch und sogar etwas Deutsch. Stimmt’s, Erwin?«

»Jawohl«, sagt der Junge, der bestimmt nicht Erwin heißt, und seine Mundwinkel zucken. Macht er sich über Rosen lustig? Und das vor dem Oberst?

»Der Erwin ist zuverlässig«, betont Rosen, »der ist in seiner Gesinnung fast deutsch.«

»Breiz a tao?«, fragt der Oberst. Marlene hat von den bretonischen Nationalisten gehört, die für Hitler sind, weil sie glauben, der Führer überlasse ihnen nach dem Endsieg die Bretagne.

»Nein«, hebt Rosen an, aber …« Den Rest versteht Marlene nicht, weil Rosen sich zum Oberst beugt und flüstert.

Der Junge tut ganz unbeteiligt.

»Gut«, beschließt der Oberst.

Man hat ihnen einen Kübelwagen gegeben. Sie fahren langsam vom Hof, an einer Gruppe Soldaten vorbei. »He, Erwin«, ruft einer, »grüß deine Schwester von uns! Lad sie mal ein!« Die Soldaten lachen. Warum? Was ist mit seiner Schwester? Verstohlen sieht sie den Jungen an. Der beißt sich auf die Lippen.

Schweigend brausen sie die Landstraße entlang, als der Wind plötzlich da ist, urplötzlich. Kein Wind – ein Sturm! Wütende Böen rütteln am Wagen. Es ist, als hätte man das Licht ausgemacht. Sie hätten noch knappe zwei Stunden Tageslicht haben müssen, aber mit einem Mal ist es fast dunkel. Wie schnell die Wolken bleigrau geworden sind! Erste Tropfen fallen auf die Windschutzscheibe. Marlene fröstelt.

Der Junge lenkt den Kübelwagen konzentriert durch die Kurven. Der Weg steigt allmählich an. Dann erkennt Marlene die Kreuzung, an der sie links abbiegen müssen – die Straße zum Gipfel des Berges.

Sie haben mehr als die Hälfte des Weges geschafft, doch am liebsten würde Marlene umkehren. Das hier ist erst die Ruhe vor dem Sturm, ahnt sie, und jetzt schon fühlt sie sich in dem bebenden Wagen auf dem kahlen, einsamen Berg ungeschützt und verloren. Unsicher blickt sie zu dem Jungen hinüber, doch der sagt nichts. Er hat das Tempo gedrosselt, oder der Wagen kann nicht mehr schneller, denn der Sturm peitscht ihnen entgegen. Kiesel, Sand, die Zweige von Buschwerk schlagen prasselnd auf das Glas der Windschutzscheibe. Kann ein Kübelwagen von bloßem Wind fortgerissen werden, schießt es Marlene durch den Kopf?

Ein Blitz zuckt über den Himmel. Der Donnerschlag, der unmittelbar folgt, ist eine Explosion. Dann geht es los. Hagelkörner schlagen auf sie nieder, die Scheibenwischer stocken im Druck von zu viel Ansturm, die Atmosphäre ist fast schwarz um sie, mit orangefarbenen Schimmern, nur wenn die Blitze den Himmel überziehen, leuchtet fahl die karge Landschaft auf und das niedergedrückte Gras wird für Bruchteile von Sekunden grell sichtbar. Dann tut es einen Schlag, eine Bewegung vor ihnen, der Junge reißt den Lenker herum, der Wagen steht – was war das?! Der Junge öffnet die Tür des Fahrzeugs, der Wind reißt sie ihm aus der Hand, Hagelkörner springen in die Fahrerkabine, das Tosen ist noch lauter hörbar. Der Junge springt hinaus – Marlene folgt ihm. Der Sturm ergreift sie, sie fasst nach der Tür, die plötzlich auf sie zuschlägt, doch sie fühlt sich zur Seite gerissen. »Ça va?«, ruft der Junge. Dann zeigt er nach vorn: »Der Baum!«

Der Baumstamm liegt quer über der Straße. Ein bloßer Pfahl, ohne Äste, die Reste eines toten Baums. Wäre das Ding auf das Verdeck des Kübelwagens gefallen, sie hätten selbst tot sein können. Das ging noch einmal gut. Aber jetzt kommen sie hier nicht weiter.

Der Junge schiebt sie zurück in den Wagen. Mit Mühe gelingt es ihm, die Tür zu schließen. Jetzt sitzen sie fest, auf halber Höhe dieses entsetzlichen Berges, der der Hölle gleicht! Marlene hat Angst. So etwas hat sie noch nie erlebt, nicht für denkbar gehalten. Sie krallt die Hände in die Sitzbank, jedes Mal, wenn ein neuer Donnerschlag ihr die Ohren zerreißt. Der Wagen steht, aber er vibriert verdächtig, manchmal ruckt er so, dass sie denkt, nun reißt der Sturm sie fort in das Tal. Und dann, dieser Auftrag! Selbst wenn sie es könnte, sie darf nicht zurück. Sie muss ja nach da oben!

»Wir warten«, sagt der Junge und lächelt ihr zu. Zaghaft lächelt Marlene zurück.

Sie weiß nicht, wie lange sie schon da sitzen. Das Unwetter tobt mit unablässlicher Wucht. Nur hagelt es nicht mehr. Regenfluten stürzen auf sie herab. Blitze überziehen noch immer den Himmel, der nun komplett schwarz ist. Marlene hält sich noch immer mit beiden Händen am Sitz fest.

»Du hast Angst?«, fragt der Junge.

Sie sollte ihm das vertrauliche »Du« verweisen. Aber die Frage kam so freundlich. Marlene schießen Tränen in die Augen. Die Frage kam wie von einem Freund. »Ja«, sagt sie und wendet das Gesicht ab.

»Ça ira«, hört sie den Jungen sagen, »es wird gehen.«

»Ich hoffe, es wird bald weggehen«, versucht Marlene ein Wortspiel. Sie weiß nicht, ob der Bretone das versteht.

»Bald heißt bientôt, nicht wahr?«

Marlene bejaht das.

»Es wird bald weggehen«, behauptet der Junge. »Aber nicht sehr bald«, fügt er hinzu.

»Das dachte ich mir.«

Sie sitzen wieder eine lange Zeit schweigend. Marlene ist in ihren Gedanken zuhause, bei ihren Eltern, von denen sie seit Wochen nichts mehr gehört hat.

»Jetzt wird es bald weggehen«, verkündet der Junge nach einiger Zeit und reißt sie aus ihren Träumen.

Ach ja? Noch immer regnet es in Sturzbächen, es blitzt und donnert. Aber es stimmt, die Abstände dazwischen sind größer geworden, und der Kübelwagen ruckt nicht mehr so bedrohlich im Sturm.

»Nach oben?«, fragt der Junge.

»Ja, nach oben«, gibt Marlene entschlossen zurück.

»Auf einem anderen Weg«, sagt er.

»Gut«, stimmt sie zu. Ihr ist bewusst, dass der Erfolg ihrer Mission damit ganz von dem Jungen abhängt. Sie weiß nicht, wo sie sind und wie sie jemals den Gipfel erreichen sollen.

Der Junge dreht den Zündschlüssel. Nichts. Er versucht es noch einmal. Der Motor des Kübelwagens bleibt stumm. »Dame, ha!«, schimpft der Junge.

Marlene ist erschrocken. Nun hängen sie wirklich fest, in Nacht und Einöde. Sie friert und ist hungrig. Und sie hat einen Auftrag. »Was machen wir?«, rutscht es ihr heraus. Sie schämt sich, sie weiß, sie sollte Befehle erteilen.

»Warte«, sagt er und springt hinaus, in das verregnete Chaos. Marlene reißt ihre Tür auf. »Wo willst du hin?«, schreit sie, sie kann

ihn nicht sehen.

»Warte im Auto«, hört sie ihn, dann nichts mehr. Marlene schließt die Wagentür. Jetzt ist sie allein.


Marlene hat sich auf dem Sitz zusammengerollt, die hochgezogenen Knie hält sie zwischen den Armen. Sie hat einmal versucht, aus dem Wagen zu steigen und zu Fuß Richtung Gipfel zu gehen, aber sie musste nach wenigen Metern zurück in den Schutz des Wageninneren. Sie weiß nicht, ob der Junge zurückkehren wird. Wahrscheinlich nicht. Warum sollte er? Es ist seine Chance, der Kriegsgefangenschaft zu entfliehen.

Obwohl sie steif vor Kälte ist, nickt sie ein. Ein Geräusch bringt sie zu sich – das Geräusch eines Motors. Sie rappelt sich auf, öffnet die Tür. Ein gelbliches Licht ist hinter dem Wagen aufgetaucht – der Scheinwerfer eines Motorrads

»Tu viens?«, ruft der Junge.

Während sie ungelenk aus dem Laster klettert, fragt Marlene sich, wo er das Motorrad herhat. Nun hat er es gewendet. Sie steigt hinter ihm auf. Sie ist noch nie Motorrad gefahren. Zögernd legt sie die Arme um ihn. Dann ruckt es, als er Gas gibt, und sie drückt sich fester an ihn.

Er fährt nicht schnell, trotzdem reißt die Luft an ihnen, es ist noch genug von den stürmischen Windböen da. Der Regen peitscht ihr in das Gesicht, sie drückt den Kopf auf die Schulter des Jungen. Sie fahren bergab. »Wir müssen hoch«, ruft sie ihm ins Ohr.

»Je sais«, ruft er zurück.

Sie legt das Gesicht wieder auf die schützende Schulter. Sie gleiten durch Nacht und Regen. Es fühlt sich nach Gefahr an, aber es ist kein nur schreckliches Kribbeln. Bis sie von der Straße abbiegen. Plötzlich hüpft das Motorrad, sie fahren über Erde und Stein. Das Hinterrad rutscht manchmal kurz weg, auf dem nassen und unebenen Boden, Marlene muss sich mit aller Kraft ihrer taub werdenden Hände am Jungen festhalten, um nicht vom Beifahrersitz zu gleiten. Lange wird sie diese Fahrweise nicht mehr aushalten. Doch sie fahren bergauf – es kann nicht mehr weit sein?

Ein Donnerschlag lässt sie zusammenzucken. Marlene fällt auf, wie lange nur noch das Prasseln des Regens und das Rattern des Motors zu hören gewesen waren, sonst nichts mehr. Wo kommt der Donner erneut her? Ein Netzwerk von Blitzen überspannt den Himmel. Sie sieht eine Mondlandschaft um sich, ohne Bäume, hier und da weiße Formen, Gestein. Der Junge flucht, stoppt das Motorrad. »Ça recommence«, stellt er fest.

Es geht wieder los, ja, Marlene sieht es. Das Motorrad steht, mit laufendem Motor.

»Ist es noch weit?« schreit Marlene, um den Donner zu übertönen. Aber in dem Moment weiß sie schon selbst, dass der Gipfel des Berges zu weit unter diesen Umständen ist.

»Nach unten! Wir müssen!«, hört sie den Jungen.

»Ja«, ruft sie. Und dann geht es wieder los. Der Wind ist kein Wind mehr, er nimmt ihnen den Atem, der Junge hat Mühe, das Motorrad auf seiner Spur zu halten, sie rasen bergab, der Junge bremst nicht, er weiß, es ist ein Wettlauf mit der Zeit, das Unwetter wird schlimmer werden! Es ist ein Sturzflug, Marlene hat Panik, zigmal meint sie, sie stürzen, aber es geht immer weiter, sie springen über etwas, das im Weg lag, das Motorrad kommt schlingernd wieder auf, und weiter, nach unten, immer weiter, nur geben Marlenes jetzt taube Hände nach, sie spürt es … Der Junge schreit etwas, sie kann ihn nicht verstehen, aber es wirkt: Sie nimmt sich zusammen, drückt ihre Finger, die sie nicht mehr fühlt, um den Körper zusammen, an den sie sich festhält, der ihr einziger Halt ist.

Dann rollen sie plötzlich über Asphalt. Das Motorrad beschleunigt. Die Hoffnung gibt Marlene neue Energie. Sie spannt den schmerzenden Körper an, das Motorrad jagt einen Hügel hinauf, sie rollen langsamer, dann an einer Mauer vorbei auf weichen Untergrund. Die Räder drehen durch, lassen Schlamm auffliegen, dann greifen sie, und langsam schlingern sie auf ein Gebäude zu. Sie halten an der Wand der Kirche.

Mit zittrigen Beinen steigt Marlene ab. Fast sinkt sie zu Boden. Sie ist am Ende. Sie lehnt sich an die Kirchenwand, neben das Motorrad. Der Junge nimmt sie am Ellenbogen, zieht sie mit sich. Sie gehen immer an der Kirchenwand entlang, dann stoßen sie auf ein Portal. Der Junge drückt die schwere Klinke, zu Marlenes Überraschung schwingt das Portal auf. Sie treten ein.

Es riecht muffig. Die Kälte ist nicht geringer als draußen. Doch es ist trocken hier, und das Tosen des Unwetters dringt nur gedämpft durch die dicken Mauern.

Der Junge bewegt sich sicher durch den finsteren Raum, springt über etwas hinweg. Dann ein Zischen, eine Flamme. Das Zündholz erlischt, doch wird sein kleines flackerndes Licht durch das warme, größere einer Öllampe ersetzt. Wo kommt sie her? Der Junge steht hinter einer Balustrade. Er steht in einem hellen Glanz, der nicht nur von der Lampe herkommt. Marlene staunt. Sie tritt näher an die Balustrade heran. Goldgeflimmer überall, Augen, die über sie hinweg in die Kirche schauen, dramatische Gesten, rote und blaue und gelbe Gewänder – es sind nur die Statuen von einem Altaraufbau, aber der erstreckt sich über den Lichtschein der Öllampe hinaus über die ganze Rückwand der Kirche.

»Voilà«, der Junge reicht ihr etwas über die Balustrade, es ist weich, eine Decke. Marlene legt sie sich ungelenk um. »Komm«, fordert der Junge sie auf und leuchtet ihr den Weg bis zum Altar, wo die Balustrade sich öffnet. Marlene scheut sich ein wenig davor, den Altarbereich zu betreten, aber der Junge nimmt sie an der Hand und zieht sie zu sich. Er stellt die Öllampe auf den Boden und macht Marlene Zeichen, sich zu setzen. Dann lässt er sich neben sie fallen.

»Die Schuhe«, sagt er schlotternd und zieht seine Schuhe aus. Marlenes Finger sind taub. Der Junge muss ihr helfen, ihre durchnässten Schuhe auszuziehen. »Die Jacke«, sagt er dann mit klappernden Zähnen. Er zieht seine aus und hängt sie über die Balustrade, dann die von Marlene. Der Junge wickelt sie fest in ihre Decke. »Le reste séchera«, versichert er.

»Ich glaube nicht, dass hier etwas trocknet«, antwortet Marlene, deren Zähne ebenfalls klappern.

»Tu parles français?«, bringt der Junge heraus.

»Ein wenig.«

Sie schweigen, lauschen dem Gewitter da draußen und dem Klappern ihrer Zähne. Die Decke tut gut, aber sie reicht nicht aus. Und der Junge hat gar keine.

»Tu as froid?«, bringt er nach einer Weile schlotternd hervor.

»Weniger als du«, sagt Marlene. Sie wickelt sich aus ihrer Decke und reicht ihm einen Teil. Er rückt näher an sie heran und sie legen die Decke um sie beide. Es ist das erste Mal, dass Marlene einem Jungen so nah ist. Sie berührt aus Versehen seine Hand, sie ist eiskalt. Nach und nach hört Marlene auf zu zittern und die Erschöpfung überwältigt sie. Im Halbschlaf lässt sie sich fallen, gegen den Jungen, wie sie noch restweise wahrnimmt. Er fühlt sich angenehm warm an.


Ein Lichtschein dringt durch ihre geschlossenen Augen. Blinzelnd versucht Marlene zu erkennen, was los ist. Jemand leuchtet ihr in das Gesicht. Der Junge brummt wie ein verschlafenes Kind, das nicht geweckt werden will. Dann plötzlich ist er doch wach, springt auf, verfängt sich in der Decke. Er sagt etwas zu der Person mit der Lampe. Die Worte kann Marlene nicht verstehen, sie sind bretonisch. Aber die Stimme des Jungen klingt erleichtert. Er kennt den Eindringling offenbar.

Leise stellt der dem Jungen knappe Fragen. Er leuchtet ihr erneut voll in das Gesicht. Marlene dreht sich fort. Sie versteht: Der Fremde will wissen, was sie hier zu suchen hat. Wer ist das? Was macht er hier, mitten in der Nacht? Will auch er sich vor dem Unwetter schützen? Was machte er dann da draußen? So lange nach Sperrstunde! Wer schleicht nach der Sperrstunde noch herum, wenn nicht …? Diese Decke und diese Öllampe in der einsamen Kapelle, die nicht abgeschlossen war. Marlene drückt sich mit dem Rücken an die Balustrade, an der sie lehnt, intuitiv zieht sie die Decke um sich zusammen. Weglaufen würde nicht helfen. Wohin sollte sie? Sie meint, in der Hand des Mannes, die er in seiner Jackentasche hält, etwas Eckiges, Großes zu erkennen – eine Waffe. Es ist kein Problem für den Fremden, sie auf der Stelle zu töten. Niemand sieht es, niemand hört es. Marlene schaut flehentlich zu dem Jungen.

Überraschend ruhig antwortet der dem Fremden. Ist seine Ruhe nur vorgetäuscht? Marlene weiß es nicht, aber sie fühlt sich selbst ein wenig ruhiger. Sie beobachtet den Mann, dessen Züge sie, noch immer geblendet von der Lampe, nicht ausmachen kann. Doch auch er hat aufgehört mit seinen brüsken Schritten vor und zurück, mit seinen zackigen Gesten. Er hört den Erklärungen des Jungen zu, den Rechtfertigungen, warum sie, Marlene, hier ist. Ihr Herz pocht wild. Der Mann ist noch nicht zufrieden mit den Erklärungen, seinerseits hebt er zu einer Rede an, es klingt wie ein Sermon, er liest dem Jungen die Leviten, aber nicht mehr so böse, mehr wie ein großer Bruder den kleinen zurechtweist. Der Junge hört sich alles an, dann sagt er wieder ein paar Sätze in diesem Tonfall, der eine so große Ruhe ausstrahlt.

Der Fremde senkt den Kopf. Jetzt wird über sie gerichtet, weiß Marlene. Noch kann sie aufspringen, durch die dunkle Kapelle rennen, sich zumindest nicht wie ein zusammengekauertes Kaninchen erschießen lassen. Sie fängt einen Blick des Jungen auf. Hat er ihr zugezwinkert?

Der Mann brummt etwas vor sich hin und boxt den Jungen gegen die Schulter. Der legt dem Mann einen Arm um den Hals. Der Mann gibt ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. Dann stellt er ihre Öllampe ab und geht. Marlene sieht ihm nach, wie er im Dunkeln außerhalb des Lichtkegels verschwindet. Sie kann es kaum fassen. Da dreht sich der Fremde noch einmal um und sagt etwas, das ermahnend klingt, trotz allem bedrohlich. Marlene will, dass er endlich weggeht! Das Kirchenportal schlägt zu. Danke, lieber Gott. Sie ist nicht besonders gläubig, aber sie wiederholt innerlich ihr Stoßgebet.

Der Junge setzt sich neben sie, sie reicht ihm seinen Teil der Decke und er legt ihn wortlos um sich. Er lächelt ihr zu. »Alles gut«, sagt er. Ja, sie weiß das. Sie hat keine Scheu mehr davor, sich an ihn zu lehnen, den Kopf an seine Schulter. Sie schließt die Augen und schläft wieder ein.


Sie wacht auf, weil etwas fehlt. Seine Wärme, sein Geruch. Marlene schaut um sich. Dämmerlicht erfüllt die Kapelle. Sie steht auf, er ist fort. Ja, fort, seine Jacke und Schuhe liegen nicht mehr an ihrem Platz. Natürlich, jetzt endlich hat er die Gelegenheit ergriffen zu fliehen.

Marlene zieht ihrerseits Jacke und Schuhe an. Alles noch klamm, aber nicht mehr triefend. Sie tritt vor die Kapelle. Die Sonne steht noch niedrig, ein leichter Dunst liegt über der Erde. Aber regnen tut es nicht mehr. Es riecht nach Feuchtigkeit und Laub – zum ersten Mal riecht es nach Herbst, nach Oktober. Marlene wandelt von der Kirche fort, um sich einen versteckten Ort für ihr Bedürfnis zu suchen und die steifen Glieder zu bewegen. Sie geht einmal um die Kapelle herum. An der Frontseite, am Rande der Landstraße, steht der Junge neben dem Motorrad, dessen Sitze er mit dem Ärmel abwischt. »On y va?«

Marlene strahlt ihn an. Sie kann nicht anders.

Sie besteigen das Motorrad und brausen los. Das Wasser der nassen Straße spritzt unter ihren Reifen. Sie sehen den Sonnenaufgang nicht, die Sonne ist ihnen im Rücken. Aber sie sehen ihren eigenen langen Schatten, der vor ihnen her huscht. Und sie sehen das Licht der Sonne. Sie fahren aus dem Dunst heraus, und die Sonne färbt die Landschaft vor ihnen goldgelb. Es ist ein lebendiges Goldgelb, nicht das feierliche, verfallend-alte des Altaraufbaus in der Kirche. Das goldgelbe Licht tönt die Farne, die Büsche, die Bäume, die weiten Wiesen um sie herum noch grüner. Der gelbe Stechginster am Straßenrand glüht ihnen entgegen, rauscht an ihnen vorbei, liegt schon wieder hinter ihnen. Goldgelb glänzend erstreckt sich zu ihrer Linken das Meer.

Sie rasen die Straße entlang, bergauf, bergab, neigen sich in die Kurven, Marlene fühlt sich schwerelos, frei wie eine Möwe. Sie möchte auch schreien wie eine Möwe, aber sie tut es nicht. Sie legt ihren Kopf auf seiner Schulter ab, nur noch einmal. Sie wünscht, dieser Augenblick möge nie zuendegehen.

Das Motorrad verlangsamt, als Telgruc vor ihnen auftaucht. Der Junge hält an. Marlene begreift. Sie steigt ab. Jetzt ist der Moment des Abschieds gekommen. Sie weiß nicht, was sie empfinden soll. Sie ist wie ein Seemann, der wieder festen Boden unter den Füßen hat, fühlt noch den Rausch dieser einzigartigen Fahrt. Aber da sind noch die anderen Gefühle … Sie steht neben ihm, sie sehen sich an, keiner sagt etwas. Dann grinst er plötzlich und fragt: »Comment t’appelles-tu?«

Marlene nennt ihren Namen. Er nennt auch seinen. Sie versteht ihn nicht. Er sagt ihn noch einmal. Marlene wiederholt ihn. Er nickt. Dann wendet er das Motorrad auf der nassen, goldglänzenden Landstraße und rast davon, der Sonne entgegen.

Marlene schaut ihm nach, bis er verschwunden ist.

Wenn die Botschaft nicht gewesen wäre, wäre das alles nicht passiert. Die Botschaft. Marlene holt das Couvert hervor. Es ist feucht, das Siegel hat sich gelöst. Marlene zögert. Sie ist vollkommen allein, niemand sieht sie. Sie will wissen, wofür das alles gut war. Behutsam zieht sie das zusammengefaltete Blatt hervor. Es ist kaum mehr als eine Notiz. Die Tinte ist großteils verlaufen, aber die Schrift ist noch lesbar: »Lieber Hähnel, herzlichen Dank bezüglich Ave Maria! Alles gut angekommen. Deine Kiste Champagner erwartet Dich.« Gruß und Unterschrift. Das war es. Mehr nicht.

Marlene faltet das Blatt wieder zusammen, schiebt es in das Couvert zurück. Dafür also. Dafür also?! Dafür die Stunden des Frierens und Hungerns, sie kann kaum mehr stehen vor Hunger und kaum mehr denken! Dafür die Stunden der Angst, vor dem Unwetter, vor dem Fremden in der Kapelle! Dafür – ja dafür auch alles andere …

Marlene geht los. Aber sie geht langsam. Vielleicht wird sie noch mehr Ärger bekommen, je später sie meldet, dass sie ihre Mission nicht erfüllt hat. Wobei sie nicht glaubt, dass die Sache in irgendeiner Weise wichtig war oder eilig. So oder so. Sie will, dass er einen Vorsprung hat, wenn sie anfangen, ihn zu suchen.

Florian ließ die Kladde sinken. Wer war er gewesen, der junge Kerl? Aber er konnte verstehen, warum seine Oma nie seinen Namen notiert hatte. Wie sicher war so ein Tagebuch damals gewesen, in dieser Zeit, in der so viele Nazi-Deutsche ihre Nachbarn, Kollegen, Freunde und Familienangehörigen ausspionierten? Dass sie seinen Namen nicht verraten hatte, war also verständlich; noch immer nicht verstehen konnte Florian aber, was damals weiter geschehen war.

Denn als Marlene später am Tag mit dem Oberst von der Kapelle zurückgekommen war, hatte der Kübelwagen, den sie auf dem Berg gelassen hatten, im Hof der Kommandantur gestanden, und daneben – er selbst, der Junge. Er war zurückgekommen, war nicht geflohen. Stand da, als hätte er nichts Besseres zu tun, als heimlich Marlene zuzuzwinkern – genau das hatte er nämlich getan. Also, Mut hatte der junge Mann gehabt, aber ein bisschen blöd war er wohl auch gewesen, sich so eine Chance entgehen zu lassen. Und seine Oma? War hin- und hergerissen gewesen, zwischen Erleichterung, Fassungslosigkeit und … unsinniger Freude.

Ach Oma. Was für eine schreckliche Zeit. Und wie konntest du das nur aufschreiben? Name hin, Name her, wenn dir jemand Böses gewollt hätte, wäre so eine Geschichte auch so kompromittierend genug gewesen! Seine Oma …

Bestürzt und nachdenklich schob Florian die Kladde tief in den Rucksack. Seine Hand stieß dabei an das Handy. Mechanisch zog er es heraus. Keine Nachrichten, von niemandem. Dabei musste Boris heute den Karmann Ghia aus der Werkstatt abholen. Es war Zeit, ihn zu kontaktieren; später. Aber jetzt … Er konnte nicht anders, er musste anrufen … Natürlich ging niemand dran. Aber nach dem sechsten Freizeichen kam das Klicken des Anrufbeantworters, und dann: »Dies ist der Anschluss von Katharina und Florian Reinart. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, wir rufen gerne zurück.«

Florian drückte schnell den Knopf mit dem roten Hörerzeichen. Er wollte keine Nachricht hinterlassen. Er wollte nur Katharinas Stimme hören; sie hatte das Band besprochen. Er wählte seine Nummer noch einmal.

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9783887789251
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