Kitabı oku: «Das Geheimnis der Madame Yin», sayfa 6

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„Meinen Sie, Sir?“

„Unbedingt.“

Sie betraten die Kellerräume, in denen es nie wärmer als zwölf Grad wurde, und folgten einem langen Flur aus weiß gekalkten Backsteinen. Gaslampen beleuchteten die Wände.

Willoughby führte die beiden Beamten durch eine Doppeltür, die beim Hin- und Herschwingen leise quietschte, in einen mit weißen Fliesen gekachelten Raum. Hier lagen vier Leichen auf Bahren aus Metall. Saubere Leinenlaken bedeckten die Körper.

Es war so still, dass jedes laute Geräusch wie ein Sakrileg erschien.

In solchen Momenten geschah es, dass die Toten die Lebenden daran erinnerten, dass sie da waren.

Dann glucksten und blubberten sie. Manche rülpsten sogar, wie nach einem guten Essen. Faulgase waren dafür verantwortlich. Aeglewood hatte eine poetischere Bezeichnung dafür gefunden: Die Toten sangen ein letztes Mal.

Er erwartete sie bereits.

Seine Nase war tiefrot und wund, als sie näher traten, schnäuzte er sich zum wiederholten Mal in ein Taschentuch. „Meine Herren. Ich bin mit Yins Untersuchung fertig.“ Dann stockte er. „Sergeant Fulston? Ist Ihnen nicht wohl?“

„Geht … schon“, brachte dieser nur mühsam heraus.

Aeglewood sah ihn zweifelnd an. „Wollen Sie sich lieber setzten?“

„Nein, es geht mir gut, wirklich“, blieb Fulston hartnäckig, „es ist nur dieser … Geruch.“

„Irgendwann gewöhnt man sich daran.“ Mit diesen Worten zog Aeglewood das Leichentuch beiseite, damit sie einen Blick auf den nackten Leib der Toten werfen konnten.

Ihre Haut wirkte merkwürdig weiß, nur an der Unterseite ihres Körpers hatten sich große dunkle Flecken gebildet. Ihr Mund stand ein wenig offen, sodass Edwards die Zunge zwischen den Zähnen sehen konnte. Ihr Haar schimmerte feucht. Auf ihn wirkte sie, als wäre sie in der Badewanne eingeschlafen.

„Der Mörder hatte sie geknebelt, vermutlich mit einem ähnlichen Knoten wie dem, mit dem er sie später tötete. Ich fand Reste davon zwischen ihren Zähnen. Irgendein grobes Material. Hanf, möglicherweise. Es stammt jedenfalls nicht von dem gelben Tuch.“

Aeglewood ging um die Leiche herum und hob ihren rechten Arm. „Hier sind Male. Von der Position her würde ich vermuten von Fingern. Sie wurde hart angefasst. Vom Abstand her bin ich mir sicher, dass es eine Männerhand war. Zudem wurde sie gefoltert.“

„Gefoltert?“

Aeglewood nahm eine Lupe zur Hand und beugte sich über Madame Yins Bauch. „Hier. Wenn man genau hinsieht, kann man feine Einstiche erkennen. Ich vermute Nadeln, wie sie zum Nähen von Leder verwendet werden. Sie sind nicht tief, aber zahlreich. Ich habe an die achtzig gezählt. Am Bauch, an den Innenseiten der Schenkel und an den Brüsten. Die Einstiche haben kaum geblutet, was mich darauf schließen lässt, dass die Nadeln glühend heiß waren, ehe sie ins Fleisch gestoßen wurden.“

„Wurde sie auch … na ja … du weißt schon?“

„Nein. Im Genitalbereich konnte ich keine Verletzungen feststellen.“

„Yin wurde gefoltert. War das bei Estelle Wiggins auch der Fall?“

„Ich habe die Untersuchung nicht durchgeführt, aber in den Akten meines Kollegen steht davon nichts. Nur die Todesursache ist identisch.“

„Seltsam. Der Mörder tötet beide, aber quält nur eine?“

„Ja, so sieht es aus.“

„Aber warum?“

„Vielleicht hat er Geschmack daran gefunden, sie erst zu quälen und dann zu töten.“

„Du glaubst, es bereitet ihm mehr und mehr … Freude?“

Aegelwood zuckte mit den Achseln. „Es wäre nicht das erste Mal.“

Edwards verzog die Lippen und nickte.

Nachdem sich die beiden Polizisten von Aeglewood verabschiedet hatten, bestiegen sie eine der Kutschen vor Whitehall und fuhren los. Die Luft flirrte vom Nieselregen. Der Geruch von nassem Leder und den typischen Ausdünstungen eines Pferdes kribbelten Edwards in der Nase. Er dachte an Madame Yin. Wer hatte sie zuletzt gesehen? Wen hatte sie gesprochen?

Wie weit reichte ihr Netzwerk und wer würde jetzt am meisten von ihrem Tod profitieren? Vielleicht war Estelle Wiggins nur eine unliebsame Zeugin gewesen? Zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber ein Mädchen aus feinem Haus und eine Bordellbesitzerin – wo war der Zusammenhang? Gab es überhaupt einen? Vielleicht sollte Estelles Tod auch nur vom eigentlichen Ziel ablenken, das Madame Yin hieß. Schließlich war sie die ungekrönte Opiumkönigin von Lambeth, Spitalfields und Whitechapel gewesen.


The City of London Zur selben Zeit

Celeste und Dorothea waren mit der Kutsche nach Norden gefahren, die Park Lane entlang und waren dann in die Oxford Street eingebogen. Sie kamen am Princess Theatre vorbei, in dem das Stück Drink gespielt wurde. Die Hauptrolle spielte ein gewisser Charles Warner, der ernst von einem der Plakate neben dem Eingang herabschaute. Ansonsten reihten sich Geschäfte an Geschäfte. Der feine Regen fiel auf die zahlreichen Markisen, die fast bis an die Straße reichten. Der Union Jack hing nass von zahlreichen Fahnenstangen herab.

Celeste fühlte sich wie eine Forscherin, die staunend eine ihr fremde Welt erkundete und alle Eindrücke aufsog wie ein Schwamm. Obwohl die Stadt ihr einerseits vertraut erschien, so war sie ihr andererseits auch fremd. Alleine schon die Tatsache, dass die Kutschen in London auf der falschen Straßenseite fuhren, irritierte sie. Die schiere Zahl der Gefährte ähnelte allerdings der in New York oder Chicago. Dazu waren die Gehwege voller geschäftig umher eilender Menschen. Dienstboten und Arbeiter, dazwischen Straßenkehrer und Mistsammler. Reiche Gentlemen in schwarzen Mänteln und sauber geputzten Schuhen, die durch die Nässe langsam stumpf wurden, blieben an den Schaufenstern von John Lewis, Swears & Wells und dem Schuhmacher Manfield & Sons stehen.

In den Schaufenstern von Wallis & Co. sah Celeste edle Kleider für die Abendgala, die Oper oder das Theater, dazu Hüte in allen Formen und Farben, geschmückt mit Federn von Krähen, Pfauen und Papageien.

Bei John Collier standen Schaufensterpuppen aus Mahagoni. Sie trugen Smokings und gestärkte Hemden mit Salisbury- oder Mornington-Kragen. Natürlich alles passgenau und von Hand gefertigt, wie es ein Schild im Fenster verkündete.

Celeste verdrehte sich den Hals, alles war so vertraut und gleichzeitig so ganz anders als zu Hause. Werber, die große Plakate umhertrugen, liefen über die Straße und machten mit einer Glocke auf sich aufmerksam.

„Kaufen Sie Romleys Mundwasser! Mundwasser von Romley! Kaufen Sie … nur hier die Seife mit Rosenduft!“, plärrte ein anderer dazwischen, „Rosenduft Seife! Für Ihre Lieben, für sich selbst! Tun Sie sich etwas Gutes und kaufen Sie … Rosenseife!“ Die Stimme verlor sich im allgemeinen Lärm der Straße, als die Kutsche weiterfuhr.

Pferdeomnibusse rumpelten schwerfällig vorbei. Celeste kannte sie aus Chicago und hasste sie. Sie waren immer hoffnungslos überfüllt, ständig trat einem jemand auf die Füße und sie schaukelten so entsetzlich, dass sie einmal fast seekrank geworden wäre.

Bei einem der Blumenmädchen am Picadilly Square kaufte Celeste einen kleinen Strauß Primeln für ein paar Pence. Zumindest hoffte sie, dass sich das Mädchen nur ein paar Pence genommen hatte. Celeste verwirrte das fremde Geld, die englischen Münzen ähnelten sich zu sehr.

Den Strauß schenkte sie Dorothea.

Inzwischen war es Mittag geworden. Der Regen hatte sich so schnell verzogen, wie er gekommen war, die Sonne brach durch die Wolken und Dorothea führte Celeste in ein kleines Café in eine der Seitenstraßen, nicht weit von Picadilly entfernt. Sie saßen unter einer großen Markise und hatten Glück, noch einen freien Tisch bekommen zu haben. Ein paar Straßenmusikanten, die in der Nähe unter einer Laterne standen, spielten die Serenade von Franz Schubert.

Dorothea bestellte heiße Crumpets und Ingwertee für sie beide.

Ingwertee. Celeste mochte den scharfen Nachgeschmack nicht, trotzdem nippte sie tapfer an der Tasse, was ihr sofort leidtat. Die Schärfe des Ingwers brannte in der Kehle. Sie verzog das Gesicht. Dorothea kicherte leise. „Schmeckt er Ihnen nicht?“, fragte sie unschuldig.

„Ich glaube, wenn es nur noch Ingwertee zu trinken gäbe, würde ich verdursten.“

Nun kicherte Dorothea so laut, dass sich ein paar der anderen Gäste nach ihnen umdrehten.

Sie errötete, senkte den Kopf zwischen die Schultern und wurde still. Nach einer Weile sagte sie: „Sie wissen so viel über mich. Aber ich weiß gar nichts über Sie.“

Celeste stocherte in ihrem Crumpet und antwortete ohne aufzusehen. „Da gibt es nichts zu erzählen.“

„Sind Sie verheiratet?“

Nun sah Celeste auf. „Nein.“

„Warum denn nicht?“

Celeste zupfte ein welkes Blatt von dem Primelstrauß, der zwischen ihnen auf dem Tisch lag. Sie konnte Dorothea nicht sagen, dass sie sich deswegen mit ihrer Familie überworfen hatte und dafür sogar verstoßen wurde. „Das ist ein heikles Thema.“

Dorothea ließ nicht locker. „Warum ist das heikel?“

„Iss deinen Crumpet.“

Ein Zeitungsjunge kam vorbei. Er trug einen Stapel Zeitungen auf dem Arm und hielt eine hoch in die Luft gestreckt.

„Lesen Sie alles über die Tote in der Themse! Alles in der Illustrated Police News! Die Themsebestie tötet wieder! Lesen Sie alles im Innenteil! Themsebestie mordet wieder! Lesen sie den Augenzeugenbericht! Police News!“

Der Junge blieb stehen und hielt Ausschau nach Kundschaft. Ein beleibter Mann am Nachbartisch winkte ihn heran und kaufte eine Zeitung.

Dann war der Junge auch gleich weiter und versuchte sein Glück woanders.

Der Kellner kam. „Sind die Damen zufrieden? Darf ich noch etwas bringen?“ Er trug ein sauber gefaltetes Serviertuch über dem angewinkelten Arm.

„Haben Sie Kaffee?“, fragte Celeste und schob den Ingwertee demonstrativ von sich.

Der Kellner bemerkte es, lächelte aber gleichbleibend höflich. „Selbstverständlich, Madam.“

„Dorothea?“ Das Mädchen hörte nicht. Celeste beugte sich vor und berührte Dorothea am Arm. „Hörst du? Möchtest du auch eine Tasse Kaffee?“

Aber Dorothea starrte mit weiten Augen auf die Titelseite der Illustrated Police News, die der Mann am Nebentisch aufgeschlagen hatte.

Die Überschrift lautete „Themsebestie mordet wieder“. Darunter waren die gezeichneten Porträts zweier Frauen zu sehen. Die eine war jung, die andere älter und offensichtlich Asiatin.

„Estelle“, keuchte Dorothea, sprang auf und riss dem verdutzten Gast die Zeitung aus der Hand. Ihr Blick flog über das Papier. Ihr ganzer Körper wurde dabei von einem Zittern erfasst, das immer stärker wurde. Schließlich schrie Dorothea grell auf. Ihre Hände zerknüllten das Papier und sie stürzte weinend zu Boden. „Estelle. Nein, nein, nein.“

Celeste war sofort bei ihr, umfasste ihre Schultern und lehnte sie gegen sich. „Shht, shht, alles gut. Es ist alles gut.“

Der Kellner stand fassungslos da. Andere Gäste verrenkten sich den Hals, nur der Mann mit der Zigarre starrte sie wütend an und polterte los. „Ist die hysterisch geworden, oder was?“

Celeste fuhr ihn an. „Seien Sie still! Ein Glas Wasser!“ Keiner rührte sich. Sie starrte den Kellner an. „Ein Glas Wasser, haben Sie mich nicht gehört?“

Dorothea schluchzte und weinte und bekam kaum Luft, ihr Gesicht war rot geworden.

„Gibt es hier ein Problem?“ Ein Bobby war durch den Lärm aufmerksam geworden.

„Sie schickt der Himmel, guter Mann“, sagte Celeste, die Dorothea fest an sich drückte und ihr dabei sanft über den Kopf strich. „Würden Sie uns bitte eine Kutsche besorgen?“

Der Bobby nickte. „Sie sollten sie zu einem Arzt bringen.“

„Das wird nicht nötig sein. Ihr ist nur … schwindelig geworden.“

„Schwindelig?“ Der Mann mit der Zigarre schnaufte spöttisch. Celeste starrte ihn wütend an. Ihre zusammengekniffenen Augen verrieten, dass sie sich nur zu gern mit ihm angelegt hätte.

Der Mann zog es vor, nichts mehr zu sagen und sich hinter den Resten seiner Zeitung zu verstecken.

Der Kellner brachte das Glas Wasser, aber Dorothea wollte nichts trinken. Sie schlug ihm das Glas aus der Hand, das auf dem Pflaster zersplitterte.

„Bitte“, sagte Celeste flehend an den Polizisten gewandt und drückte gleichzeitig dem Kellner achtlos ein paar Münzen in die Hand.

„Na schön, wie Sie meinen. Aber ich denke, sie bräuchte wirklich einen Arzt.“ Ohne auf ihre Antwort zu warten, trat er an die Straße und winkte die erste freie Hansom-Kutsche heran.

Dann half er Dorothea beim Einsteigen.

„Danke“, sagte Celeste, setzte sich und schloss die Tür.

„Jederzeit zu Diensten, Ma'am“, sagte der Bobby und salutierte flüchtig. „Passen Sie gut auf sie auf.“

„Das werde ich.“

Die Kutsche rollte an und reihte sich in den Verkehr ein. „Wohin, Lady?“, fragte der Kutscher.

„Park Lane und beeilen Sie sich.“

Celeste lehnte Dorothea an ihre Schulter und nahm sie tröstend in die Arme. Das Mädchen schluchzte und wimmerte leise, hatte sich sonst aber beruhigt. Jetzt weiß sie es also, dachte Celeste bitter. Auf diese Weise hätte sie es nicht erfahren dürfen.

Sie beschloss, das Mädchen nach Hause zu bringen. Celeste sah sich genötigt, etwas zu unternehmen. Der Mörder von Estelle Wiggins hatte ein weiteres Mal zugeschlagen. Sie warf einen verstohlenen Blick auf das Stück Zeitung, das sie eingesteckt hatte. Da stand ein Name. Madame Yin. Sie würde herausfinden, wer das war.


St. Bethlehem Royal Hospital Eine Stunde später

„Bedlam“, hatte er dem Kutscher gesagt und der wusste sofort, was Edwards damit meinte. Jeder wusste das.

Das Bethlehem Royal Hospital für Geisteskrankheiten. Es war ein schrecklicher Ort, obwohl er eigentlich der Gesundung dienen sollte. Kaum jemand, der dort eingeliefert wurde, fand jemals wieder den Weg zurück in die Freiheit. Es gab Gerüchte. Von Schlägen und sadistischen Wärtern war die Rede. Man sprach von Eisbädern, bei denen die Patienten auf Stühle geschnallt wurden, um sie dann rücklings in ein mit Eiswasser gefülltes Becken zu tauchen. Der Moment des Schocks sollte dem Geist Linderung verschaffen.

Gewalttätige Patienten wurden tagelang ans Bett gefesselt oder auf Jahre hinweg in Einzelzellen gesteckt. Zahlende Besucher sollten die „Irren“ bestaunen dürfen, wie Tiere hinter Gittern. Ein wenig Grusel für ein paar Schillinge. An all das musste Edwards denken, während sie sich dem Gebäude mit der gewaltigen Kuppel näherten. Sie fuhren auf ein eisernes Tor zu, das den weiteren Weg versperrte und die Kutsche zum Anhalten zwang. Links und rechts erhoben sich hohe Backsteinmauern.

Edwards fühlte eine unangenehme Nervosität in seinen Eingeweiden rumoren.

Er stieg aus. „Warten Sie“, sagte er zu dem Fahrer und dann zu Fulston: „Ich bin in einer Stunde zurück. Arbeiten Sie sich solange in den Fall ein.“

„Jawohl, Sir.“

Eine Windböe spielte mit einem Fetzen Papier und Blätter raschelten an einer knochigen Buche.

Edwards schritt auf das Tor zu. An den Nieten schimmerten rostrote Flecken wie Blut.

Er zog an einer Klingelschnur, die neben dem Tor hing. Irgendwo dahinter hörte er es läuten. Schritte folgten, dann wurde eine Klappe in dem Tor geöffnet und feuchte Augen mit schlaffen Lidern starrten ihn an. „Ja?“

„Mein Name ist Inspector Robert Edwards. Scotland Yard.“ Er kramte in seinem Mantel nach dem Ausweis und zeigte ihn. „Ich möchte mit einer Patientin sprechen. Judith Wiggins.“

„Mmh“, machte der Pförtner.

„Es ist wichtig.“

Der Mann starrte weiter, ohne sich zu regen.

„Verdammt nochmal.“ Edwards verlor die Geduld und wurde lauter. „Ich weiß, dass sie hier ist. Diese Briefe habe ich im Haus der Familie Wiggins gefunden. Sie wurden von einem Doktor West unterschrieben. Also lassen Sie mich rein.“

„Warten Sie.“ Die Klappe schloss sich wieder und Edwards kniff vor Wut die Lippen zusammen. Etwas hilflos sah er zu Fulston, der aber auch nur mit den Schultern zucken konnte.

Edwards fühlte sich wie ein Trottel und er zog abermals an der Klingelschnur. Nichts geschah.

Ein paar Minuten vergingen, bis er hörte, wie das Tor entriegelt und schließlich geöffnet wurde. Der Pförtner ließ ihn eintreten. Der Mann war klein und schmächtig. Im Gegensatz dazu trug er eine viel zu große blaue Uniform mit glänzenden Messingknöpfen. „Da entlang“, sagte er und zeigte auf das Hauptgebäude.

Das Tor schlug mit einem lauten Knall hinter Edwards zu.

Er folgte dem gepflasterten Weg, den der Pförtner ihm gewiesen hatte. Das gab ihm Gelegenheit, sich umzusehen. Ein paar der Patienten kümmerten sich um den Garten. Dabei wirkten sie wie lebende Tote, die sich mühsam durch die Beete schleppten. Einer stand nur da und starrte ins Nichts. Er rührte keinen Muskel und blinzelte nicht einmal.

An jeder Tür gab es Posten, die Edwards mit kritischen Blicken musterten. Im Gegensatz zu dem Pförtner waren sie von großer, massiger Gestalt mit mitleidlosen Gesichtern.

Sie hielten ihre Knüppel in den Händen und schienen bereit zu sein, sofort loszuschlagen.

Der Haupteingang lag hinter einer offenen Vorhalle, die von griechischen Säulen getragen wurde. Als er die Stufen hinaufging, entdeckte er links und rechts zwei Statuen, die Melancholie und Wahnsinn verkörperten.

Edwards spürte, wie es ihm kalt den Rücken hinab lief.

Die Tür öffnete sich. Ein Mann mittleren Alters in einem weißen Kittel kam auf ihn zu.

Eine runde Brille klemmte auf seiner Nase. Er streckte Edwards die Hand entgegen.

„Doktor Hubert West. Bitte verzeihen Sie, dass Sie warten mussten.“

„Inspector Edwards. Scotland Yard.“ Seine schlechte Laune war noch nicht gänzlich verraucht.

Doktor West deutete auf die Tür und öffnete sie für Edwards. „Bitte. Treten Sie ein. Der Portier sagte, Sie möchten mit Judith sprechen?“

„Mrs. Wiggins. Ja. Wenn das möglich ist. Es geht um ihre Tochter.“

„Mhh. Ein tragischer Fall.“

„Sie wissen also, was mit ihrer Tochter geschehen ist?“

„Ja, natürlich. Diese arme Person. Der Tod ihrer Tochter war mehr, als ihr Geist ertragen konnte.“

„Sind Sie ihr behandelnder Arzt?“

„Nein, das ist Doktor Dillingsgate, aber ich führe Sie gerne zu ihm, wenn Sie das wünschen.“

Edwards nickte.

Sie folgten einem Gang, der mit weißen und schwarzen Fliesen gekachelt war. Links und rechts führten breite, marmorne Treppen in ein großes Treppenhaus. Überall gab es schwere Gittertüren.

Die hohen Decken vervielfachten das Stöhnen und die vereinzelten Schreie. Sie schienen von überall her auf Edwards einzudringen. In der Ferne klapperte etwas Metallisches zu Boden, eine Tür fiel ins Schloss, Schlüssel klirrten.

Edwards zog es den Magen zusammen. Doktor West stieg eine der Treppen hinauf. Zwei Pfleger, bullige Kerle mit harten Gesichtern und Händen wie Schaufeln, kamen ihnen entgegen. Beide trugen ihre Knüppel am Gürtel.

„Sagen Sie, Doktor West … Ist es unbedingt notwendig, die Patienten derart bewachen zu lassen?“

Der Doktor blieb kurz stehen und musterte ihn, als wäre Edwards nun verrückt geworden.

„Sagen Sie mir, lassen Sie die Zellen auf der Wache auch offenstehen, weil es unmenschlich ist, einen Menschen einzusperren?“

Bevor Edwards über eine Antwort nachdenken konnte, fuhr der Arzt fort: „Es dient unserer eigenen Sicherheit und der Sicherheit dieser Stadt. Ein Mensch, der in seinem Wahn gefangen ist, stellt für alle, auch für sich selbst, eine gefährliche Bestie dar. Wir verhindern, dass sie ungehindert wüten kann, nichtsdestoweniger bemühen wir uns natürlich darum, der armen Seele Linderung und wenn möglich Heilung zu verschaffen.“

Die Ausführungen klangen in Edwards Ohren wie auswendig gelernt. „Verstehe“, sagte er knapp.

Sie erreichten eine Tür, auf der Laboratorium stand. Doktor West klopfte flüchtig und öffnete.

„Doktor Dillingsgate“, sagte er in den Raum hinein. „Ein Inspector Edwards ist hier. Er möchte mit Ihnen über Judith sprechen.“

„Ausgerechnet jetzt?“, kam die barsche Antwort.

„Ich denke, Sie sollten sich die Zeit nehmen. Es geht um Judiths Tochter.“

„Also gut denn. Ich lasse bitten.“

West trat einen Schritt beiseite und machte Edwards Platz. „Sollten Sie mich brauchen, Inspector – Sie finden mich unten in meinem Büro.“

Edwards nickte und betrat das Laboratorium. Ein stechender Geruch empfing ihn. Vielleicht Alkohol, vielleicht Ammoniak, oder eine Mischung aus beidem.

Die Fenster waren mit Bettlaken verhangen. Licht kam nur von zwei Lampen auf einem Tisch, auf dem ein Mikroskop stand. Der Lichtschein fiel schummrig in den Raum und fing sich in deckenhohen Regalen voller Gläser, die mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt waren. Edwards erschauderte, als er genauer hinsah: In der Flüssigkeit schwammen abgeschnittene Hände ohne Fingerkuppen, Augen hingen wie tote Kaulquappen in ihrem Glas. Herausgeschnittene Gehirne füllten ein ganzes Regal. Manche groß, manche klein, alle beschriftet. In einem anderen Glas schwamm ein Fötus, wie im Leib der Mutter.

Obwohl es in dem Raum stickig und warm war, kroch Edwards eine Gänsehaut über die Arme.

Erst jetzt bemerkte er den Mann, der in einem hohen Schreibtischstuhl saß und ihn durch seine großen Brillengläser hindurch anstarrte. „Haben Sie genug gesehen?“, fragte er mit näselnder Stimme. „Meine Zeit ist überaus kostbar.“ Er hielt ein Skalpell in der Hand, das er nun auf dem fleckigen Tisch ablegte. Schneidwerkzeug jeglicher Art lag darauf ausgebreitet. Direkt vor ihm lag ein menschliches Gehirn auf einem Holzbrett, wie es in jeder Küche zu finden war.

Edwards trat näher und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Er mochte keine Ärzte und dieser abscheuliche Ort machte ihm auf das Deutlichste klar, warum dem so war. Es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen und er musste sich zwingen daran zu denken, weswegen er hergekommen war.

„Doktor West sagte mir, Sie behandeln Judith Wiggins.“

„Das ist korrekt.“

„Ich muss mit ihr sprechen. Es geht um den Tod ihrer Tochter. Es gibt eine weitere Tote, die …“

„Mit ihr sprechen?“, fragte Dillingsgate höhnisch. „Judith ist in ihrer eigenen Welt und ich fürchte, ihr Verstand ist nicht mehr zu retten, also denke ich nicht, dass sie Ihnen behilflich sein kann.“

Edwards fixierte den Doktor. „Davon würde ich mich gerne selbst überzeugen.“

„Das steht Ihnen natürlich frei. Wir sind schließlich kein Gefängnis.“ Dillingsgate ließ sich gönnerhaft in seinen Stuhl zurücksinken, griff nach einer Schnur, die an der Wand hing und zog daran. „Es wird jemand kommen, der Sie zu ihr bringt.“

Er wollte sich schon wieder seiner Arbeit zuwenden, aber Edwards hob die Hand. „Nicht so schnell. Ich bin noch nicht fertig.“

Dillingsgate seufzte entnervt: „Was denn noch?“

„Wer hat Mrs. Wiggins zu Ihnen gebracht?“

„Das war ihr Mann.“

„Kommt Ihnen das nicht merkwürdig vor? Ihre Tochter stirbt und er hat nichts Besseres zu tun, als seine Frau in eine Irrenanstalt zu stecken, während er selbst nach Indien abreist?“

„Wir bevorzugen den Begriff Sanatorium“, korrigierte Dillingsgate, „und nein, es kommt mir nicht seltsam vor. Judiths Geist hat durch den Tod der Tochter sehr gelitten … Hysterie war die Folge. Eine Krankheit, von der viele Frauen betroffen sind. Mr. Wiggins sah keine andere Möglichkeit.“

„Und seine plötzliche Abreise?“

„Inspector. Wir sind eine Heilanstalt und nicht Thomas Cook. Wenn jemand verreisen will, fragen wir doch nicht nach dem Grund.“

Edwards spürte, wie die Adern an seinem Hals pochten. „Und dass er die Rechnungen nicht bezahlt? Ist das auch nicht Ihr Problem?“

Dillingsgate lächelte gequält. „Ich bin Arzt und nicht für die Verwaltung zuständig. Da fragen Sie den Falschen.“

„Ohne Geld sind wohl auch die Aussichten auf Heilung für Mrs. Wiggins gesunken, nicht wahr?“

„So ist es wohl. Eine medizinische Behandlung ist langwierig und das kostet nun einmal Geld, Inspector. Zu uns kommen viele Kranke mit dem Wunsch nach Heilung und leider kann es sich nicht jeder leisten die beste Behandlung zu erfahren. Wir können nicht alle retten.“

„Verstehe. Und Mrs. Wiggins? Was geschieht nun mit ihr?“

Dillingsgate lächelte, was seine Zähne im Schein der Lampen gelb erscheinen ließ. „Machen Sie sich keine Sorgen, Inspector. Es geht ihr gut. Ihre Hysterie ist unter Kontrolle.“

Edwards hatte eine bange Ahnung, was er damit meinen konnte. „Haben Sie mit ihr gesprochen? Über ihre Tochter?“

„Aber selbstverständlich. Ein sehr delikates Thema.“

„Hat sie denn etwas gesagt? Wo ihre Tochter hingegangen sein könnte? Wen sie traf? Hat sie Freunde erwähnt? Oder … Verehrer? War etwas vorgefallen? Vor dem Verschwinden von Estelle.“

„Das sind Dinge, mit denen befasse ich mich nicht. Ich sehe nur den Patienten. Es geht mir einzig und allein um den geistigen Zustand.“

„Aber ist es da nicht wichtig, den Grund für diesen Zustand zu kennen?“

Dillingsgate sah ihn freudig überrascht an. „Gut, Inspector. Eine wirklich ausgezeichnete Frage.“

Edwards wartete nur darauf, dass der Doktor vor Begeisterung in die Hände klatschte. „Und? Haben Sie auch eine Antwort für mich?“

„Inspector. Ich habe viele Patienten. Sehr viele. Wenn ich mich mit jedem ausführlich beschäftigen würde, bliebe für die anderen keine Zeit mehr.“

„Dann gestatten Sie mir die Frage, wie viel Zeit Sie mit Mrs. Wiggins verbracht haben.“

Der Doktor machte ein fragendes Gesicht. „Das weiß ich wirklich nicht mehr.“

Edwards wandte sich ab. „Natürlich nicht“, brummte er.

„Wie meinen?“

„Nichts. Schon gut. Eine Frage noch: Was genau ist vorgefallen, dass Mr. Wiggins sich genötigt sah, seine Frau herzubringen?“

„Wie schon erwähnt. Sie wurde hysterisch und griff ihn mit einer Schere an. Ich habe die Wunden gesehen. Judith war außer sich, als sie herkam. Sie hat getreten, gebissen und um sich geschlagen. Wir mussten ihr sogar eine Zwangsjacke anlegen.“

„Sie hatten keine Zweifel?“

„Nein, wieso sollte ich? Diese Form des Wahnsinns ist mir durchaus vertraut. Dieses Gehirn hier zum Beispiel. Es gehörte einem Mann. Dieser Mann hat ein Blumenmädchen zunächst gequält und dann erwürgt und das nur, weil sie seine Avancen zurückgewiesen hat.“ Sein hageres Gesicht leuchtete, als würde er über ein wunderbares Ereignis in seinem Leben sprechen. Er nahm eine seltsam gebogene Zange mit spitzen Enden in die Hand und öffnete sie soweit, dass er das Gehirn von einer zur anderen Seite umfassen konnte und so die Größe ermitteln konnte. „Bei meinen langjährigen Studien ist mir eine Besonderheit aufgefallen. Menschen kann man in zwei Gruppen einteilen. Solche, die von Grund auf ein gutes Naturell besitzen, und solche, die von Grund auf böse sind. Mir ist bewusst geworden, dass Mörder, Vergewaltiger und sonstige Kreaturen über ein recht kleines, fast schon degeneriertes Gehirn verfügen. Es ist zu klein und zu leicht, daher bin ich davon überzeugt, dass in einem solchen Gehirn kein Platz für Emotionen wie Mitgefühl und Verständnis vorhanden sein kann.“

„Und Mrs. Wiggins ist böse, weil sie ihren Mann angegriffen hat?“

Doktor Dillingsgate zuckte mit den Schultern. „Meine Untersuchungen lassen nur diesen Schluss zu. Doch sichere Gewissheit kann nur die Untersuchung ihres Gehirns geben. Aber bisher zeigt sie alle Anzeichen.“

In diesem Moment klopfte es und ein in weiß gekleideter Pfleger tat einen Schritt in den Raum.

„Ah gut, Dennis“, sagte Dillingsgate. „Der Inspector möchte Judith sprechen. Seien Sie so gut und bringen Sie ihn zu ihr. Oder … haben Sie noch weitere Fragen, Inspector? Wenn nicht, würde ich mich gern wieder meiner Arbeit widmen.“

„Nein, keine Fragen. Danke für Ihre Zeit.“ Edwards nickte dem Doktor zu und ging hinaus. Erst auf dem Flur, als die Tür hinter ihm geschlossen war, atmete er tief ein. Selbst die Luft hier, die ihm abgestanden und schwer vorkam, war ein kühlender Hauch im Vergleich zu dem unerträglichen Gestank, der im Laboratorium herrschte.

„Die Fraun sin' unden“, grunzte ihm der Pfleger entgegen. Edwards fühlte sich an einen Affen erinnert, der sich zum ersten Mal darum bemühte, einen menschlichen Laut hervorzubringen.

Sie erreichten eine eiserne Tür, die von einem Aufpasser bewacht wurde, der sie gelangweilt ansah, ihnen öffnete und wieder abschloss, nachdem sie hindurchgetreten waren.

Edwards betrat die Stufen, die in die Kellergewölbe hinab führten, und damit eine andere Welt, vielleicht sogar eine andere Zeit, in der Folter und Martyrium alltäglich waren. Gaslaternen, versteckt in Nischen und durch eiserne Gitter geschützt, beleuchteten den Treppenabgang. Er hörte Stöhnen, Weinen, Klagen. Frauen, die verzweifelt nach ihren Liebsten riefen. Dazwischen markerschütternde Schreie. Alles mischte sich zu einem Echo, das in den Ohren schmerzte. Schlimmer konnte es auch in der Hölle nicht sein.

Sie betraten ein Gewölbe, das weiß getüncht war. An der Decke blätterte die Farbe bereits. Spinnen hatten dazwischen ihre Netze gewebt. Es roch nach Schimmel, Nässe und Verzweiflung. Der Keller war riesig, es gab einen Hauptgang und zahlreiche Nebengänge und in jedem gab es zu beiden Seiten mehrere Türen.

Der Pfleger brachte ihn zu einem Gang, der mit einer römischen Acht markiert war, die man auf eine Schiefertafel gekritzelt hatte.

„Lings. Tür vier“, brummelte der Affenmann, wie Edwards ihn inzwischen bezeichnete. „Mach'n Se' schnell. Rufense, wennse was woll'n.“

Edwards gab keine Erwiderung, als er den Korridor betrat. Auf dem Boden lag dreckiges Stroh, das an seinen Sohlen kleben blieb. Ein paar verbeulte Eimer standen zusammengestapelt in einer Ecke.

Tür vier war wie alle anderen Türen aus Holz, mit Metallbeschlägen, einem kleinen vergitterten Fensterchen und einem schweren Riegel, der quietschte, als er ihn öffnete.

Der Raum dahinter war eine kleine Zelle, mit einer Steinpritsche als Lager und losem Stroh als Matratze. Licht fiel nur durch ein kreisrundes Loch in der Decke. Fast hätte er die Gestalt übersehen, die zusammengesunken in der Ecke kauerte. Strohreste und schmierige Klumpen klebten in dem verfilzten, blonden Haar. Das Kleid musste einmal teuer gewesen sein, jetzt war es zerrissen, starrte vor Schmutz und stank nach menschlichen Exkrementen.

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