Kitabı oku: «Das Geheimnis der Madame Yin», sayfa 5
„Dann gab es doch auch sicher einen Galan, der ihr den Hof gemacht hat?“
„Oh, Miss Estelle hatte viele Verehrer.“ Francine erschrak über ihre eigenen Worte. „Oh, ich dumme Pute. Ich wollte gewiss nicht schlecht über Miss Estelle reden.“
„Natürlich nicht.“ Celeste wartete einen Moment und fragte dann nach: „Und? Gab es jemanden?“
Francine wurde rot. „Nein, nein. Es gab niemanden. Ich muss jetzt weitermachen. Ich darf nicht trödeln.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren kümmerte sich Francine um ihre Arbeit. Dabei presste sie die Lippen so fest aufeinander, dass keine Briefmarke mehr dazwischen gepasst hätte.
Celeste beschloss, es gut sein zu lassen. Sie wollte nicht gleich als zu neugierig erscheinen.
Das Dienstmädchen beendete zügig ihre Arbeit und verließ das Zimmer mit einem Knicks.
Endlich alleine, öffnete Celeste ihre Schuhe und strampelte sie von den Füßen. Sie seufzte erleichtert. Was für eine Wohltat. Wenn nur endlich ihr Gepäck eintreffen würde. Celeste sehnte sich danach, sich endlich frisch machen zu können. Ihrem Kleid haftete der ölige Rauch von Southhampton, der Gestank der dortigen Fischerei und der Ruß einer langen Zugfahrt an.
Sie öffnete die Knöpfe ihres Überwurfs und ließ ihn neben dem Bett auf den Boden fallen. Dann streifte sie ihre Handschuhe ab, öffnete das eng sitzende Oberteil ihres Kleides und tat zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit einen befreiten und tiefen Atemzug. Dann ließ sie sich neben ihrer Reisetasche aufs Bett fallen und sah sich in ihrem Zimmer um. „Das ist also England“, flüsterte sie, irgendwie amüsiert und dann doch wieder ernst.
Sie öffnete ihre Tasche und sortierte den Inhalt neben sich auf dem Bett. Ein Kavallerie-Revolver und mehrere Päckchen Munition. Ein Notizbuch und die Mappe, die sie von Mrs. Roovers erhalten hatte. Ein hölzernes Kästchen, das ihre Schreibutensilien enthielt, eine kleine Tasche aus Segeltuch mit ihren Dietrichen und anderen Werkzeugen. Ihr Lieblingsbuch, die Reiseberichte von Lewis und Clarke, und ein paar Fotografien von Zuhause. Eine zeigte ihren Bruder und sie selbst. Sie standen stocksteif vor einer Leinwand in einem New Yorker Atelier. Sie erinnerte sich noch gut an diesen Tag. Sie waren so ausgelassen und fröhlich gewesen, dass erst der dritte Versuch, das Foto zu machen, geklappt hatte. Vorher hatten sie sich vor Lachen gekrümmt und den Fotografen damit in den Wahnsinn getrieben. Sie war elf gewesen und Thomas siebzehn oder achtzehn. Sie wusste es nicht mehr genau. Da hatten sie vom Krieg noch nichts geahnt.
Sie nahm den Revolver und wog ihn in der Hand. Er war schwer und groß, ein alter Armeerevolver, mit dem Wappen des neunten Kavallerieregiments im Griff. Das war alles, was ihr von ihrem Bruder noch geblieben war. Ein paar Fotografien und eine unhandliche Waffe.
Er war der Einzige gewesen, der sie je verstanden hatte.
Celeste ließ sich aufs Bett fallen, die Arme weit von sich gestreckt. Obwohl sie im Zug gut geschlafen hatte, fielen ihr die Augen erneut zu. Ihre Versuche, wach zu bleiben oder sich wieder aufzurichten, scheiterten, und schon bald war sie in einen unruhigen Schlaf gefallen.
Sie träumte von New York, ihren Eltern, ihrem Bruder, ihrem Zuhause. Eine Erinnerung, die langsam verblasste und nur in Träumen mit Macht wiederkehrte.
Sie sah sich in ihrem Zimmer stehen, die Birken vor ihren Fenstern wiegten sich im Wind und die Zeisige bauten ihre Nester in den Astgabeln. Die Tür öffnete sich und ihr Bruder trat ein. Er sah wunderbar aus in seiner blauen Uniform mit den weißen Handschuhen.
Die jungen Damen der hohen Gesellschaft waren ganz vernarrt in sein spitzbübisches Lächeln, den Schalk in seinen Augen und die tiefe Stimme, mit der er ihnen schöne Worte zuflüsterte.
Er kam, um sich zu verabschieden. In ihrem Traum versuchte sich Celeste zu erinnern, was sie zueinander gesagt hatten, aber es gelang ihr nicht. Sie strich ihm über die Uniformjacke. Er lachte und kniff sie in die Wange. Die Wehmut dieses Augenblicks traf sie selbst im Schlaf und sie wurde unruhig. Ihr großer Bruder war immer für sie da gewesen, und nun ging er fort, um in einem Krieg Bruder gegen Bruder, Freund gegen Freund zu kämpfen. Die Sklaverei hatte Amerika entzweigerissen und Thomas hielt es für seine Pflicht, dem Ruf zu folgen. Das Wort Freiheit war in aller Munde.
In ihrem Traum hielt sie ihn fest, klammerte sich an ihn. Ein dumpfes Klopfen lenkte sie ab und brachte das Konstrukt ihres Traums ins Wanken. Dann klopfte es wieder und wieder und ihr erwachender Verstand begriff, dass jemand an ihrer Zimmertür war. Sie richtete sich auf, schlug die Decke über ihre Habseligkeiten und stand auf. Ein Blick auf die kleine Uhr, die sie an einer Kette um den Hals trug, verriet ihr, dass es bald Mitternacht war.
„Ja, bitte?“, rief sie schläfrig.
„Ich bitte um Verzeihung, Madam. Ich bin es, Francine. Ihr Gepäck ist eingetroffen.“
Er waren vier kräftige Personen nötig, um Celestes gesamtes Gepäck zu tragen, das aus zwei Schrankkoffern, einer großen Überseetruhe und diversen Hutschachteln bestand. Francine war die Glückliche, die nur zwei Reisetaschen und ein Kulturköfferchen zu tragen hatte.
„Bitte stellen Sie es dort ab.“ Celeste zeigte auf den freien Platz vor dem Kleiderschrank. „Haben Sie vielen Dank.“
Nachdem sich auch Francine ihrer Last entledigt hatte, fragte sie: „Haben Sie noch einen Wunsch, Madam?“
„Ich muss eingeschlafen sein. Könnte ich noch etwas zu essen bekommen und vielleicht ein Glas Milch? Ich sterbe vor Hunger.“
Francine seufzte müde und lächelte dann. „Ich bringe Ihnen ein paar Sandwiches … und ein Glas Milch.“
Das Dienstmädchen machte einen Knicks und ging. Celeste wandte sich verwundert dem Berg von Koffern zu. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, so viel eingepackt zu haben.

8. September 1877 Früh am Morgen
In der Nacht hatte es geregnet. Nun rannen die letzten Tropfen an den Fensterscheiben herab oder tropften in gleichmäßigem Rhythmus von den Vordächern. Die tiefhängenden Wolken hatten sich aufgelöst. Die Sonne brach durch. Von den Straßen stieg Dampf auf, über der Themse schwebten Nebelbänke.
So gut hatte Celeste schon lange nicht mehr geschlafen. Die Arme von sich gestreckt öffnete sie die Augen und blinzelte.
Sie fühlte sich kräftig und ausgeruht. Voller Tatendrang schwang sie die Beine aus dem Bett und zog an der Klingelschnur, die neben dem Sekretär hing.
Ein anderes Dienstmädchen, nicht Francine, kam und begann sie zurechtzumachen. Celestes Haar war von der Reise arg in Mitleidenschaft gezogen worden und das Mädchen hatte ihre liebe Mühe, ihr nicht jedes einzelne Haar vom Kopf zu reißen. Zu gerne hätte sich Celeste von den Schmerzen abgelenkt, der ihr die Tränen in die Augen trieb, und die Zeit genutzt, um mehr über das Haus Ellingsford und seine Bewohner zu erfahren. Doch mehr als ein „Ja, Madam“, oder ein „Nein, Madam“, oder „Wie Sie wünschen“, kam dem jungen Ding nicht über die Lippen.
Immerhin: Ihr Name war Harriet, so viel gab sie dann doch von sich preis.
Nach einer Stunde war Celeste fertig frisiert, geschminkt und angekleidet. Das Mädchen hatte sich mit dem Hinweis verabschiedet, dass das Frühstück bereit stehe. Nun stand Celeste alleine vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer, klippte die bernsteinfarbenen Ohrringe an ihre Ohrläppchen und überprüfte ein letztes Mal den Sitz ihres Kleides.
Zufrieden mit dem Resultat verließ sie ihr Zimmer.
Auf dem Weg zur Treppe hörte sie Dorotheas aufgeregte Stimme aus einem der anderen Zimmer. Celeste zögerte nicht lange und schlich sich an die Tür heran, aus der die Stimmen drangen. Ein letzter wachsamer Blick den Flur entlang – niemand war zu sehen.
„Wie konntest du nur zu so etwas deine Einwilligung geben, Mutter?“
Die Antwort war zu leise, um sie zu verstehen.
„Das ist ein Albtraum! Warum hasst er mich so?“
Wieder folgte eine leise Antwort.
„Ach nein?!“ Dorotheas Stimme überschlug sich. Celeste hatte sie während ihrer ganzen Bekanntschaft noch nicht so aufgeregt erlebt. „Er gibt mich weg wie irgendein unfähiges Dienstmädchen. Ich kenne diesen Mann nicht einmal! Vater zerstört mein Leben, aber das ist ihm völlig egal.“
„So beruhige dich doch …“ Mehr verstand Celeste nicht, auch wenn sie ihr Ohr nun flach gegen die Tür presste.
„Er hat mich nur zurückgeholt, weil ich nützlich bin. Ein gutes Geschäft!“
Schritte näherten sich der Tür und Celeste stolperte zurück, doch sie kam nicht schnell genug weg. Dorothea stürzte ihr entgegen und prallte gegen sie.
Ohne Celeste eines Blickes zu würdigen, drängte sie sich vorbei und rannte schluchzend in ihr Zimmer.
Celeste blieb überrascht stehen, bis sie das helle Quietschen von Metall dazu brachte, in das Zimmer zu sehen.
Lady Ellingsford war in ihrem Rollstuhl näher gerollt. In ihrem Blick lag eine Mischung aus Interesse und Skepsis.
„Ich … ich“, begann Celeste mühsam. „Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, mich bei Ihnen für Ihre Gastfreundschaft zu bedanken. Sie … Sie haben ein wunderbares Haus.“
Lady Ellingsford nahm das Kompliment schweigend hin. „Sie wollten zu mir?“
„Ja … ich meine, nein. Ich hatte Dorotheas Stimme gehört. Ich wollte sie … bitten, mir London zu zeigen. Aber wie mir scheint … kam ich unge …“
„Wie gut kennen Sie meine Tochter?“, unterbrach sie Lady Ellingsford.
„Ich habe sie bei Mrs. Roover getroffen. Vor etwa einem halben Jahr. Wir hatten uns unterhalten und eine Partie Krocket im Park gespielt. Ich hatte gar keine Chance.“ Celeste lachte verlegen.
Lady Ellingsford sah sie einen Moment lang nachdenklich an, dann lächelte sie matt. Celeste wusste es nicht zu deuten, bis ihre Ladyschaft sagte: „Ich denke, es ist gut für sie, dass Sie da sind.“
„Ich fürchte nur, Ihr Mann ist da anderer Meinung.“
„Das überrascht mich nicht. Aber er sorgt sich um mich. Wegen meiner Krankheit … und er möchte es vermeiden, mich allzu sehr aufzuregen. Er gibt meinen Wünschen meist nach. Deswegen durften Sie bleiben.“
„Sie haben dafür gesorgt?“
„Ich und meine Tochter. Sagen Sie, wann sind Sie geboren?“
Celeste verwirrte die Frage und sie musste tatsächlich einen Moment lang nachdenken.
„Ich wurde am 30. August 1848 geboren.“
„Also sind Sie Jungfrau. Das habe ich mir gedacht“, sagte Lady Ellingsford. „Sie besitzen ein gutes Herz. Meine Tochter kann sich keine bessere Freundin wünschen.“
„Es freut mich sehr, dass Sie das so sehen, aber hat Dorothea denn keine anderen Freundinnen hier in London?“
Lady Ellingsfords Gesicht verdüsterte sich. „Oh doch. Aber ich teile die Meinung meines Mannes. Sie sind ein schlechter Umgang für unsere Tochter.“
„Sprechen Sie von Estelle?“
„Und von Margareth. Ein gelangweiltes kleines Luder, das nur Unsinn im Kopf hat. Ich weiß nicht, wer von den beiden unsere Tochter zu diesem schrecklichen Gift verführt hat, aber ich bin mir sicher, eine von den beiden war es.“
„Und was ist mit Estelle? Sie wurde schließlich ermordet?“
„Das ist wahr und es tut mir sehr leid für das arme Mädchen … und ihre Familie. Aber … nichtsdestotrotz bin ich froh, dass sie unserer Tochter keinen Schaden mehr zufügen kann.“
Celeste erstarrte; sie hätte in dieser zerbrechlichen Frau nie eine solche Gefühlskälte erwartet.
„Wenn Sie das so sehen“, erwiderte sie ebenso kalt. „Haben Sie Ihrer Tochter von Estelles Tod erzählt?“
Lady Ellingsford senkte den Blick und starrte auf ihre Hände. „Nein. Ich … brachte es nicht übers Herz. Ich bin so froh, sie wieder bei mir zu haben. Da wollte ich nicht …“
„Es wird sich nicht ewig verbergen lassen, das wissen Sie.“
„Wer weiß, wie sie reagiert, wenn ich es ihr sage.“
Ein hoffnungsvolles Lächeln stahl sich auf Lady Ellingsfords Lippen. Ihr war offenbar ein Gedanke gekommen, der ihr gefiel. „Vielleicht könnten Sie bei passender Gelegenheit mit ihr reden.“
Celeste schnappte nach Luft. „Also … ich … ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist, Eure Ladyschaft.“
Aber Lady Ellingsford schien ihre Entscheidung bereits getroffen zu haben. „Doch, doch, so machen wir es. Sie überbringen meiner Tochter die traurige Nachricht. Aber bitte taktvoll.“
Celeste war nicht bereit dazu und wollte protestieren, doch sie wurde von einem Butler unterbrochen, der hinzutrat und gekünstelt hustete.
Ihm folgte ein breitschultriger Mann, dessen Anzug eindeutig zu klein war. Sein Gesicht war kantig, die Augenlider waren schlaff. Sein Ausdruck war irgendwie – Celeste konnte sich des Eindrucks nicht erwehren – dümmlich.
Lady Ellingsford schlug die Decke beiseite, die um ihre Beine lag.
„Ich wollte nicht stören, Eure Ladyschaft, aber es ist neun Uhr. Wünschen Sie zu frühstücken?“, fragte der Butler.
„Ja, ich bitte darum.“
„Rupert!“
Der Große trat vor und nahm die gebrechliche Dame behutsam auf die Arme und trug sie an den Treppenabsatz. Dort wies Lady Ellingsford ihn an noch einmal stehenzubleiben.
„Sie erledigen das, Miss Summersteen, nicht wahr?!“ In Celestes Ohren klang es nicht nach einer Bitte, vielmehr nach einem höflich formulierten Befehl.
Obwohl sie lieber den Kopf geschüttelt hätte, nickte sie.
„Und Sie müssen noch etwas für mich tun.“
Celeste seufzte innerlich, wartete aber geduldig ab.
„Halten Sie Dorothea von Margareth fern. Ich möchte nicht, dass sie sich wieder treffen.“
„Wie Sie wünschen.“
Dann brachte der Diener Lady Ellingsford nach unten und trug sie ins Speisezimmer. Der erste Butler folgte mit dem Rollstuhl. Celeste wartete, bis alle verschwunden waren, bevor sie zu Dorotheas Zimmer ging.
Sie klopfte. Als sie keine Antwort erhielt, öffnete sie vorsichtig.
Dorothea lag ausgestreckt auf dem Bett, den Kopf zwischen den Armen verborgen, einen kleinen braunen Stoffbären in der Hand. Sein Fell war struppig und ihm fehlte ein Auge.
Celeste setzte sich zu dem Mädchen auf das Bett. „Wer ist denn dein kleiner Beschützer?“, fragte sie leise.
Dorothea sah auf und streichelte dem Bären über den Kopf. „Mr. Peaby.“
„Was für ein seltsamer Name.“
Dorothea wischte sich lächelnd eine Träne von der Wange. „Eigentlich heißt er ja auch Mr. Peabody. Aber als Kind konnte ich seinen Namen nie richtig aussprechen.“ Sie nahm den Bären in die Arme und setzte sich auf. „Er hört mir immer zu.“
„Was ist denn los?“
„Vater …“ , schluchzte Dorothea plötzlich. „Vater will mich verheiraten.“
„Aber, aber … das ist doch kein Grund zum Weinen. Wie heißt der Auswählte denn?“
„Lucius. Lucius T. Horn. Er ist ein eingebildeter Schnösel, der sich für den Mittelpunkt der Welt hält.“
„Tun das nicht alle Männer?“, erwiderte Celeste mit einem feinen Lächeln.
„Vater will ihn einladen. Zum Dinner. Damit wir uns … kennenlernen können.“
„Du bist ihm zuvor noch nie begegnet?“
„Doch … einmal. Er ist ein alter Mann, schon bald dreißig. Das einzige, woran ich mich erinnern kann, ist, wie steif er geredet hat. Außerdem riecht er nach staubigen Büchern.“
Celeste schürzte die Lippen. „Was macht er denn beruflich?“
„Er ist Bankier, glaube ich. Ach, ich habe ihm gar nicht richtig zugehört. Er hat mich unsäglich gelangweilt.“ Sie begann von neuem zu schluchzen und drückte Mr. Peaby an ihre Brust. „Wäre ich nur nie auf dieses Schiff gestiegen, um hierher zurückzukommen. Ich hasse ihn.“
„Sag so etwas nicht. Dein Vater will bestimmt nicht, dass du traurig bist.“
Dorothea warf den Bären an die gegenüberliegende Wand, was ihr sofort leidtat. Sie sprang auf, hob ihn auf, streichelte sein Fell und nahm ihn wieder mit zurück ins Bett. „Was kümmert es Vater, ob ich fröhlich oder traurig bin. Für ihn ist nur wichtig, dass ich tue, was er verlangt.“ Flehend sah sie Celeste an. „Bitte, bringen Sie mich zurück nach Chicago.“
„Das kann ich nicht.“
„Sie haben auch nur Angst vor ihm.“
„Nein, das ist es nicht“, widersprach Celeste entschieden, „aber hier ist dein Zuhause.“
„Und ich dachte, Sie wären meine Freundin.“
„Das bin ich auch. Aber man kann nicht vor allem davonlaufen, was einem nicht passt.“
„Meine Tante würde sich freuen, mich wiederzusehen.“
„Deine Tante würde mir zustimmen. Du solltest auch an deine Mutter denken. Sie freut sich so sehr, dass du wieder da bist. Willst du sie gleich wieder verlassen?“
Dorothea ließ den Kopf sinken. „Nein“, sagte sie kleinlaut.
Eigentlich konnte Celeste sie verstehen. Sie hatte auch nicht gewollt, dass ihre Eltern über ihre Zukunft entschieden. Sie hatte sich mit aller Kraft dagegen gewehrt und hatte gewonnen, aber es war ein hoher Preis, den sie dafür hatte zahlen müssen.
„Wenn ich nur mit Vater reden könnte“, hörte sie Dorothea sagen.
„Hast du es denn versucht?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Er würde trotzdem tun, was er für richtig hält. Ich wollte auch nicht zu Tante Anette und er hat es trotzdem durchgesetzt.“
„Und dann hat es dir gefallen. Und zwar so gut, dass du jetzt wieder dorthin zurückwillst.“
Das war ein Argument, dem Dorothea nichts entgegensetzen konnte.
„Vielleicht ist es jetzt auch nicht anders. Du solltest diesem Lucius eine Chance geben, findest du nicht? Du bist charmant, hübsch und klug. Du wirst ihn dir schon zurechtbiegen. Die Männer glauben zwar, sie würden über uns stehen, aber wir wissen es besser. Glaub mir. In spätestens einem Jahr frisst er dir aus der Hand. Du musst es nur geschickt und subtil anstellen.“
„Meinen Sie?“
„Natürlich. Ich kenne die Männer, schließlich bin ich ja auch schon eine alte Frau“, bemerkte sie augenzwinkernd.
Zum zweiten Mal, seit Celeste das Zimmer betreten hatte, sah sie Dorothea lächeln. Damit stand sie auf und streckte dem Mädchen die Hände entgegen. „Aber jetzt komm. Es gibt Frühstück und ich sterbe vor Hunger. Und danach musst du mir unbedingt London zeigen.“

The City of London Kurz vor Mittag
Inspector Edwards hatte schlechte Laune. Der Dauerregen in der Nacht hatte ihn nicht schlafen lassen. Das verdammte Dach war undicht und es hatte durch seine Decke ins Wohnzimmer getropft. Er hatte eine Kanne darunter gestellt und dann hatte ihn das ständige Ping, Ping, Ping der Tropfen wach gehalten. Zu allem Überfluss hatte er die Kanne nach dem Aufstehen auch noch schlaftrunken umgetreten. Sein Wohnzimmer glich nun einem Ententeich ohne Enten.
Nun lief er mit grimmigem Gesichtsausdruck durch die Straßen der City, vorbei an Häusern, deren Fassaden glänzten, als würden sie Regen ausschwitzen.
Die Straßenhändler hatten kaum Kundschaft und so stürzten sie sich lärmend auf ihn. Lumpen wurden ihm von einem zahnlosen Mann als beste Ware angepriesen. Eine runzelige Alte wedelte mit allerlei Klimperzeug vor seiner Nase herum. „Schutzamulette, Sir. Schutzamulette“, brabbelte sie.
Ein paar Jungen kamen herbeigelaufen, rannten im Kreis um ihn herum. Er achtete auf seine Börse und ging weiter, ohne den Jungs einen weiteren Blick zu schenken, die bereits ein lohnenderes Ziel ausgemacht hatten. Eine Kutsche klapperte vorbei, viel zu schnell unterwegs für die groben Pflastersteine.
Edwards war auf dem Weg zu seinem Büro im Scotland Yard. Zuvor hatte er dem Haus von Familie Wiggins einen Besuch abgestattet und obwohl er wusste, dass die Eltern der toten Estelle nicht zugegen sein würden, hatte er doch einige interessante Dinge in Erfahrung gebracht.
Der wachhabende Beamte am Tresen begrüßte ihn, indem er aufsprang und stramm stand. „Guten Morgen, Inspector. Was für ein wundervoller Tag.“
Edwards klopfte sich ein paar Regentropfen vom Ärmel. „Higgins. Haben Sie schon mal einen Blick vor die Tür geworfen?“ Er wollte weiter, die Treppe hinauf zu seinem Büro.
„Oh, Sir. Einen Moment bitte.“ Higgins eilte ihm nach.
„Ja, was gibt's denn?“
„Chief Inspector DeFries möchte Sie sprechen.“
„Wann? Jetzt?“
„Sobald Sie eintreffen, Sir. Er hat es mir persönlich mitgeteilt.“
„Ja, gut. Danke.“
DeFries' Büro lag am Ende eines breiten Flurs, dessen Parkettboden von einem dunkelroten Läufer bedeckt war. An den Wänden hingen die Porträts jener Männer, die die Geschicke Scotland Yards in der Vergangenheit geleitet hatten. Zurzeit war das Lieutenant Colonel Edmund Handerson. Ein Mann, dem Edwards tatsächlich bisher nur ein einziges Mal auf dem Flur begegnet war.
Er erreichte DeFries' Büro, öffnete den Mantel und zupfte die Weste darunter zurecht, dann klopfte er an.
„Nur herein, Robert.“
Verwirrt trat Edwards in das ausladende Büro mit den hohen Fenstern und dem riesigen Schreibtisch, hinter dem DeFries fast zu verschwinden schien. „Guten Morgen, Sir. Woher wussten Sie, dass ich …“
„Das ist kein Kunststück, mein lieber Inspector. Niemand anderes kommt den Flur so entlang gestampft wie Sie. Die Erschütterungen schlagen Wellen in meinem Kaffee.“ Er zeigte auf einen Sessel mit grünem Samtpolster und geschnitzten Armlehnen, die den Kopf eines Löwen zeigten. „Setzen Sie sich bitte. Darf ich Ihnen eine Tasse anbieten?“
Edwards konnte Kaffee nichts abgewinnen, dessen Geruch das ganze Büro erfüllte. DeFries trank ihn, seit er ihn bei einer Reise nach Frankreich probiert hatte. Er lehnte höflich ab.
„Sie wollten mich sprechen, Sir?“
„Nein, mein lieber Robert. Sie wollten mich sprechen. Haben Sie das schon vergessen? Sie haben eine Nachricht bei meinem Sekretär hinterlassen.“
Jetzt fiel es ihm wieder ein. „Natürlich. Verzeihung, Sir. Es geht um Sergeant Dyers.“
„Dyers?“
„Kippwells Sergeant aus der L-Division.“
DeFries forderte Edwards mit einer Geste auf, fortzufahren.
„Ich möchte ihn für diesen Fall anfordern.“
„Sie?“ DeFries stellte die Tasse Kaffee zurück auf den Untersetzer aus weißem Porzellan. „Warum wollen Sie das tun?“
„Er ist ein guter Mann. Er könnte mir nützlich sein.“
DeFries legte die Fingerspitzen aneinander. „Es hat nicht zufällig etwas mit Inspector Kippwell zu tun? Wenn Sie ihm nur eins auswischen wollen … dann werde ich das ganz sicher nicht unterstützen.“
„Nein, es geht nicht um Kippwell. Der ist mir völlig gleich.“
„Wenn ich das befürworte, würde ich die ohnehin schon angespannte Lage zwischen Ihnen und Inspector Kippwell unnötig verschärfen. Außerdem ist Sergeant Dyers schon für eine andere Aufgabe vorgesehen.“
„Ach ja? Welche?“
DeFries lehnte sich zurück. Seine Augenbraue zuckte. „Das geht Sie nun wirklich nicht das Geringste an, Inspector.“ Dann nahm er die Tasse und nippte am Kaffee, bevor er sagte: „Wenn Sie einen Assistenten brauchen, gebe ich Ihnen Sergeant Fulston.“
„Fulston?“ Edwards kniff die Lippen zusammen. „Der stolpert doch über seine eigenen Füße.“
„Er ist übereifrig und dadurch ein bisschen tollpatschig“, stimmte DeFries zu, „aber unter Ihrer Führung, Robert, wird er schnell lernen. Haben Sie Nachsicht. Sie haben auch mal klein angefangen.“
Edwards versuchte es erneut. „Aber Dyers hat bereits an dem Fall gearbeitet. Er kennt die Akten. Er verdient diese Chance.“
„Ich habe Ihnen meine Entscheidung mitgeteilt. Wenn sie Unterstützung wollen, dann gebe ich Ihnen Fulston. Jemand anderen habe ich nicht für Sie.“
Edwards knirschte mit den Zähnen. Er war es nicht gewohnt, klein beizugeben, wusste aber auch, dass jedes weitere Wort verschwendet war.
„Haben Sie mit den Ermittlungen begonnen?“, fragte DeFries.
„Die Akten geben nicht allzu viel her. Estelle Wiggins, Kind aus gutem Haus. Behütet aufgewachsen. Musikalisch, ein lebensfrohes Mädchen. Bevor ich herkam, war ich nochmal am Haus ihrer Eltern. Ihr Vater ist in Indien und ihre Mutter soll in einem Sanatorium in Brighton sein.“
„Das klingt so, als wäre sie es nicht.“
„Nein. Ich traf die Haushälterin und sie ließ mich ins Haus und ich konnte mich ein wenig umsehen.“ Er griff in seine Manteltasche und zog ein paar Briefe heraus, die er DeFries reichte. „Die habe ich gefunden.“
Während DeFries den ersten Brief öffnete, erklärte Edwards: „Sie ist hier. In London. Man hat sie in eine Irrenanstalt gesteckt.“
Jeder der Umschläge trug den Absender St. Bethlem. Lambeth Road.
„Und ihr Mann bezahlt die Behandlungskosten nicht.“ Edwards suchte den passenden Brief und tippte mit dem Finger darauf. „Sie schreiben, dass sie gezwungen wären, Mrs. Wiggins in einen anderen Trakt zu verlegen, wenn die Zahlungen nicht fortgeführt würden und hier: Sie haben die Behandlung eingestellt.“ Edwards ließ den Brief fallen. Er war wütend. „Ich würde sagen, die haben sie weggesperrt und vergessen.“
Er kannte die Waisen und Armenhäuser der Stadt und wusste nur zu gut, dass ein Menschenleben dort nichts zählte. Eine Irrenanstalt war ihm selbst bisher erspart geblieben, aber die Gerüchte genügten, um sie für den schrecklichsten Platz auf Erden zu halten.
„Glauben Sie, der Tod ihrer Tochter hat sie in den Wahnsinn getrieben?“, fragte DeFries.
„Möglich. Aber vielleicht hat Mr. Wiggins auch nur eine elegante Gelegenheit gesehen, seine Frau loszuwerden. Wie auch immer. Ich werde sie besuchen.“
„Gibt es noch irgendetwas Neues wegen Madame Yin?“
„Ich wollte gleich zu ihrem Haus in die Newcomen Street fahren, um mich da etwas umzusehen.“
„Nun gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden, Robert.“
„Mach ich das nicht immer, Sir?“
„Nein, eigentlich machen Sie das nie.“
Edwards wandte sich zum Gehen, doch DeFries hielt ihn auf. „Sergeant Fulston ist in seinem Büro.“
„Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn nehme, Sir.“
„Nein, das haben Sie nicht. Aber da das Gespräch schon auf ihn gekommen ist, halte ich es für eine gute Sache. Fulston wird Ihnen nützlich sein, außerdem kann es ihm nicht schaden, wenn er ein wenig Erfahrung sammelt.“
„Aber, Sir … ich …“
„Guten Tag, Inspector.“
Edwards ließ theatralisch den Kopf sinken. „Wie Sie meinen, Sir.“ Er schloss die Tür hinter sich.
Fulston tat ihm jetzt schon leid. Er selber war ein grauenhafter Untergebener gewesen und glaubte nicht, dass er als Vorgesetzter besser sein würde. Mit Riesenschritten stapfte er in das Büro seines neuen Sergeant. „Fulston!“, donnerte er mit tiefer Stimme.
„Sir!“ Der junge Polizist fuhr erschrocken zusammen. Ein paar Aktenblätter wirbelten um ihn herum und segelten nun langsam zu Boden. Die Augen hinter den runden Brillengläsern wirkten riesengroß.
„Klopfen Sie sich den Staub ab, Sergeant. Sie kommen jetzt mit mir. Chief Inspector DeFries hat Sie mir zugeteilt.“
„Ihnen, Sir?“ Fulston bekam hektische Flecken. Ein Gang zum Schafott hätte für ihn vermutlich nicht schrecklicher sein können, wie Edwards grinsend feststellte.
„Wir werden sicher gut zusammenarbeiten. Ich freue mich schon darauf, Sie in Aktion zu erleben.“
„Ich … ich … hab … noch zu tun … Sir. Diese Akten …“
Edwards nahm eine davon vom Stapel und sah auf den Deckel. „1870? Die Fälle sind ja uralt. Kommen Sie, ich habe etwas Aktuelleres für Sie.“
Ohne auf den erneuten Protest zu achten, ging Edwards aus dem Büro hinunter ins Foyer.
„Wohin fahren wir denn?“ Fulston beeilte sich, Schritt zu halten, während er versuchte, den rechten Ärmel seines Mantels zu erwischen.
„Zuerst nach Bedlam.“
„Was tun wir denn da?“
„Sie gar nichts. Sie warten, während ich mit Mrs. Wiggins spreche.“
„Sie ist im Irrenhaus? Was wollen Sie denn da erfahren?“
Edwards blieb abrupt stehen und sah seinen Sergeant strafend an. „Das werde ich Ihnen wohl erst sagen können, wenn ich mit Ihr gesprochen habe.“
„Natürlich, Sir.“
Edwards ging weiter. „Danach fahren wir nach Lambeth.“
„Was? Lambeth? Wieso denn ausgerechnet da hin?“
„Was wissen Sie über den Fall, Sergeant?“
„So gut wie gar nichts, Sir.“
„Sie können sich in die Akten einlesen, während ich mit Mrs. Wiggins rede. Gehen Sie und holen Sie die Akte aus meinem Büro, sie liegt auf meinem Schreibtisch.“
Als Fulston mit der Akte wieder zurückgeeilt kam, sprach Edwards weiter, als wäre dieser gar nicht weg gewesen. „Also, das zweite Opfer hieß Madame Yin. Sie war eine Größe in der Londoner Unterwelt. Prostitution, Opium und was weiß ich noch alles. Sie war sehr umtriebig. Sie wohnte in Lambeth und da werden wir uns mal umsehen.“
„Wenn Sie meinen, Sir.“
„Jetzt machen Sie mal nicht so ein Gesicht. Sie werden da nicht gleich gefressen. Wir ermitteln ein wenig, befragen die Leute, vielleicht nehmen wir jemanden fest, oder wir schlagen ein paar Köpfe aneinander. Sie werden sehen, es wird Ihnen gefallen.“ Edwards freute sich diebisch über die Panik, die in Fulstons Gesicht fröhliche Kapriolen schlug.
„Köpfe zusammenschlagen?“
Edwards grinste. „Sind Sie bewaffnet?“
„Bewaffnet? Nein, Sir.“
„Wo ist denn Ihre Waffe?“
„Ich … ich besitze keine.“
„Das ändern Sie bis morgen. Verstanden?“
„Aber ich kann nicht schießen.“
Edwards wischte die Bemerkung beiseite. „Das lernen Sie schnell. Keine Sorge. Ich werd's Ihnen zeigen.“
Fulston nickte stumm.
Während sie die Stufen zum Foyer hinabstiegen, musste Edwards an Dyers denken. Der Mann hätte sein rechtes Bein und seine rechte Hand dafür gegeben, um an den Ermittlungen beteiligt zu werden. Es tat Edwards leid, ihn enttäuschen zu müssen, und er beschloss, ihn persönlich über die Absage zu informieren.
Sie steuerten gerade auf den Ausgang zu und hatten die Tür schon fast erreicht, als Doktor Aegelwoods Assistent aus dem Keller heraufkam. „Ah, Inspector Edwards!“ Er lief ihnen nach.
„Morgen, Willoughby. Was gibt es denn so Dringendes?“
„Es geht um die Tote. Madame Yin. Der Doktor hat die Untersuchungen abgeschlossen.“
„Sehr gut. Hören wir mal, was uns der gute Doktor zu sagen hat. Kommen Sie, Fulston.“
„In den Leichenkeller?“ Sofort kamen die hektischen Flecken zurück.
„Keine Angst. Die da unten werden Sie schon nicht beißen. Es sei denn Dr. Aeglewood hat mal wieder einen schlechten Tag. Dann würde ich ihm allerdings nicht die Hand geben.“