Kitabı oku: «Das Geheimnis der Madame Yin», sayfa 4
Polizeistation der L-Division Kennington Lane
Kippwell hatte ihn versetzt. Wie Edwards ihn einschätzte, aus purer Boshaftigkeit. Jetzt war er stinksauer. Wie ein gereizter Stier platzte er in die Polizeistation an der Kennington Lane. Der wachhabende Sergeant hinter dem Tresen riss die Augen auf und hatte schon den Knüppel in der Hand und die Trillerpfeife im Mund, als er den Mann erkannte, der da auf so unzivilisierte Weise durch die Tür gepoltert kam. „Rob! Du verfluchter Hundesohn. Du hast mir einen verdammten Schrecken eingejagt!“ Dann lachte er prustend, wobei feine Speicheltropfen auf den Tresen regneten.
Edwards ergriff die Hand des Sergeant, um sie zu schütteln. „Waldo. Wolltest mir wohl eins überziehen, was?“
„Ach, der ist nur für Leute, die nicht wissen wie man einen Türknauf benutzt. Schön, dass du dich mal wieder blicken lässt. Scotland Yard hält dich wohl ganz schön auf Trab? Hast gar keine Zeit mehr für deine alten Kameraden.“
„Ja, tut mir auch leid. Hab' immer was zu tun.“
„Brauchst dich nicht zu entschuldigen. Willst du 'ne Tasse Tee, oder Scones? Heather hat mir welche mitgegeben. Und ein Töpfchen Honig …“
Edwards leckte sich die Lippen. „Hmm. Ich liebe ihre Scones.“
Waldo zwinkerte und machte ein Gesicht, als könne er kein Wässerchen trüben. „Sind genug da. Kannst gerne mitessen.“
„Verdammt. Ich würde zu gerne, aber ich kann nicht, ich hab's eilig. Ich bin dienstlich hier.“
„Ist wegen Madame Yin, hmm?“
„Ja, woher weißt du das?“
„Sergeant Dyers hat's mir erzählt. Hat wohl ziemlich Ärger gegeben?“
„Ich brauche die verdammten Akten zu Estelle Wiggins. Und Kippwell sollte sie mir bringen. Was denkt der sich eigentlich? Zwei Frauen sind umgebracht worden.“ Schon war seine schlechte Laune zurück. „Wenn er mich ärgern wollte, dann hat er das geschafft. Ich hätte nicht übel Lust ihm eins in seine dumme Visage zu geben. Wo steckt der Kerl?“
„Keine Ahnung. Der Sergeant kam allein zurück.“
„Mmh. Na gut. Und wo steckt der?“
„Oben, in deinem alten Büro. Du weißt ja, wo's lang geht.“
„Ja, hab's nicht vergessen.“
Edwards trat durch eine Doppeltür und folgte einem mit schwarzen und weißen Fliesen ausgelegten Flur. Links und rechts gab es mehrere Türen und am Ende eine Treppe, die in den Keller und in den nächsten Stock führte. Unterwegs begegnete er einigen Beamten, die er noch von früher her kannte, aber auch einigen unbekannten Gesichtern. Ein schneller Gruß, ein freundliches Wort, dann war er auch schon weiter. Im ersten Stock angekommen riss er die Tür zu seinem alten Büro auf und jagte Dyers einen furchtbaren Schrecken ein. Der saß auf dem Boden. Um sich herum lagen Unterlagen verstreut, aufgeschlagene Aktenmappen und auf einem Stuhl stand ein geschlossener Pappkarton.
Edwards blieb in der Tür stehen. „Die Akten im Fall Wiggins? Wo sind die?“
„In … Inspector Edwards“, stammelte Dyers und sprang auf. „Ähm. Hier … Sir.“ Er zeigte auf das Chaos um sich herum.
„Ich warte die ganze Zeit darauf. Verflucht nochmal!“
„Es … es tut mir sehr leid, Sir, aber Inspector Kippwell ist ohne ein Wort zu sagen davon. Ich wusste nicht …“
„Das sieht ihm ähnlich.“ Edwards zeigte auf die Akten. „Sammeln Sie alles ein. Ich nehm es jetzt mit. Beeilen Sie sich.“
Während Dyers die losen Blätter aufraffte, lehnte Edwards am Türrahmen, verschränkte die Arme und beruhigte sich wieder. Schließlich war Dyers nicht Kippwell, und der Sergeant hatte seine üble Laune nicht verdient.
„Was haben Sie da gemacht?“, fragte er freundlicher und bückte sich, um eines der Papiere vom Boden aufzuheben.
Dyers zupfte seine Weste glatt. „Ich wollte vorbereitet sein.“
„Vorbereitet? Auf was? Man hat der L-Division den Fall weggenommen.“
„Das weiß ich, Sir. Es ist nur …“ Er zögerte.
„Nur Mut.“
„Ich habe das Mädchen gesehen. Estelle Wiggins, meine ich. Ich will diesen Dreckskerl schnappen.“
„Tut mir leid, wie's jetzt gekommen ist. Bedanken Sie sich bei Ihrem Vorgesetzten. Er muss sicher irgendeinen Unsinn gemacht haben, sonst hätte er den Fall noch.“
„Sir. Ich möchte zu Ihnen versetzt werden. Ich kann Ihnen helfen.“
Edwards hob überrascht eine Augenbraue. „So einfach ist das nicht. Wie stellen Sie sich das vor?“
„Vielleicht könnten Sie ein gutes Wort für mich einlegen, Sir?“
„Ich versteh' Sie ja. Aber ich fürchte, Sie überschätzen meine Möglichkeiten. Außerdem arbeite ich alleine.“
„Bitte, Sir. Nur dieses eine Mal.“
„Kippwell würde Ihnen den Kopf abreißen, Sergeant.“
„Das kann auch nicht schlimmer sein, als es jetzt ist.“
„Ich weiß, was Sie meinen. Kippwell ist ein Holzkopf. Trotzdem können Sie nicht so mir nichts, dir nichts ins Yard wechseln.“
„Hier bin ich nicht mehr als ein Handlanger. Ich weiß, ich kann mehr leisten. Ich will es beweisen.“
Das war Edwards nicht unbekannt. Kippwell hatte die Angewohnheit, seine Untergebenen wie Lakaien zu behandeln und sie nicht mehr wissen zu lassen, als er für richtig hielt. „Ich war vor einigen Jahren in der gleichen Lage wie Sie. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich Sie gut verstehen kann.“
Dyers sagte nichts, aber sein Blick sprach Bände.
Edwards seufzte. „Also schön. Ich werde mit Chief Inspector DeFries sprechen. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Doch eins will ich Ihnen sagen: Wenn Sie sich bei mir lieb Kind machen wollen, um für Kippwell zu spionieren, dann Gnade Ihnen Gott.“
„Sicher nicht, Sir. Danke, Sir.“ Dyers strahlte, als hätte er gerade in der Lotterie gewonnen.
„Danken Sie mir nicht zu früh.“
Edwards Blick fiel auf die Pappschachtel und er trat näher heran, um den Deckel anzuheben.
„Die Habseligkeiten der Toten“, erklärte Dyers. „Sie hatte nicht viel bei sich.“
In diesen Schachteln lagen die Dinge, die einen Menschen vom Leben in den Tod begleitet hatten. Diese Habseligkeiten machten die Person aus, verrieten manchmal, wen sie geliebt hatte, was sie mochte und was sie getan hatte, kurz vor dem Tod.
Edwards Herz schlug heftiger, als er den Deckel anhob und in die Schachtel blickte.
Er nahm ein Medaillon heraus, klappte es auf und betrachtete es nachdenklich. Es war aus Gold.
Die Fotografie darin war vom Themsewasser zerstört worden, dennoch konnte er noch die Umrisse zweier Personen erkennen.
„Die Eltern“, sagte Dyers tonlos.
„War Estelle das einzige Kind?“
„Ja. Sie hatten noch einen Sohn, aber der ist schon seit zehn Jahren tot.“
Edwards legte das Medaillon beiseite. In der Schachtel fand er noch eine Halskette aus Perlen und einen Ring, in den ein Granat eingefasst war. Sie halfen ihm nicht weiter und verrieten ihm nur, dass der Mörder kein Interesse an wertvollen Gegenständen gehabt hatte. Zuletzt nahm er das gelbe Stück Stoff und die Haarlocke an sich. „Wie bei Madame Yin. Finden wir den Zusammenhang, haben wir eine verdammt gute Spur.“
Edwards kniff die Lippen zusammen. „Der gleichfarbige Stoff, die Haarlocke, der langsame Tod durch Strangulation. Ich müsste mich sehr täuschen, wenn das ein Zufall ist. Ich denke, ich werde noch einmal mit den Eltern sprechen.“
„Das wird nicht ganz einfach sein, Sir.“
„Wieso nicht?“
„Die Mutter ist zur Kur nach Brighton und ihr Vater ist kurz nach dem Begräbnis nach Indien gereist.“
„So plötzlich? Und wieso ausgerechnet Indien?“
„Er besitzt dort einige große Teeplantagen. Haben Sie noch nie von J. W. Teas gehört?“
„Doch, doch. Schon. Aber wieso lässt er seine Frau alleine zurück?“ Auf Edwards Gesicht zeigte sich Unverständnis.
„Es ging ihr nicht besonders gut. Die Nerven.“
„Ein Grund mehr, bei ihr zu bleiben. Nur Feiglinge fliehen“, zitierte er einen alten Spruch aus seiner Militärzeit, während er die Sachen in die Schachtel zurücklegte.
Dyers reichte ihm eine Fotografie in einem Rahmen. Es zeigte eine junge Frau mit Blumen im Haar, einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen und einem Kanarienvogel, der auf ihrem ausgestreckten Zeigefinger saß. „Ihre Mutter hat es mir gegeben. Mir … und nicht Inspector Kippwell. Das verstehe ich nicht.“
Edwards schwieg.
„Sie war sehr schön, nicht wahr, Sir?“
„Ja, das war sie.“
„Und jetzt ist sie tot“, murmelte Dyers.
„Ich denke ich weiß, warum die Mutter Ihnen die Fotografie gegeben hat.“
„Tatsächlich, Sir?“
„Sie hat Ihren Blick gesehen. Ihr Mitgefühl gespürt. Kippwell hat das nicht, hat er nie gehabt. Die arme Frau gab Ihnen das Kostbarste, was sie noch von ihrer Tochter hatte. Eine Erinnerung.“
„Wenn Sie das so sehen, Sir.“
„Ich muss jetzt gehen“, sagte Edwards abrupt. „Sie hören von mir, Sergeant.“
Eine Viertelstunde später hatte Edwards eine Droschke gefunden und befand sich auf dem Rückweg nach Scotland Yard. Sein abwesender Blick ruhte auf der träge dahinfließenden Themse, als die Kutsche Vauxhall Bridge überquerte. Vereinzelte Dampfboote stampften durch die Fluten. Der Nieselregen war in Regen übergegangen und die Fassaden der Häuser spiegelten sich in den Pfützen auf dem Kopfsteinpflaster.
Während der Fahrt hatte er Estelle Wiggins' Bild in die Hand genommen und betrachtete es. „Ich finde diesen Wahnsinnigen“, sagte er leise zu sich selbst.

London Paddington Station Acht Uhr abends
Celeste glaubte, nur kurz die Augen geschlossen zu haben, als sie jemand an der Schulter berührte und sanft weckte. Sie blinzelte verschlafen und konnte spüren, wie der Zug seine Fahrt verlangsamte. Bremsen quietschten, begleitet vom Pfeifen der Lokomotive. Schwarzer Kohlenrauch wirbelte am Fenster vorbei und Dampf umwallte die Wartenden am Bahnsteig.
Auf den Bahnsteigen brannten Laternen. Die Uhr über einem der Wartesäle schlug acht Mal zur Abendstunde.
„Habe … habe ich lange geschlafen?“, fragte Celeste verwirrt.
„Ja, die gesamte Fahrt über.“ Dorothea beugte sich vor.
„Sechs Stunden? Es kommt mir wie sechs Minuten vor.“
Dorothea versuchte zu lächeln. „In nicht einmal einer halben Stunde bin ich zu Hause.“
Kurz darauf verließ sie in einer Kutsche Paddington Station. Sie fuhren am Hyde Park entlang in Richtung Park Lane.
Die Luft war mild und roch auch ein wenig fruchtig dank der Obsthändler, die mit ihren Karren und Bauchläden voller Äpfel und Birnen durch die Straßen zogen. Elegante Stadthäuser mit säulengeschmückten Fassaden und hohen Fenstern reihten sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite dicht an dicht aneinander. In den Vorgärten wuchsen sorgsam gestutzte Hecken und Büsche, der Rasen war so grün und gepflegt, dass es darin für Unkraut keinen Platz geben konnte. Celeste erschien das alles so sauber und geordnet, dass sie sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, auf eine übergroße Theaterbühne zu schauen.
Sie bogen in die Park Lane ein. Dorothea holte tief Luft und Celeste nahm ihre Hand. Sie war eiskalt. „Es gibt keinen Grund aufgeregt zu sein. Du wirst schon sehen.“
Dorothea nickte, auch wenn sie vielleicht lieber den Kopf geschüttelt hätte.
„Ich habe Angst“, flüsterte das Mädchen mit gesenktem Blick.
„Vor deinen Eltern?“
„Nein, nicht vor ihnen.“
Celeste wollte fragen: Vor wem dann, aber dazu kam sie nicht, denn die Kutsche hielt vor einem dreistöckigen Haus mit weißer Fassade. Zwei Statuen mit finsteren Gesichtern trugen einen halbrunden Balkon auf ihren Schultern. Die Haustür öffnete sich. Zwei Hausdiener mit Laternen traten ins Freie und beleuchteten die Treppe hinauf zum Eingang.
Ihnen folgte ein Mann im schwarzen Anzug. Wie die bedrohliche Gestalt aus einer Gruselgeschichte tauchte er aus dem Dunkel des Hauses auf und trat ins Licht der Laternen.
Seine Hände hielt er hinter dem Rücken verschränkt. In seinem Mienenspiel war es unmöglich, ein Gefühl der Freude oder überhaupt eine Regung zu erkennen. Celeste brauchte keine Hellseherin zu sein, um zu wissen, dass sie Lord Ellingsford vor sich hatte.
Sein unterkühltes Verhalten war ganz anders als das der Frau, die in einem Rollstuhl sitzend neben ihn geschoben wurde. Ihr Gesicht wirkte verhärmt und ausgezehrt. Die Augen lagen tief in den Höhlen, doch trotz ihrer offensichtlich schlechten körperlichen Verfassung, lachte sie vor Freude und weinte vor Rührung. „Dorothea!“, rief sie herzlich und streckte ihr die Arme entgegen. Dorothea lief die Treppe hinauf, auch sie weinte und lachte. Vor ihrem Vater, Lord Ellingsford, hielt sie kurz inne und knickste vor ihm. „Willkommen zu Hause, mein Kind“, sagte er und tätschelte ihr den Kopf, als würde er einen Hund loben.
Dann umarmten sich Mutter und Tochter. Lord Ellingsford wandte sich derweil Celeste zu und warf ihr einen Blick zu, der ihr deutlich machte, dass sie hier nicht willkommen war. Celeste konnte seine Ablehnung fast körperlich spüren.
„Miss Summersteen, nehme ich an?“
„Ja, die bin ich“, sagte sie höflich.
„Sie sind Amerikanerin?“
„Ja, aus New York.“
„Nun denn.“ Ellingsford vermied es, ein abfälliges Wort über ihre Herkunft zu verlieren, doch die Abneigung, die er gegen die Bewohner der ehemals englischen Kolonie hegte, war ihm deutlich anzusehen. Er blickte Frau und Tochter nach, die in einem der Salons verschwanden. „Sie werden sich einiges zu erzählen haben. Ich denke, das gibt uns Gelegenheit uns zu unterhalten. Wenn Sie mir folgen wollen.“
Ellingsford ging voran und geleitete Celeste durch die große Eingangshalle in ein Zimmer, das in einen Wintergarten überging. Allerlei tropische Pflanzen wuchsen dort. Zwei Petroleumlampen, die von goldenen Nixen gehalten wurden, spendeten ein wenig Licht. In einer Ecke plätscherte leise ein kleiner Brunnen.
Mit einer Handbewegung deutete Ellingsford auf einen der Korbstühle, die um einen Marmortisch herum gruppiert waren. „Bitte. Nehmen Sie Platz.“ Er selber setzte sich ihr mit übereinandergeschlagenen Beinen und verschränkten Armen gegenüber.
Celeste öffnete ihre Handtasche und nahm die zwei Briefe heraus, die sie von Mrs. Roover erhalten hatte. „Ihre Schwester bat mich, Ihnen die hier zu geben.“
Er nahm sie mit starrer Miene entgegen, warf einen kurzen Blick darauf und steckte sie dann ein. „Ich werde sie später lesen“, sagte er und presste einen Schwall Luft durch die Lippen. „Wie kann sich meine Schwester anmaßen, eine Detektei einzuschalten, ohne mich vorher um Erlaubnis zu bitten?“
Celeste überhörte den angriffslustigen Ton und blieb freundlich. „Ihre Schwester ist nur um Dorotheas Wohl besorgt. Sie war der Meinung, eine Freundin würde ihr die Heimreise erleichtern.“
„Meine Tochter ist erwachsen. Sie braucht kein Kindermädchen mehr.“
„Vielleicht doch. Ich weiß, weswegen sie in Chicago war.“
Ellingsford erbleichte, dann zuckte ein Muskel an seinem Kiefer. „Das ist ungeheuerlich. Meine Schwester ist eine Klatschbase. Ich hatte ihr ausdrücklich verboten über dieses … dieses heikle Thema zu sprechen.“
„Sie müssen sich keine Sorgen machen. Niemand wird etwas davon erfahren.“
Ellingsford schien nicht überzeugt. Er stand auf, trat an die großen Fenster und sah in den abendlichen Garten hinaus. Das tat er eine schweigsame Weile, bis er fragte: „Was sollen Sie hier eigentlich tun?“
„Das wird Ihnen der Brief erklären, den Ihre Schwester Ihnen geschrieben hat.“
„Ich will es aber von Ihnen hören.“
Celeste dachte einen Moment lang nach. Sie erinnerte sich an das, was Mrs. Roover über ihren Bruder gesagt hatte. Diplomatie war gefragt. „Dorothea weiß nichts vom Tod ihrer Freundin. Ihre Schwester hat es ihr nicht erzählt und nun fürchtet sie, Dorothea könnte einen Rückfall erleiden, sollte sie es doch erfahren.“
Ellingsford blieb regungslos. „Glauben Sie wirklich, ich lasse meine Tochter noch einmal unbeaufsichtigt aus dem Haus? Es wird Zeit, dass diese Flausen ein Ende haben. Dorothea muss sich endlich wie eine Dame benehmen und lernen, was eine gute Ehefrau zu tun hat. Ich habe ihr viel zu lange, zu viele Freiheiten gelassen.“
Celeste machte große Augen. „Dorothea sollte nach London zurückkehren, um zu heiraten?“
Der Hausherr drehte sich vom Fenster weg und starrte sie an. „Das geht Sie nichts an.“
Sie presste die Lippen aufeinander und schluckte den aufkommenden Ärger hinunter.
„Sie sind nicht verheiratet, Miss Summersteen.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.
Der plötzliche Themenwechsel irritierte sie. „Nein, bin ich nicht“, stotterte sie verwirrt.
„Ich würde Ihnen raten sich einen Mann zu suchen, ehe es zu spät für Sie ist. Dann hätten Sie es nicht nötig, sich für Geld anheuern zu lassen. Was ist das überhaupt für ein Beruf, Detektivin?“
Celeste konnte spüren, wie ihre Ohren heiß und ihre Augen zu schmalen Schlitzen wurden. „Dafür, dass Sie vorgeben ein Gentleman zu sein, sind Sie äußerst taktlos, Lord Ellingsford. Also nehme ich meine amerikanische Herkunft als Entschuldigung und sage Ihnen, dass Sie das verdammt nochmal nichts angeht.“
Er lächelte gönnerhaft. „Ihr Amerikaner.“ Er sprach das Wort „Amerikaner“ aus, als wäre es eine ansteckende Krankheit. Dann trat er vor und sah auf sie hinab. Sie stand auf und begegnete seinem Blick fast schon mit trotziger Sturheit. Celeste wusste, was er sagen würde, und sie sollte recht behalten.
„Ich danke Ihnen, dass Sie meine Tochter sicher hergebracht haben, aber ich denke, Ihre Dienste werden nicht weiter benötigt. Selbstverständlich komme ich für die Kosten auf, die Ihr Aufenthalt in London und Ihre Rückfahrt mit sich bringen.“
So leicht gab sich Celeste nicht geschlagen. „Lord Ellingsford, gestatten Sie mir eine Frage?“
„Wenn es unbedingt sein muss.“ Mit einem Seitenblick schielte er auf seine Taschenuhr.
„Der Mord an Estelle Wiggins. Wurde der inzwischen aufgeklärt?“
„Ich habe diese unglückselige Geschichte nicht verfolgt, aber nein … ich glaube nicht.“
„Wenn das so ist: Halten Sie es dann für klug, Dorothea ausgerechnet jetzt zurückzuholen?“
„Ich verstehe nicht, was Sie mir damit sagen wollen.“ Ellingsford tippte seine Fingerspitzen gegeneinander. „Sie sollten wissen, dass in dieser Stadt ständig Menschen zu Tode kommen. Das ist zu meinem Leidwesen nichts Ungewöhnliches. Und natürlich ist der Tod der jungen Miss Wiggins tragisch, wirklich, doch ich habe es kommen sehen.“
Celeste spürte, wie sich ihr ganzer Körper verkrampfte und ihre Fingerspitzen zu kribbeln begannen. Ellingsfords gleichgültige Art machte sie wütend. „Wieso haben Sie es kommen sehen?“
„Nun, sie hatte zahlreiche Liebschaften mit recht zweifelhaften Gentlemen. Aus diesem Grund hatte ich Dorothea auch verboten, weiter Kontakt zu dieser Person zu halten.“
„Was für Gentlemen? Was für Liebschaften? Woher wissen Sie das alles eigentlich so genau?“
„Man hört so einiges.“
„Ach, also beziehen sich Ihre Aussagen lediglich auf Gerüchte? Sie glauben tatsächlich das, was andere Ihnen vorplappern?“
Ellingsford sagte nichts, durchbohrte sie aber mit seinen Blicken.
Die Luft zwischen ihnen summte förmlich, bis Celeste das stumme Kräftemessen beendete und sagte: „Ihre Schwester macht sich wirklich Sorgen.“
„Meine Schwester hat sich schon immer um Dinge gekümmert, die sie nichts angehen. Offenbar eine Schwäche, die Sie mit ihr teilen.“
Celeste verbiss sich einen bitteren Kommentar und zwang sich zu einem Lächeln. „Uns interessiert eben, was sich hinter dem Vorhang verbirgt, Lord Ellingsford. Dürfte ich Ihnen einen Vorschlag machen?“
Er sah sie skeptisch an, nickte dann aber zögerlich.
„Dorothea wird Angst haben und traurig sein, wenn sie von Estelles Tod erfahren sollte, und das wird sich wohl kaum vermeiden lassen. Sie kennt mich und ich glaube, sie vertraut mir. Ich würde auf sie aufpassen und dafür sorgen, dass sie nicht wieder in die Nähe irgendwelcher Opiumhöhlen kommt. Es wird sicherlich eine schwere Zeit für sie.“
Ellingsford nahm sich Zeit für seine Antwort. Langsam ging er im Wintergarten auf und ab, tippte sich mit den Fingerspitzen an die Lippen und betastete gedankenverloren die rot gesprenkelten Blüten einer Orchidee. Schließlich sagte er: „Auch wenn ich Ihre unverschämte Art nicht gutheißen kann, möchte ich mir trotzdem nicht nachsagen lassen, dass ich nicht das Beste für meine Tochter will. Ich werde mit ihr sprechen und wenn sie Ihre Gesellschaft wünscht, gestatte ich Ihnen zu bleiben.“
„Ich bin einverstanden.“ Als ob sie eine Wahl gehabt hätte.
Sie wollten den Wintergarten gerade verlassen, als sich Schritte näherten und eines der Hausmädchen zwischen den geöffneten Türflügeln erschien. „Verzeihen Sie die Störung, Eure Lordschaft“, sagte das Mädchen und knickste.
„Ja, was gibt es denn, Francine?“
„Mr. Bradshaw ist hier. Er sagt, er bringt die Gemälde.“
Ellingsford sah auf seine Uhr. „Um diese Zeit noch?“ Er klappte den Deckel zu, schob die Uhr wieder in die Westentasche. „Na schön. Bitten Sie ihn herein.“
In der Halle trafen sie auf Ellingsfords Besucher, einen älteren Mann mit dunklem Bart und schütterem Haar. Er trug einen bereits sichtlich in die Jahre gekommenen Anzug, dessen Revers und Ärmel ein paar schlecht entfernte Farbflecke aufwiesen.
„Mr. Bradshaw. Was für eine Überraschung, zu so später Stunde.“
„Ich hoffe, mein Besuch kommt nicht ungelegen? Nur … ich war gerade in der Gegend und …“
„Nein, nein, seien Sie unbesorgt.“ Ellingsford lenkte die Aufmerksamkeit auf Celeste. „Das ist Miss Summersteen, aus Amerika. Mr. Bradshaw, ein Freund des Hauses.“
„Amerika? Was für ein faszinierendes Land. Diese unendliche Weite, die sich im Himmel zu verlieren scheint.“ Bradshaw nahm ihre Hand und deutete einen Kuss an.
„Sie waren schon einmal da?“
„Nein. Aber ich habe Gemälde bewundern dürfen, die versuchten die Schönheit des Landes wiederzugeben. Ist es wahr, dass dort Menschen mit roter Haut leben? Sie sollen sich in Lederhäute kleiden und in spitzen Häusern leben, die sie innerhalb kürzester Zeit abbauen können.“
„Ja, das stimmt. Man nennt sie Tipis.“
„Faszinierend. Was für ein wunderbar göttliches Geschöpf der Mensch in seiner Vielfältigkeit doch ist.“
„Es sind Heiden, die unseren Gott nicht kennen“, tat Ellingsford seine Meinung kund und schlug die Tücher beiseite, die die Gemälde verhüllten.
Das eine zeigte eine Seenlandschaft, mit einer Burgruine auf einem Hügel, umgeben von Strauchwerk und Tannen. Ein paar Jäger zu Pferd, die von einem Rudel Hunde begleitet wurden, brachen aus dem Tannengrün heraus.
Das andere Bild war ein Portrait von Dorothea, in einem wundervollen roten Kleid mit weißen Blumenstickereien. Sie trug das Haar kunstvoll geflochten und mit einer silbernen Spange hochgesteckt. In der Hand hielt sie eine Leine. Ein Irish Setter saß zu ihren Füßen. „Was für wunderbare Gemälde“, sagte Celeste, die zwar nicht viel von Kunst verstand, aber recht genau wusste, was ihr gefiel.
„Ich werde das Kompliment gerne weiterreichen. Albert ist äußerst begabt. Ich könnte mir keinen besseren Assistenten wünschen.“ Während Bradshaw das sagte, zeigten sich Sorgenfalten auf seiner Stirn, die Celeste nicht verborgen blieben.
„Bedrückt Sie etwas?“
„Miss Summersteen, bitte. Mr. Bradshaw ist sicher nicht hergekommen, um von Ihnen verhört zu werden.“
Bradshaw winkte ab. „Nein, nein, es ist schon gut, Eure Lordschaft. Es stört mich nicht. Sie hat ja recht. Ich bin in Sorge. Albert ist seit ein paar Tagen verschwunden und es ist nicht seine Art, einfach ohne ein Wort der Erklärung fortzubleiben.“
„Glauben Sie, ihm ist etwas zugestoßen?“
„Ich kann es wirklich nicht sagen.“
„Haben Sie denn mit der Polizei gesprochen?“
„Ja, bereits heute Morgen. Sie werden die Augen offen halten.“
„Dann ist die Sache ja geregelt“, mischte sich Ellingsford ein. „Ich danke Ihnen, mein lieber Freund. Einen besseren Zeitpunkt hätten Sie nicht wählen können. Dorothea wird das Bild sicher sehr gefallen. Ich werde meine Bank anweisen …“
Bradshaw fiel ihm ins Wort. „Miss Dorothea ist zurück von ihrer Reise?“
„Ja, seit etwa einer Stunde.“
„Wenn Sie gestatten, würde ich ihr gerne meine Aufwartung machen.“
„Ein anderes Mal, alter Freund. Sie ist erschöpft. Die lange Reise. Ich hoffe, Sie verstehen das?“
„Aber natürlich. Ein anderes Mal.“ Bradshaw schien enttäuscht. Er nahm Celestes Hand und deutete einen Handkuss an. „Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Wenn Sie mich einmal in meinem Geschäft aufsuchen möchten, wäre ich hoch erfreut, Ihnen zu Diensten sein zu können. Hier, meine Visitenkarte.“
Dann schüttelte er Ellingsford die Hand und verließ das Haus.
„Francine“, sagte Ellingsford. „Sind die Ladyschaft und meine Tochter noch im Salon?“
Sie knickste. „Nein, Sir. Sie haben sich nach oben zurückgezogen. Ihre Ladyschaft war erschöpft.“
„Hmm. Das überrascht mich nicht. Sie war so aufgeregt, dass sie ihre Ruhepausen nicht eingehalten hat.“
Celeste folgte Ellingsford hinauf in die erste Etage. Sie sprachen kein weiteres Wort mehr und so hatte Celeste Gelegenheit, die zahlreichen Porträts an den Wänden zu betrachten, die ausschließlich Männer zeigten. Unter ihnen befanden sich Sirs und Lords, Generäle, Mitglieder des Unterhauses. Jeder von ihnen sah streng, beinahe schon missbilligend auf die Besucherin herab. Alle gehörten zum Geschlecht der Ellingsfords, wie die Namen auf den goldenen Plaketten verrieten. Lord Ellingsford war ohne Zweifel einer von ihnen. Er besaß das gleiche aristokratische Gesicht, den gleichen harten Zug um Mund und Kinn und den gleichen stechenden Blick, der jedem Hexenjäger in Amerika Ehre gemacht hätte.
Sie erreichten eine Tür, die links und rechts von zwei farbenfrohen Blumengebinden geschmückt war. Ellingsford klopfte, wartete das leise „Ja, bitte“ ab und öffnete.
Das Zimmer wurde von Gaslampen erleuchtet, die ihren Widerschein auf einem Schminkspiegel fanden, der vor den Fenstern stand.
Dorothea saß neben ihrer Mutter auf dem Bett. Sie unterbrachen ihr Gespräch, als Ellingsford eintrat.
„Warten Sie hier, Miss Summersteen“, befahl er, bevor er ihr die Tür vor der Nase zuschlug.
Jetzt hing alles von Dorotheas Entscheidung ab. Sie würde nicht wollen, dass sie ging. Oder doch? Was dann? Zurück nach Chicago und sich Pinkertons Spott aussetzen? Niemals, diesen Triumph würde sie ihm nicht gönnen. Zudem würde sie mit Sicherheit Mrs. Roovers Unterstützung verlieren.
Eine so einflussreiche Frau verärgerte und enttäuschte man besser nicht.
Celeste ertappte sich dabei, wie sie nervös an ihrer Unterlippe knabberte. Eine Unsitte, die sie schon als Kind gehabt hatte.
Da öffnete sich die Tür und Ellingsford trat auf den Gang hinaus.
„Was hat Dorothea gesagt?“, fragte sie hastig.
Ellingsford kniff die Mundwinkel zusammen. „Sie wünscht, dass Sie bleiben.“ Nach diesen knappen Worten zog er an einer Kordel, die hinter einem Vorhang aus grünem Brokat versteckt war. Irgendwo im Haus ertönte ein kleines Glöckchen.
„Ich danke Ihnen.“
Er überhörte ihren Dank und sagte: „Ich habe eine Bedingung, die ich an Ihr Bleiben knüpfen muss. Gleich wohin meine Tochter geht, gleich was sie tut – Sie werden mir darüber Bericht erstatten.“
Celeste nickte.
„Sollten Sie sich meinen Wünschen widersetzen, bedenken Sie, dass Sie nur Gast in meinem Haus sind.“
Celeste nickte, weil er es so wollte. Niemals würde sie Dorothea belügen oder ausspionieren.
Das Mädchen vertraute ihr.
Auf der Treppe waren eilige Schritte zu hören. Es war Francine, die sich die Schürze glatt strich, das Häubchen richtete und die letzten Schritte langsamer zurücklegte. „Eure Lordschaft haben geläutet?“
„Miss Summersteen wird unser Gast sein. Bereiten Sie eines unserer Gästezimmer für sie vor.“ Dann wandte er sich wieder an Celeste. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.“
Das Dienstmädchen führte Celeste in die dritte Etage hinauf. „Das Zimmer wird Ihnen bestimmt gefallen. Sie haben einen wundervollen Blick auf den Garten. Um diese Jahreszeit tollen immer die Drosseln und Eichhörnchen durch die Wipfel. Und wenn Sie …“ Das Dienstmädchen plapperte wie ein Wasserfall. Celeste blickte freundlich, hörte aber nicht zu. Sie hatte es geschafft und nun war sie müde. Sie konnte es kaum erwarten, endlich ihre Schuhe von den Füßen zu streifen. Ihre Knöchel schmerzten. Ihr Kleid war wie ein Panzer aus Stoff, der ihr das Atmen schwermachte. Sie sehnte sich danach, alles von sich zu werfen und durchatmen zu können.
Ihr Zimmer war geräumig und hoch. Ein geschwungener Kerzenleuchter hing in der Mitte. Es roch nach Möbelpolitur und altem Holz. Der Boden knarrte, als sie eintrat.
„Warten sie, Madam. Ich mache Licht.“ Schon entzündete das Mädchen eine Petroleumlampe.
Celeste öffnete eines der Fenster. Nachtluft umfing sie und blähte die roséfarbenen Vorhänge. Flirrende Wassertröpfchen kühlten ihr Gesicht. „Es ist so wunderbar ruhig hier.“ Tatsächlich schien London in einen tiefen Schlaf gefallen zu sein. Kein Klappern, Rufen, Schreien oder Stampfen. Kein Klirren von Gläsern, kein Instrument, das zum Tanz auffordert. Seit New York hatte sie keine Minute solcher Ruhe mehr erlebt.
Celeste sah dem Dienstmädchen zu, wie es das geräumige Bett in neue Laken deckte. „Es ist schön, dass Miss Dorothea wieder daheim ist. Finden Sie nicht?“
Francine lächelte herzlich. „Oh ja, Madam. Sie hat uns allen hier sehr gefehlt.“
„Kannten Sie ihre Freundin? Estelle?“
Francine hielt inne und drehte sich um. „Miss Wiggins, aber ja. Ich kannte sie gut. Sie und die junge Ladyschaft waren sehr gut miteinander befreundet. Ist es nicht schrecklich, was passiert ist?“
Celeste spielte die Unwissende. „Was ist denn passiert?“
„Jemand hat sie erwürgt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Können Sie sich das vorstellen?“
„Ich glaube, niemand kann das. Wie schrecklich.“
„Sie war eine so lebenslustige junge Frau. Sie konnte so wunderbar tanzen. Ich habe ihr ein paar Mal zusehen dürfen.“ Verträumt presste sie den Kopfkissenbezug an ihre Brust.