Kitabı oku: «§4253», sayfa 10

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Um 08:33 p.m. rollt der Wagen nach drei weiteren Einsätzen in die Parklücke der Tiefgarage zurück. Die Schatten unter den Augen der beiden Männer sind tief. Ohne ein Wort zu sagen, verlassen sie den Wagen und durchqueren, nebeneinanderher schweigend, die muffige Halle. Im Treppenhaus teilen sich ihre Wege, da Philippe seine letzte Kraft zusammennimmt, um das Treppenhaus schneller als eigentlich möglich zu durchqueren. Mit schnellen Schritten fliegt er durch die Tür, ein wenig später folgt Dorian. Beide Männer bleiben noch einen Augenblick im Gang stehen, um den Tag zu besprechen, da das Großraumbüro in der entgegengesetzten Richtung von Philippes Büro liegt. Ihre Ruhe bleibt leider nicht lange erhalten, denn ein dicker Schnurrbart tragender Mann fliegt mit schnellen Schritten auf sie zu. Dorian, der den Mann zuerst kommen sieht, zieht den Kopf ein. „Uh, da kommt der Captain, keine Lust zwischen euch zu geraten, ich mache mich auf die Socken, freue mich schon auf eine kühle Dusche und mach du auch nicht mehr so lange.“ Mit diesen Worten flieht Dorian den Flur herunter. Bevor der Captain Philippe wirklich erreicht hat, schreit er schon den Flur hinunter. „Lafin!“ Philippe zuckt zusammen und nimmt, durch den Ruf getrieben, Haltung an. „Sir.“ Wild prustend und mit dem dicken Zeigefinger wedelnd erreicht ihn der Captain. „Sie hatten eine Aufgabe!“ schreit er so laut, dass die Glaswände der Büros vibrieren. „Eine Aufgabe und Sie haben sie links liegen lassen. Ich habe Ihnen die Ordner nicht gegeben, weil Sie in Ihrem Büro besser aufgehoben sind, sondern damit Sie sie schnellst–möglich bearbeiten. Als ich heute Morgen aber in Ihr Büro ging, um nachzusehen, wie Sie vorankommen, musste ich feststellen, dass Sie gar nicht da sind!“ Zum ersten Mal an diesem langen Tag ist es Philippe, der ein kleinlautes „Ja, Sir“ verklingen lässt. „Ich rate Ihnen die Ordner sofort zu bearbeiten oder sie brauchen morgen gar nicht mehr wiederkommen Lafin!“ Das Schreien hat ein Ende. Philippe kämpft gegen das Gefühl an sich die schmerzenden Ohren zu reiben. In ihm wächst der Ärger über das Gesagte. Er verlässt seine angespannte Haltung und beugt sich zu dem dicken, im Gesicht hochroten, Mann hinüber. „Sir, ich möchte ja nicht ausfallend oder respektlos werden, aber Sie haben mich heute Morgen um vier Uhr nachts, an meinem freien Tag, aus dem Bett geklingelt und mir etwas von einem Sturm erzählt, der aufgehalten werden muss. Sie haben mich angerufen. Mich. Obwohl es genug andere Lieutenants gibt, die heute nicht frei hatten, haben Sie sich für mich entschieden. Ich bin hierhergefahren, habe mich nicht beschwert und angefangen den Sturm zu zähmen, der Ihnen, verständlicherweise, so viel Angst gemacht hat. Jetzt werde ich, nachdem sich der Sturm nun gelegt hat, in mein Büro gehen und die zwei Ordner durcharbeiten, wenn Ihnen an meiner Reihenfolge etwas nicht passt, dann tut es mir sehr leid, aber nach vierzehn Stunden Arbeit könnte mein Gehirn ein wenig hinken.“ Mit diesen Worten dreht Philippe sich von seinem Captain ab und stampft an ihm vorbei in Richtung seines Büros.

Die Ordner sind schwer und riechen nach frisch kopiertem Papier. Das Papier ist scharfkantig und unbenutzt und erinnert Philippe an das hohe Grass auf einem Feld, die ihm als Kind so oft die Haut aufgeschnitten hatte. Eine Weile lässt er die Ordner geschlossen vor sich liegen, tastet sie aber nicht an, manchmal ist er versucht einfach aufzustehen und die Unwissenheit weiter zu genießen, dann schlägt er aber doch den harten und unnachgiebigen Kartondeckel zur Seite. Die Titelseite zeigt in fettgedruckten Buchstaben die vier Ziffern, die ihm schon den ganzen Tag durch den Kopf gegeistert sind. 4253. Langsam fährt er mit seinen Fingerkuppen über das glatte Papier. Seite für Seite gleitet Philippe durch die Finger, der Text ist schwer zu verstehen, bürokratisches Gerede. Manchmal muss Philippe die Zeile wiederholen, ganze Seiten nochmal lesen, um zu begreifen, was da geschrieben steht. Er schüttelt immer wieder den Kopf, will nicht glauben, was bald verboten sein wird. Seine Augen brennen stark, als er den ersten Ordner zuschlägt. Entrüstet starrt er in den Raum hinein, seine Welt scheint Kopf zu stehen, nichts mehr so zu sein, wie es mal war. Obwohl in seinem Kopf ein gigantischer Knoten seine Gedanken so fest verknäult, dass es fast weh tut, greifen seine Hände, wie in einem Bann gefangen, nach dem dünneren der beiden Ordner, der Pappdeckel schwingt zur Seite und das Deckblatt erscheint. Statt der Fortführung der Absätze, die Philippe eigentlich erwartet hatte, prangt auf dem Titelblatt nur ein Wort: „The Disposal“ – „Die Verfügung“. Verwundert blättert er zur Seite, liest die Einführung, nickt, schüttelt den Kopf, schaudert, schlägt den Ordner wieder zu. „Das können die nicht machen“, spricht er in den Raum hinein. „Was stellen die sich vor, das wird doch Konsequenzen geben. Das kann nicht …“ Er reibt sich mit der Handfläche über das Gesicht und schüttelt erneut den Kopf. Er erhebt sich von seinem Schreibtischstuhl, kramt sein Zeug zusammen und lugt auf die Uhr. 02:12 a.m. „Merde“, es war schon so spät oder früh, er weiß es nicht. Schnell entlädt er die Waffe und lässt das Holster wieder hinter den dicken Safewänden verschwinden. Eine Hand greift nach der Tasche, die andere zu den Ordnern, ein kontrollierender Blick über das Büro, dann zieht er die Tür zu und tritt auf den Gang.

Er schlägt den Weg zum Haupteingang ein, durchquert das kleine Foyer, grüßt den Wachmann, hechtet durch die Schwingtüren des Haupteingangs und lässt sich auf die Steinstufen fallen. Eine Hand liegt auf den Ordnern, eine Hand auf seinem Knie. Der Himmel ist klar, der Smog hat sich in dieser Nacht verzogen. Was für ein beschissener Tag das gewesen war, er hätte so gut werden können, wäre er einfach im Bett liegen geblieben. Das Problem ist, vor der Wahrheit hätte er fliehen können, er hätte sich die Decke über den Kopf ziehen, sein Handy auf stumm schalten und einfach verdrängen können, was heute passiert ist, aber vor der Zukunft kann man nicht wegrennen, das wird ihm von Minute zu Minute klarer. Die Zukunft würde kommen, ganz sicher, mit jedem Ticken der Uhr rückt sie näher, für manche tickt sie in diesen Tagen schnell, für manche langsam, aber sie würde kommen. Was ihm diese Zukunft bringen würde, er weiß es nicht, aber ganz sicher hatte sie sich nach dem heutigen Tag geändert und sie würde sich noch weiter ändern, jeden zweiten Monat würde sie sich ändern, immer wenn ein neuer Absatz bekannt gegeben würde und die Menschen würden es mit ihr tun, diesmal würden sie sich ändern, sie hatte nun keine Wahl mehr.

Sieben Jahre später

12. Rügen, Deutschland

Es ist Sonntag, die Blumen vor dem Haus wiegen im Wind und hin und wieder surrt eine Hummel vorbei, die träge durch die Luft brummt. Das Gras ist braun und knistert unter nackten Füßen, es sticht in die Sohlen und kratzt an der Haut. Die Windböen spielen mit den braunen Locken und wehen sie sanft hin und her. Die Frau lässt es zu. Vielleicht um den Wind nicht zu stören, in seinem Ziel Frieden zu bringen, vielleicht auch, weil sie das Gefühl mag, wie die Haare um den Kopf streichen. In ihren Händen hält sie eine Blume, sie ist kraftvoll in Farbe und Duft und ihre Blütenblätter sind üppig. Der Körper der Frau ist jung. Sie ist schlank an Stellen, an denen Frauen gerne schlank sind, und runder an Stellen, an denen Frauen gerne rund sind. Ihre Füße sind groß, aber nicht zu groß, die Nägel sind nicht lackiert, dennoch gepflegt, ihre Hände zeigen an, dass sie benutzt werden, sie haben Riefen und Hornhaut, erzählen aber nicht von zu harter Arbeit. Ihre Haare fallen in groben, kastanienbraunen Locken über ihre Schultern und zeigen keine Zeichen von einem Versuch sie zu bändigen. Alles an ihr wirkt harmonisch, der gesamte Körper scheint in einer unsichtbaren Melodie im Einklang zu sein, nur ihr Gesicht will nicht ganz mit dieser Musik mitstimmen. Ihr Gesicht wirkt alt, unter den Augen zeichnen sich tiefe Schatten ab, die kein Schlaf der Welt mehr zurückverfärben würde. Auf der Stirn zeigen sich tiefe Falten, die ihre Geschichte erzählen wollen, eine Geschichte, in der wohl viele Sorgen eine Rolle spielen. Selbst die Sommersprossen, die ihr Gesicht überziehen, leuchten nicht mehr in der Intensität, in der sie einst geleuchtet haben. Ihre Hände umklammern immer noch die Blume, die unter dem Druck ihrer Finger langsam beginnt abzuknicken. Ihre Augen sind auf eine Stelle zwischen zwei Häusern gerichtet, an der das Meer hervorlugt, ein wenig kann man es sogar hören, wie es kleine Wellen an den Strand spült, ganz leise, ganz sanft, ohne Druck, aber auch ohne Unterlass. In den Rändern ihrer Augen liegt ein trauriger Ausdruck, es wirkt, als hätten ihre Augen diesen Ausdruck über viele Jahre perfektioniert.

Hinter ihr läuft ein junger Mann barfuß die Veranda hinunter, leichtfüßig springt er über die drei Stufen, die in den Garten führen, und läuft über das trockene Gras der Frau entgegen. Der junge Mann lächelt, seine Haare sind wirr und trocken von zu viel Sonne und Salzwasser. Sein Gesicht ist glatt und braun gebrannt, in den Mundrändern beginnen sich schon jetzt kleine Lachfalten zu bilden und seine grün-blauen Augen leuchten der jungen Frau entgegen, die immer noch mit dem Rücken zu ihm steht.

Als er näherkommt, greift er nach ihrer Hüfte und drückt ihr einen Kuss auf die Wange; da er ein wenig größer als sie ist, beugt er sich leicht hinunter. Nun lächelt auch sie, traurig und glücklich zugleich. Seine Augen fliegen auf die Blume hinab, sanft entnimmt er sie ihrem festen Griff und steckt sie der Frau hinter das Ohr. Sie wendet sich zu ihm um, legt sich in seine Arme und drückt ihren Kopf gegen seine Brust. „Musst du wirklich schon wieder gehen?“ Ein gequältes Lächeln, er drückt ihr einen Kuss aufs Haar, tippt sanft gegen die Blume und rückt mit einem Lächeln auf den Lippen von ihr weg. „Die Normalität ist eine gepflasterte Straße, man kann gut auf ihr gehen.“ Er zwinkert ihr entgegen und macht sich auf den Weg zurück ins Haus. Einen Moment steht die Frau alleine auf dem Gras und lächelt ihm hinterher, dann nimmt sie Anlauf und rennt ihm nach. „Doch es wachsen keine Blumen auf ihr!“, ruft sie noch, bevor die beiden wieder im Haus verschwinden. Der junge Mann wendet sich um. „Was?“ Sie wiederholt es. „Aber es wachsen keine Blumen auf ihr.“ Wieder lacht der Mann, streicht der Frau über die Wange und sieht ihr tief in die Augen. „Du kennt Vincent van Gogh?“ Ein spöttisches „Pah, wer kennt den denn bitte nicht?“ Der Mann greift nach einer großen Tasche, wirft sie sich über die Schulter und beide laufen durch den Flur zur Eingangstür. Sie streichen durch sie hindurch, laufen langsam über die Einfahrt, in der kein Auto mehr steht, und bleiben am Bordstein hängen, der keine Funktion mehr hat. Sie umschlingt ihn mit ihren Armen, drückt ihn fest an ihren Körper, atmet tief in sein Hemd, um den Geruch aufzunehmen, als könnte sie ihn abspeichern. Der junge Mann beugt sich hinab, sie küssen sich lange und intensiv, damit sie es in Erinnerung behalten können, dann schlüpft der Mann in seine Schuhe, streicht ihr ein letztes Mal über das Haar und beginnt die Straße herunterzugehen. „Hoffentlich dauert es diesmal nicht so lange bis zu den nächsten Semesterferien“, ruft sie ihm nach. Der Mann dreht sich um, lacht ein letztes Mal. „Ich liebe dich wie verrückt Evelin, auch ohne Semesterferien.“ Lange winkt sie ihm nach und erst als er fast nicht mehr zu sehen ist, flüstert sie: „Ich liebe dich auch, Kaleo.“

Evelin geht zum Haus zurück, einen Blick auf die Einfahrt, immer wenn sie an ihr vorbeigeht, erinnert sie sie wieder an die Realität, diese Leere der Einfahrt versetzt ihr jedes Mal ein Stechen in die Magengrube, rammt ihr wie ein Dolch zwischen die Rippen und bohrt in ihr herum. Es war ein seltsamer Tag, als sie das Auto wegbrachten. Keiner hatte ein Wort gesagt, selbst das Radio schwieg, alle lauschten auf das Rauschen des Motors, auf das Klackern der Steine, als sie über die Landstraße fuhren und das tocktock … tocktock der Bahnübergänge, die sie passierten. Mona war langsam gefahren, nicht um die letzte Autofahrt ihres Lebens noch zu genießen, vielmehr um noch ein wenig länger der neuen Normalität zu entgehen. Nach einer Stunde waren sie da, sie fuhren durch das große Tor, parkten den Wagen in einer endlos wirkenden Reihe aus anderen Autos und liefen über einen Kiesweg zur Meldestelle, die ein alter Container darstellte. Da der Container ein wenig höher lag als die geparkten Autos, konnte man über das weitläufige Feld sehen. Evelin erinnert sich daran, wie klein sie sich plötzlich gefühlt hat bei der Fülle an Autos, die sie erblickte. Hektarweit erstreckten sich Autos über das Feld und Evelin war sich ganz sicher damals kein Ende sehen zu können. Die Frau in der Meldestelle grummelte ihnen schon von Weitem entgegen und notierte irgendwas auf einem Notizblock. Dann stemmte sie sich von dem ramschigen Klappstuhl nach oben, machte einen Schritt aus dem Container und deutete mit dicken Fingern auf das letzte Auto in der Reihe. „Ist das Ihre Kiste?“ Mona, die trotzig die Unterlippe nach vorne schob, stellte sich schützend vor ihre Kinder und rief der Frau entgegen. „Ja, diese Kiste, wie sie sie nennen, ist sehr wohl meine, mein Mann hat sie mir damals geschenkt, also würde ich Ihnen raten ein wenig respektvoller davon zu reden.“ Die Frau notierte noch etwas auf einem Blatt und lief zurück in den Container, um einen Stempel unter ihr Gekritzel zu setzen. Mona ging auf den Container zu und betrachtete das Blatt, das ihr die Frau beim Betreten des Containers auch sogleich in die Hand drückte. „Unterschrift, hier und hier“, ranzte sie ihr noch entgegen. Mona nahm das Papier fester zwischen die Hände und begann das Blatt zu überfliegen. Es zeigte nicht viel, den Namen des Herstellers, die Modellnummer, das Kennzeichen und den Namen des Eigentümers. Außerdem einen kurzen Text, den Mona mittlerweile nur allzu gut kannte.

§ 4253

Absatz 2

Alle Verkehrsmittel, die schädliche Gase oder Emissionen in die Umwelt stoßen, dabei sind ausgenommen Verkehrsmittel, die direkt mit elektrischem Strom betrieben werden oder diesen in Batterien abspeichern können, werden verboten. Hierbei muss beachtet werden, dass nicht nur der Gebrauch solcher, sondern auch der Besitz mit Geldstrafen oder bei häufigen Verstößen auch mit Freiheitsstrafen geahndet wird.

1. Elektrisch betriebene Verkehrsmittel dürfen nur benutzt werden sollte der Strom aus ökologischer Herkunft stammen. Bei Verstoß, zum Beispiel beim Fahren eines mit elektrischem Strom angetriebenen Verkehrsmittels, dessen Strom aus nichtökologischer Herkunft stammt, wird ebenfalls eine Geld- beziehungsweise Freiheitsstrafe folgen.

1a. Diese Regelung ist nur gewährleistet, solange genug ökologischer Strom angezapft werden kann, sollte dies einmal nicht der Fall sein, so muss der zur Verfügung gestellte Strom bevorzugt an lebenserhaltende Quellen wie Kühlgeräte, Krankenhäuser, Lichtquellen etc. gehen.

Mona nickte ein paarmal, seufzte und setzte dann mit geschnörkelter Schrift ihren Namen unter den Satz „Hiermit erkläre ich mich einverstanden, mein nicht elektrisch betriebenes Automobil an die Deutsche Republik zu übergeben und so dem § 4253 Absatz 2 Folge zu leisten.“ Als sie auch die zweite Unterschrift gesetzt hatte, stand sie auf und schlug das weiße Blatt auf den provisorischen Tisch. „Ich leiste dem zwar Folge, aber dass eins mal klar ist, ist bin ganz sicher nicht damit einverstanden!“ Mit diesen Worten stapfte sie aus dem Container, nahm Oskar bei der Hand und lief energisch durch das große Tor, durch das sie zuvor gefahren waren.

Im Haus angekommen nimmt sie sich die große Sweatshirtjacke ihres Vaters vom Haken, die seit seinem Tod immer noch an derselben Stelle hängt und zieht sie fröstelnd bis oben hin zu. Die Tage beginnen schon jetzt kürzer zu werden und durch die offene Gartentür weht immer wieder ein Luftstoß, der seine kühle Luft durch das Wohnzimmer schickt. Als sie gerade den Raum durchquert, um der eisigen Belüftung ein Ende zu setzen, dreht sich ein Schlüssel im Schloss der Haustür. Das Geräusch, wie der metallene Schlüssel das Schloss zum Aufsperren bewegt, das Saugen der Luft, wenn sie sich aufschiebt, ein Geräusch, das sie ganz sicher nie mehr vergessen würde. Es hatte lange gedauert, bis sie bei dem Klang nicht an jene Nacht denken musste, in der Oliver durch diese Tür kam und Evelins Leben für viele Jahre, die darauffolgten, zerstörte. Ihr ist klar, dass es nicht Olivers Schuld ist, was geschehen war, dass er einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort auftauchte, aber es war er, der durch eine Tür kam, durch die eigentlich ihr Vater hätte kommen müssen. Mittlerweile kann sie bei dem Geräusch weiteratmen, die Zeit hat den Schmerz gelindert und die Wunden haben angefangen zu heilen. Die Tür öffnet sich und Oskar rennt mit lautem Trampeln durch den Flur. „Deine Schuhe, du musst die Schuhe ausziehen“, ruft die ältere Frau ihm nach, die ebenfalls durch die Haustür tritt. Oskar, der sich nicht groß für das interessiert, was seine Mutter ihm nachruft, und nur noch lauter anfängt zu trampeln, stolpert ins Wohnzimmer. Als er Evelin sieht, quietscht er freudig, legt das Plüschokapi auf den Esszimmertisch und drückt Evelin zwei Zeichnungen in die Hand, bevor er die Treppe nach oben poltert. Mona schlüpft aus ihren Schuhen in die Hausschuhe und folgt ihrem Sohn ins Wohnzimmer. „Ist er jetzt nicht in einem Alter, in dem ich ihn zwingen kann staubzusaugen?“ Evelin schmunzelt. „Ich glaube Kinder dürfen erst ab dreizehn Jahren arbeiten, also musst du denke ich noch ein Jahr warten, bevor er ins Haushaltsgeschäft einsteigen darf.“ Mona rollt mit den Augen und schiebt die von Oskar verlorene Erde unter den Esstisch. „Hallo übrigens, ist Kaleo schon weg? Ich habe ja gehofft, dass wir ihn noch erwischen, Oskar wollte ihm glaube ich noch was geben. Wie geht es dir?“ Evelin zieht die Hände mit den Zeichnungen an ihre Augen, etwas verwundert dreht sie sie in alle Richtungen, schüttelt dann mit dem Kopf und legt sie neben das Okapi auf den Esstisch. „Oskars Zeichnungen werden immer seltsamer und ja, mir geht es gut, es wäre mit natürlich lieber, er würde nicht immer fortgehen müssen, vielleicht bin ich auch einfach traurig, dass ich nicht mit ihm gehen kann.“ Monas Ausdruck wandelt sich in Besorgnis. „Schatz, ich zwinge dich nicht hier zu bleiben, ich weiß, wie sehr auch du deine Träume erfüllen möchtest. Ich weiß natürlich, warum du glaubst bleiben zu müssen, aber glaube mir mein Schatz“, sie geht auf ihre Tochter zu und nimmt sie in den Arm, „dieser Paragraf hat zwar alles geändert, aber es wird sich nicht mehr zurück ändern, jetzt bist du jung, jetzt hast du die Freiheit alles zu tun, was du möchtest, alles zu werden, was du werden möchtest, ich und Oskar kommen schon klar. Sieh nur, Kaleo und Lila verwirklichen ihre Träume auch.“ Evelin windet sich aus der Klammer ihrer Mutter. „Du weißt nicht, was du da sagst, du möchtest selber glauben, was du da sagst, aber wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Ihr braucht mich auf dem Hof und du bist ja jetzt schon überfordert mit Oskar, dabei ist er noch nicht mal ein Teenager. Außerdem brauchst du das Geld, das ich im Laden verdiene, und wovon sollen wir mein Studium denn überhaupt bezahlen, wir haben keine Rücklagen, wir geben alles sofort aus, was wir verdienen, und selbst das reicht kaum.“ Mona treten Tränen in die Augen. „Ich will nicht glauben, was du da sagst.“ Verletzt zieht Mona sich das Haarband vom Kopf, das ihre mittlerweile grauen Haare zusammenhält, und stapft, sich durch die Haare gehend, in die Küche. Evelin stöhnt einmal auf, gestikuliert wild und wagt einen vorsichtigen Bick in die Küche. Ihre Mutter lehnt mit einem Glas Wasser in der Hand an der Kücheninsel und schaut mit leerem Ausdruck in den Raum; als Evelin die Küche betritt, wendet sie sich verwundert herum und betrachtet ihre Tochter. „Es tut mir leid Mama, ich habe es nicht so gemeint, du kannst da nichts für, das weiß ich ja, manchmal bin ich aber einfach so sauer auf das, was da draußen passiert, auf das, was sie der Menschheit antun.“ Mona legt Vergebung in ihren Ausdruck, stellt das Glas neben die Spüle und küsst ihre Tochter auf die Stirn. „Ich habe das auch nicht so gemeint, ich hoffe, du weißt das auch, und ich bin dir sehr dankbar, dass du uns so toll hilfst, deine Großeltern wissen auch, was du für eine große Hilfe auf dem Hof bist, aber ich hoffe trotzdem, dass wir irgendwann einen Weg finden mit dieser Situation klarzukommen, dass sie irgendwann durch die Verfügung Lösungen für unsere Probleme finden und du deine Träume verwirklichen kannst.“ Evelins Kopf wandert hoch und runter und bestätigt das Wort ihrer Mutter, danach verlässt sie die Küche wieder, um ins obere Stockwerk zu gehen. Als sie an dem ovalen Esstisch vorbeiweht, fallen die Zeichnungen herunter und segeln in gleichmäßigen Zügen auf die Fliesen. Evelin beugt sich zu ihnen hinab, klaubt sie zusammen und trägt sie die Stufen nach oben. In ihrem Zimmer angekommen, pult sie ein paar Reißzwecken aus einem Glas auf dem Schreibtisch und beginnt die Kunst ihres Bruders an die Schräge über ihrem Bett zu pinnen. Über die Jahre ist die Kunstsammlung, die ihr Bruder ihr immer wieder geschenkt hat, zu einer Wand deckenden Tapete geworden. Viele der Zeichnungen überlappen sich bereits und manche werden nur noch von einer der vier Reißzwecken getragen. Evelin betrachtet ihr Werk, als sie alle Zeichnungen auf der Schräge untergebracht hat. Hin und wieder hebt sie eines der Blätter an, um ein anderes freizulegen, lässt sich auf das Bett fallen und beobachtet, wie die Blätter durch den Wind des offenen Fensters anfangen auf ihrer Wand zu tanzen. Evelin schmunzelt, keine der Zeichnungen macht einen Sinn. Wie sehr wünscht sie sich die Bilder mit den Augen ihres Bruders betrachten zu können. Für ihn hatten die Striche, Staffierungen und Flecken bestimmt eine Bedeutung, er erkennt bestimmt den logischen Sinn dahinter. Der Kinderpsychologe, bei dem Oskar als Kind öfter gewesen ist, hat Evelin mal erklärt, dass es bestimmt einen Sinn oder eine Bedeutung für Oskar hat, Evelin die Bilder zu schenken. Evelin winkte ab, aber der Psychologe schüttelte den Kopf und sagte diesen einen Satz, der Evelin immer durch den Kopf geistert, wenn sie die Schräge betrachtet. „Oskar lebt in einem ganz anderen Spektrum als du und ich. Er tut die Dinge nicht aus emotionalen Gründen oder weil man sie von ihm erwartet. Alles, was er tut, muss einen logischen Wert für ihn haben, so sieht er in Sprache keine Notwendigkeit, aber in Bildern schon. Wenn er dir also eines dieser Bilder schenkt, dann haben sie für ihn einen sehr hohen Wert, den er dir gerne zeigen möchte.“ Damals verstand Evelin das nicht, heute fängt sie aber an diesen Satz zu begreifen, sie beginnt ihren Bruder zu verstehen.

Evelin schwingt sich vom Bett, einen Moment lässt sie das Blut zurück in ihre Beine laufen, dann springt sie auf und eilt durch den Flur in Oskars Zimmer. Der Zwölfjährige sitzt auf dem Boden und steckt Legoklötze zu einem Gewirr zusammen, das Evelin nicht erkennen kann. Sie setzt sich zu ihm, nimmt einige Legos von einem Stapel und beginnt sie beiläufig aufeinander zu stecken. „Weißt du was, Oskar? Manchmal beneide ich dich. Für dich scheinen die Dinge so einfach zu sein, so logisch.“ Der Junge rührt sich nicht und legt seiner Schwester nur noch mehr Steine hin, die sie benutzen kann. „Weißt du, wie gerne ich manchmal mit dir sprechen würde, ich habe so viele Fragen an dich. Mama hat mal gesagt, dass du einfach noch nichts Wichtiges zu sagen hast und auf die richtigen Worte wartest.“ Oskar nimmt Evelin die Mauer aus Legos aus der Hand, die sie errichtet hat, und hält sie ihr vor das Gesicht, direkt vor ihre Augen. Evelin versucht die Legosteine zu fokussieren, an ihnen vorbeizuschauen, aber immer, wenn sie ihren Kopf neigt, um der Sichtschranke zu entgehen, folgt ihr Oskars Hand mit der Mauer. Nach einer Weile drückt sie genervt seine Hand zur Seite. „Oskar, was soll das, ich verstehe dich nicht.“ Entrüstet lässt der Junge die Mauer fallen, greift nach seinem Legobauwerk, dann nach Evelins Hand und beginnt sie vom Boden nach oben zu ziehen. „Ja, ist ja gut, ich komme ja, warte, lass mich erstmal aufstehen.“ Durch den engen Griff ihres Bruders fällt es Evelin schwer vom Boden hoch zu kommen, doch ihr Bruder lockert den Griff keinen Zentimeter. Als sie sich endlich erhoben hat, zerrt er seine Schwester auch sogleich weiter, aus seinem Zimmer heraus, in den Flur und in Evelins Zimmer hinein. Erst jetzt lässt er ihre Hand los und klettert auf Evelins Bett. Mit ausgestrecktem Finger zeigt er auf die Bilderschräge und manchmal tippt er gegen eines der Blätter, als wolle er Evelin auf etwas besonders Wichtiges hinweisen. In Evelins Kopf rasen die Gedanken, was ihr Bruder ihr da wohl zeigen möchte, immer wieder betrachtet sie die Striche, auf die ihr Bruder zeigt, aber je mehr sie sich anstrengt etwas zu erkennen, umso weniger sieht sie. „Oskar, ich verstehe nicht, was du mir da zeigen willst, ich kann da nichts erkennen.“ Oskar, der immer nervöser und aufgelöster wird, springt von dem Bett herunter und zieht seine Schwester näher an die Bilder heran. Immer heftiger beginnt er auf die Blätter zu tippen, Tränen treten ihm in die Augen, er beginnt zu wimmern. Dann nimmt er das Legobauwerk und hält es vor die Wand, deutet auf das Legogebilde, dann auf die Wand, wiederholt die Schritte. In Evelin steigt Verzweiflung auf. Verzweifelt betrachtet sie das Gebilde und dann wieder die Blätter an der Wand, versucht den Zusammenhang zu erkennen, versucht zu verstehen, was ihr kleiner Bruder sagen will. Nach einer endlosen Weile knickt Oskar in sich zusammen, er legt den Legoklotz auf Evelins Bett, umklammert seine Beine, wippt wimmernd hin und her und beginnt sich an den Haaren zu ziehen. In Evelin steigt Hitze auf, etwas verunsichert tippt sie Oskar an die Schulter versucht ihn zu beruhigen, aber der Junge ist in eine andere Welt entschwunden. Nach ein paar Minuten kommt Mona die Stufen hoch geeilt, stürmt an Evelin vorbei, die immer noch hilflos im Raum steht, umklammert ihren Sohn mit festem Griff und beginnt zu summen. Evelin kennt diese Melodie, sie kennt sie gut, Paul hat sie immer gesummt, wenn Oskar mit ihm im Garten war oder wenn Oskar einen seiner Anfälle hatte. Ihr Vater hat immer gewusst, wie er mit Oskar umzugehen hatte.

Am Abend schlüpft Evelin noch einmal in das Zimmer ihres Bruders. Oskar liegt schon ihm Bett, bis zu den Ohren zugedeckt. Das Fenster ist auf und in der Ferne kann man das Meer rauschen hören. „Darf ich zu dir kommen?“, flüstert sie durch das Dämmerlicht des Raums, ihr Bruder rollt auf die Seite und zieht die Decke von den Ohren. Evelin, die das als ein Ja deutet, klettert auf das wacklige Hochbett und legt sich neben ihren Bruder. Sie hält das Plüschokapi über ihren Bruder in die Luft, der es auch sogleich packt und unter die Decke zieht. „Weißt du Oskar, ich hatte unrecht mit dem, was ich eben gesagt habe. Ich habe gesagt, dass deine Welt leicht und logisch ist, aber weißt du, ich habe mich geirrt, du hast es bestimmt viel schwerer als wir alle.“ Das Meer rauscht. Oskar hebt die Decke an und schiebt sie auf Evelins Seite. Sie rutscht unter sie und für eine Weile liegen die beiden nur so da und lauschen auf die Wellen, die gegen die Steilküste schlagen. „Weißt du was, nur weil ich dich jetzt noch nicht verstehe, heißt das nicht, dass ich es nicht irgendwann mal tun werde.“

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