Sadece Litres'te okuyun

Kitap dosya olarak indirilemez ancak uygulamamız üzerinden veya online olarak web sitemizden okunabilir.

Kitabı oku: «Novellen», sayfa 7

Yazı tipi:

DAS URTEIL SEINER EMINENZ

Erstes Kapitel

Sehr jung, fast noch ein Kind, trat ich in den Staatsdienst und wurde in Kiev der Finanzdirektion zugeteilt, welcher Alexander Kirylovič Klučarev als leitender Direktor vorstand.

Klučarev war im wahren Sinne des Wortes ein „eifriger Beamter, ein Streber“ vom Scheitel bis zur Zehe, welcher von allen ihm Untergebenen nicht nur gefürchtet, sondern auch gehaßt wurde, sowohl in Kiev, wie auch in seinem früheren Dienstorte Žitomir; in Petersburg aber, wohin derselbe als Departements-Vorstand versetzt worden ist, empfand vor ihm Niemand Furcht, im Gegenteile, man gab diesem außergewöhnlich strengen, rücksichtslosen, trockenen Formalisten bald deutlich zu verstehen, daß man seiner Dienste nicht bedürfe, da ja auch andere, jüngere, eben dasselbe leisten können, wie er, Klučarev.

Er wurde in den Ruhestand versetzt, starb jedoch bald darauf, und es gab Niemanden, der ihm eine Träne nachgeweint hätte.

Klučarev stammte aus einer Popenfamilie und wurde in einem geistlichen Seminar erzogen und ausgebildet.

Er war außergewöhnlich kräftig gebaut, unermüdlich tätig, trocken und kurz im Verkehr, liebte in allem Genauigkeit und Pünktlichkeit und war – harten Herzens.

Es ist wahr, er liebte seinen Schoßhund mit den braunen hängenden Ohren, küßte denselben aufs Maul, konnte sehr besorgt und unruhig sein, wenn er meinte, daß sich derselbe unwohl fühle und vielleicht traurig aussehe; dann machte er eigenhändig diejenigen nötigen Operationen und Waschungen, die man dem Tierarzt oder sonst irgend einem Diener überläßt; aber ich habe selbst gesehen, wie in seinem Gesichte auch nicht eine Muskel zuckte, in seinen Augen auch nicht ein einziger Strahl des Mitgefühls sichtbar wurde, wenn er einen altgedienten Beamten mit zahlreicher Familie – oft ohne jeden Grund und Ursache – aus dem Dienste jagte oder ein jüdisches Kind unter die Soldaten aufnehmen und ihm das Haar schneiden ließ.

Das Einstellen jüdischer Kinder in den Militärdienst war eine höchst grausame gesetzliche Bestimmung.

Das Gesetz bestimmte, daß Kinder unter zwölf Jahren keine Aufnahme finden sollten; meistenteils wurden doch Kinder unter diesem Alter „dem äußeren Ansehen nach“ aufgenommen, und zwar mit Vorliebe, einmal litt ja der Dienst nicht darunter, dann zeigte es sich, daß je jünger die Kinder waren, sie sich desto leichter einlebten, ihre Eltern vergaßen und keine Schwierigkeiten beim darauffolgenden Taufen machten.

Diesen Umstand benutzten die Juden, welche die Kinder wie jede andere Ware lieferten; die kleinen Kinder wurden den Müttern aus den Armen gerissen oder geradezu in der Nacht aus dem Bett gestohlen, geraubt, in die kleinen Krakauer Britschken gesetzt und zur Stellung geschleppt.

Wie herzzerreißend, wie widerwärtig alles dieses war, ist schwer, ja geradezu gesagt, unmöglich zu beschreiben.

In allen jüdischen Städten, Städtchen und Dörfern erneuerte sich tatsächlich das Weinen in Rama: „Rachel weinte bitter um ihre Kinder und war trostlos.“

War das Gesetz, welches, Gott sei Dank! bereits aufgehoben ist, an und für sich selbst grausam, es wurde dasselbe für die jüdische Bevölkerung noch unerträglicher und drückender durch die Niederträchtigkeit und Gewissenlosigkeit eigener Stammesgenossen.

Dem Gesetze zufolge mußte eine gewisse bestimmte Zahl jüdischer Rekruten zur Stellung kommen, man war jedoch nie im Stande diese Zahl aufzustellen unter den gewöhnlichen Verhältnissen; die Rekrutierungen folgten sich viel zu rasch eine nach der anderen, weshalb jedesmal bei der Stellung mit außerordentlicher Strenge verfahren werden mußte, um keinen Ausfall eintreten zu lassen.

Es wurden deshalb stets mehr junge Leute eingestellt, als eigentlich bestimmt war, wobei stets die Bemerkung gemacht wurde, daß dieses Mehr bei der nächsten Stellung in Abrechnung komme; doch fand diese Zusicherung keine weitere Beachtung, wurde einfach – vergessen.

Angenommen, eingeschrieben und von der Hand weg!

Das eingestellte Kind wurde sofort einem Regimente zugeteilt, das sich weit, weit ab von dem Geburtsorte des Knaben in Garnison befand; die armen beklagenswerten Judeneltern wußten und erfuhren nie mehr, wo sich ihre Kinder befinden, oder wo man sie suchen könnte, die Kinder blieben für die Eltern verloren, waren für sie tot; außerdem wurden fast alle, ehe sie ihren Bestimmungsort erreichten, getauft.

Nicht wenige taufte man bereits in Kiev, wofür sich besonders die Gemahlin des damaligen General-Gouverneurs Fürstin Katharina Aleksejevna Vasilčikov geborene Fürstin Ščerbakov interessierte.

Die schreiendste Ungerechtigkeit bei diesem Rekrutierungsvorgange bestand darin, daß bei fast allen Geburtsscheine aus den Matriken der Rabbiner fehlten und daß das Alter, wie ich schon früher erwähnte, nur nach dem äußeren Ansehen, nach Abschätzung, bestimmt wurde, wobei Täuschungen und Irrtümer nicht ausgeschlossen waren.

Zumeist wurden „beschworene Aussagen“ vorgelegt von sechs oder zwölf Juden, welche unter Eid bestätigten, ihnen sei sehr genau bekannt, daß dieser oder jener Schmule, Mordechai oder Wolf bereits zwanzig Jahre alt sei; auf Grund solcher Dokumente wurden sieben- bis achtjährige Kinder für zwölf- bis vierzehnjährige ausgegeben.

Solcher Fälle gab es unendlich viele!

Ja, es kam nicht selten vor, daß das eine Dutzend Söhne Israels, angeworben von dem Lieferanten der lebenden Ware, schworen, Jakob sei zwölf Jahre alt; ein zweites, von den Eltern des Kindes gemietetes Dutzend ebenfalls unter Eid aussagten, Jakob zähle nicht mehr wie höchstens sieben Jahre.

Ja, ein und dasselbe Dutzend Juden schworen sogar sowohl zu Gunsten des Lieferanten wie gleichzeitig zu Gunsten der Eltern desselben Kindes.

Es bildete sich, geradezu gesagt, eine Zunft, ein Klüngel von „Schwörern“, bestehend aus dem Abschaum des jüdischen Proletariates und Pöbels, wie solche sehr eingehend und wahrheitsgetreu der zur katholischen Kirche übergetretene ehemalige Rabbiner Bravmann schilderte.

Es waren das Banden ehrloser, gewissensloser, demoralisierter Juden, die stets einen Haufen von mehreren Mann bildend, die Straßen unsicher machten, herumvagierten unter dem Vorwande nach „Arbeit“ zu suchen, d. h. Leute zu finden, welche einen falschen Eid, falsche Zeugenschaft oder ähnliches benötigten.

Und dort, wo es was zu beschwören gab, sei es beim Pristav oder dem Rabbiner, welche sehr leicht bestochen werden konnten, wurde ohne Furcht und ohne Zagen der Name Jehovas ungestraft angerufen, mit seinem Namen manche Untat, manche Lüge und Unrecht zugedeckt.

Dieser Mißbrauch mit dem Namen Gottes war allgemein bekannt, aber … die einmal von formaler Seite nicht anfechtbare Angelegenheit konnte den Lauf der Sache nicht aufhalten.

Es hatte Niemand Zeit, Lust noch Mittel sich des Schwachen vor dem Stärkeren anzunehmen, ihm zu raten, ihn zu verteidigen oder das Urteil darüber zu fällen, ob das, was vorlag, auch tatsächlich wahr, recht oder falsch sei.

Ja, ich sage offen: ich spürte in mir keine Lust etwas zu tun, weil ich in diesem Meere von Tränen und Seufzern, in welchem ich meine jungen Jahre zu verleben gezwungen war, alles bessere Gefühl verlor.

Wenn sich dann und wann ein schwaches Zeichen von Mitgefühl in meinem Herzen regte, so wurde dieses Gefühl sofort unterdrückt durch die Erkenntnis, diesem gräßlichen, herzzerreißenden Jammer der weinenden Mütter und Väter nicht abhelfen zu können.

Die sich täglich, ja stündlich wiederholenden unbeschreiblichen Szenen des menschlichen Jammers machten keinen Eindruck mehr auch auf das feinstfühlige Herz.

Die Gewohnheit ist ein großes Ungeheuer!

Und wie es keine Regel ohne Ausnahme gibt, so erscheint vor meinem geistigen Auge eine solche Ausnahme, weshalb ich den Fall erzählen will, welcher meiner Ansicht nach einen weichen und warmen Strahl von Licht auf eine Persönlichkeit wirft, die sich besonders durch ihre Weichherzigkeit, Mildtätigkeit Religiosität von allen anderen hohen Kirchenfürsten der russischen Kirche abhob und zwar den Mitropoliten in Kiev Filaret Amfiteatrov.

Möglicherweise werdet ihr Euch darüber wundern, was gemeinschaftliches der Mitropolit mit der Rekrutierung jüdischer Kinder hätte? – Für gewöhnlich wäre dieses auch leicht der Fall, aber hier liegt ein Ausnahmsfall vor, und dann ist das, was ich Euch erzählen werde, so wunderbar, so merkwürdig und bietet soviel Interesse, daß ich annehmen kann, ihr werdet mir bis zum Ende dieser nicht langen, aber wahren Geschichte aufmerksame Hörer bleiben.

Zweites Kapitel

Ohne Rücksicht darauf, daß ich noch sehr jung war, hat mich Klučarev der Stellungskommission zugeteilt, wobei keine große Gesetzkenntnis noch allgemeine Bildung, aber eine große Arbeitskraft nötig waren.

Von Früh bis Abends, solange es das Tageslicht erlaubte (bei Licht wurden die Stellungspflichtigen nicht untersucht) zog sich die Rekrutierung hin und es war absolut unmöglich während dieser Zeit das Gebäude auch nur für ganz kurze Zeit zu verlassen oder die Klagen und Proteste gegen die Vorführung entgegen zu nehmen, die vorgeführten Leute zu klassifizieren, Erläuterungen oder Aufklärungen zu geben und Urteile zu fällen.

War die Tagesarbeit beendet, dann mußte an die noch weit wichtigere, dringendere und viel Zeit in Anspruch nehmende Arbeit geschritten werden, welche darin bestand, die Schriften und Dokumente für den folgenden Tag vorzubereiten.

Nicht genug daran, es mußten eingelangte Klagen und Beschwerden durchgesehen, Rechnungen mit den Aufträgen kontrolliert, Anweisungen auf Montierungen, auf Geld für Provisionen gegeben werden, abgesehen von unzähligen Quittungen und Bestätigungen auf oft ganz minimale Beträge.

Im höchsten Grade widerwärtig war das Lesen der ganze Berge bildenden Denuntiationen, Zuträgereien und der nicht selten höchst verwickelten Beschwerdeschriften.

Das Kanzleipersonal bestand aus Beamten, welche aus den verschiedenen Abteilungen hierher abkommandiert, nichts weiter, als die mechanische Arbeit des Abschreibens zu besorgen hatten.

Der Hauptanteil an der ganzen Arbeit, welche eine gewisse Fassungs- und Beurteilungsgabe verlangte, fiel mir zu als dem bestellten – Kanzleivorstande.

Für gewöhnlich wurde auf diesen verantwortlichen, schweren und nervenerschütternden Posten stets eine Person bestimmt, welche bereits jahrelang im Dienste stand, aber Klučarev wählte, ich weiß nicht aus welchem Grunde und welcher Berechnung, gerade mich aus, der ich doch erst einige Monate diente und – 21 Jahre alt war.

Es ist leicht einzusetzen und zu begreifen, welche Mühe es mir machte ein derartiges Amt in Ordnung zu halten, besonders unter einem viel verlangenden, strengen, ja sogar harten, rücksichtslosen Vorgesetzten, wie es eben Klučarev war.

Sein Nachfolger, der seelen- und herzensgute N. M. Kobilin, welcher den Klučarev ablöste, bestätigte mich in meinem Amte.

Schon anderthalb Monate vor Anfang der Rekrutierung fing das hastige und eilige Arbeiten an, da die Rekrutierungsbezirke und deren Reihenfolge bestimmt werden mußten; die eigentliche Stellung nahm mehr Zeit weg als die Vorarbeiten zu derselben, und erst nach Beendigung derselben, der Abgabe des Schlußberichtes und der Rechnungslegung konnte ich ein wenig freier aufatmen.

Während dieser Zeit lebte ich eigentlich kein menschliches Dasein; hatte keinen Augenblick freie Zeit mit alleiniger Ausnahme von anderthalb Stunden zum Mittagessen und es blieben mir kaum vier Stunden zum Schlafen, die übrige Zeit verschlang der Dienst.

Es ist daher einleuchtend, daß bei einem solchen Leben wenig Zeit übrig geblieben ist, um sich für fremdes Leid interessieren zu können und mit fremden Leuten fremdes Leid zu beweinen. —

Zu jener Zeit an einem Tage, welcher mir nichts Angenehmes brachte, saß ich Abends hinter dem Schreibtisch in meiner Kanzlei und las die eingegangenen Aktenstücke, Beschwerden und Klagen.

Es waren ihrer keine geringe Zahl; fast alle enthielten eines und dasselbe: Klagen und Bitten, ja sie waren fast alle nach einer und derselben Schablone, fast mit denselben gleichen Worten verfaßt.

Mit einemmale fällt in meine Hand ein Blatt außergewöhnlich schlechten Papiers, zerknüllt, weshalb ich auf dasselbe aufmerksam wurde.

Von diesem Blatte Papier und dem, was auf demselben geschrieben stand, wehte eine so große Angst, Qual und Herzensleid, soviel Kummer und Sorge, daß man dasselbe nicht achtlos aus den Händen legen konnte.

Der Blick auf dieses Papier erinnerte an jene Bettler, bei welchen die Not und das Elend aus jedem Flicken, jedem Riß an den Kleidern, ja sogar aus den Augen blickt.

Obzwar ich – aufrichtig gesagt – den Klagen keine große Aufmerksamkeit für gewöhnlich zu schenken pflegte, fühlte ich hier eine nicht zu überwindende Notwendigkeit auf den Inhalt des Geschriebenen näher einzugehen und denselben aufmerksam durchzulesen; ich fand jedoch, daß dies fast unmöglich sei.

Vorerst war es schwierig zu bestimmen, in welcher Sprache das Bittgesuch eigentlich geschrieben sei; ja sogar die Buchstaben gehörten nicht einem und demselben Alphabet an.

Es standen hier russische und polnische Wörter in den betreffenden Schriftzeichen geschrieben nebeneinander, hie und da stand ein Wort, nicht selten sogar ganze Sätze in hebräischen Buchstaben unter den anderen.

Die Bittschrift war etwa in der Art und Weise verfaßt, wie jene der Gogol’schen Kaufleute an den „Herrn Finanzew Chlestakov“; es fanden sich hier einzelne Wörter aus dem allerhöchsten Titel, der Name des Präsidenten, der Bart des General-Gouverneurs, Ober-Hochehrwürden und „Flügertorčakov“4 und „wenn Gott errette“ – mit einem Worte, aus dem ganzen war zu ersehen, der Bittsteller klage bei allen weltlichen und geistlichen Gerichten der ganzen Welt, doch war die Bittschrift derartig verfaßt, daß man dieselbe, unter anderen Verhältnissen, als eine Scherz- oder Spotteingabe angesehen und einfach in den Papierkorb geworfen hätte.

Und dennoch blickte aus allem diesen soviel Elend, Kummer, Sorge, Herzensleid, Angst heraus, daß der Bittsteller einem leid tat.

Statt dieses Bittgesuch, wie es sich gebührt hätte, wegen Nichteinhaltung der vorgeschriebenen Form einfach in den Papierkorb zu werfen, unternahm ich nochmals den Versuch dasselbe aufmerksam zu lesen.

Der Unsinn in der Aufschrift war nichts im Vergleiche zum Unsinn im Texte, dafür wehte aus diesem Unsinn erkennbar ein Weheruf, ein Schrei der Verzweiflung.

In schwer begreiflichen Ausdrücken, aus welchen sich der Sinn äußerst schwierig herauslesen ließ, brachte Bittsteller folgendes zur Anzeige: Er sei Introligator, d. h. Buchbinder; sein Handwerk bringe es mit sich, sich mit verschiedenartigen Büchern beschäftigen zu müssen, in folge dessen habe er verschiedene Lehren und Weisheiten über Gott und Religion sich angeeignet.

Diese Aneignung, dieses Wissen habe ihn nicht nur bei seinen Glaubensgenossen, sondern auch bei den „Kahal“ selbst in Ungnade und Mißkredit gebracht, weshalb letztere in einer Nacht in seine Hütte eindrangen, seinen zehnjährigen Sohn aus dem Bette rissen, ihn raubten, um ihn auf den Stellungsplatz nach Kiev zu bringen.

Der Introligator war tatsächlich von der Stellungspflicht befreit, sein Sohn besaß noch nicht das vorgeschriebene Alter; außerdem lag dem Bittgesuche eine eidlich abgegebene Aussage bei, in welcher bestätigt wurde, daß der vom „Kahal“ geraubte Knabe erst sieben Jahre alt sei.

Andererseits legte der „Kahal“ ebenfalls eine unter Eid abgegebene Aussage vor, in welcher der Knabe des Buchbinders als bereits zwölfjährig angegeben wurde.

Der Introligator fühlte augenscheinlich, daß die Wahrheit durch die Lüge erdrückt wird, daß er sich auf Erfolg in diesem ungleichen Kampfe keine Hoffnung machen könne, weshalb er in zu Herzen gehenden, ergreifenden Worten bat, wenigstens einen Tag noch zu warten, ehe man seinen Sohn zur Stellung vorführe, da er einen Ersatzmann, einen zwanzig Jahre alten Juden, an Stelle seines Knaben stellen werde; er schicke seine Bittschrift mittels Post voraus, fahre aber mit dem Ersatzmann nach.

Drittes Kapitel

Nach der bei uns bestehenden Gepflogenheit bedeutete diese Eingabe gar nichts, um so mehr, als der Introligator mit seinem Ersatzmann noch gar nicht in Kiev war, während der Knabe sich bereits an Ort und Stelle befand und für morgen schon zur Stellung bestimmt war.

War derselbe gesund und kräftig gebaut, zeigte er sich dem äußeren Ansehen nach zwölfjährig, so war sein Schicksal besiegelt und klar: er wurde assentiert, geschoren und in ein Regiment, welches weit, weit im Norden vielleicht gar in Sibirien garnisoniert, gesteckt.

Deshalb legte ich die Bittschrift des Introligators, nachdem ich an derselben die nötige Bemerkung machte, bei Seite.

Mehr konnte ich nicht tun.

So verging in voller Tätigkeit eine Stunde, eine zweite, dritte; – mir ging der arme, belesene Introligator nicht aus dem Sinn.

Ich stellte mir vor: wie er morgen Früh hier anstürmt, sein Kind jedoch bereits als assentiert in der Kaserne findet, wohin man sehr leicht hinein-, schwer aber herausgelassen wird.

Mir tat der arme Jude mehr und mehr leid, denn seine Bittschrift zeigte trotz ihrer Eigentümlichkeit, daß der Buchbinder für die damalige Zeit eine ziemlich große allgemeine Bildung besitzen müsse, hinter welcher sich zwar die alte – doch stets neu bleibende – Geschichte von der Judenverfolgung offenbarte.

Man konnte daraus sehen, daß ein, von der Natur mit klarem Verstande begabter Mensch, der sich bemühte ein wenig sich zu bilden und seinen Gesichtskreis zu erweitern, ohne sich seinem Glauben zu entfremden oder ihn zu verleugnen, sobald er sich seine eigene Ansichten über den Geist der Gesetze mache und nicht nach dem Buchstaben desselben lebe, von den Stammesgenossen sofort zu den „gefährlichen Freigeistern“, den „Abtrünnigen, Neuerern“ gezählt und von den phariseischen Talmudisten zu Grunde gerichtet wird, die sich vornehmen ihn von der Erde verschwinden zu lassen.

Wäre der Introligator reich, würde er Schweinebraten und Würste essen, würde er vollständig vergessen, daß es überhaupt einen Jehova und dessen Gesetze gäbe, aber würde er die Kreise der Talmudisten und deren Lügenmoral nicht stören – so hätte dieses gar nichts zu bedeuten – man würde ihn in der Gemeinde nach wie vor dulden, möglicherweise ehren und verteidigen; aber da zeigt sich auf einmal etwas kleines, unbedeutendes, eine Art Geistesfreiheit, ein Freisinn, welchen die orthodoxe Judenschaft nicht dulden will, noch vertragen kann.

Achtzehn Jahrhunderte konnten an dieser Geschichte nichts ändern.

Einem oder dem andern kann es möglicherweise eigentümlich vorkommen, warum ich den Worten des Introligators eine solche Bedeutung beilege, der durch das ihn betroffene Unglück leicht den Glauben erwecken konnte, er werde seiner religiösen Ansichten wegen von den anderen Juden verfolgt.

Ich sehe dies ein; wenn dieser Fall zu jetziger Zeit sich ereignen würde, so möchte ich selbst einen derartigen Vorfall für sehr verdächtig halten und ansehen; aber zu jener Zeit, in welcher meine Geschichte ihren Anfang und ihr Ende nahm, war an so etwas, als „Freiheit des Geistes, oder der Meinungen“ gar nicht zu denken; darüber hatten sich damals selbst solche Leute keine Ansichten gemacht, welche in weit günstigeren und besseren Verhältnissen standen als der Jude, dessen Knaben man aus dem Bette raubte.

Dem Juden konnte es gar nicht in den Kopf kommen, mit Liberalismus und Freigeisterei glänzen zu wollen, da ihm diese mehr Schaden wie Nutzen bringen konnten, was doch seinen Berechnungen nicht entsprechen konnte.

Ich mußte deshalb aus den über Religion im Bittgesuche gebrauchten Worten und Sätzen den Schluß ziehen, daß dieselben tatsächlich wahrer und tiefer, überzeugungsvoller Religiosität entstammen und aus reinem Herzen kommen.

Ich wiederhole: mir tat der arme Jude leid!

Ich fasste den Gedanken, demselben, so weit es in meiner Macht stand und es meine Kräfte erlaubten, behilflich zu sein.

Ich nahm mir vor, noch spät Abends, nach beendigten täglichen Geschäften, im „Englischen Hof“, wo der zur Rekrutierung kommandierte Flügeladjutant wohnte, vorzufahren und ihn zu bitten, dem Juden seine Hilfe angedeihen zu lassen und die für morgen bestimmte Stellung auf übermorgen zu verschieben, wodurch ein Tag zu Gunsten des Juden gewonnen worden wäre.

Obzwar sich die zur Stellungskommission kommandierten Flügeladjutanten in die Anordnungen der Kommission nicht einzumischen pflegten, so wurden doch ihre Wünsche stets mehr oder weniger beachtet.

Meine Absicht kam jedoch nicht zur Ausführung, denn früher, ehe es dazu kam, hatte die unglückselige Angelegenheit eine solche Wendung genommen und wurde mit einemmale so schwierig, daß der Knabe nur durch ein Wunder gerettet und seinem Vater zurückgegeben werden konnte.

Und dieses Wunder ereignete sich, es fand statt!

Die scheinbar aufsteigenden Schwierigkeiten wurden auf eine einfache und leichte Art überwunden, Dank einem „Engel im Menschenkleide“, für welchen die Mehrzahl der Einwohnerschaft in Kiev den damaligen Mitropoliten Filaret hielt.

Er wurde in diese Judenangelegenheit ohne seinen Willen einbezogen und stürzte die ganze jüdische List und Falschheit sowie die ungerechte buchstäbliche Anwendung des Gesetzes um, einzig und allein durch das ebenso geistvolle wie menschenfreundliche „Urteil Seiner Eminenz“!

4.Flügertorčakov sollte andeuten „Flügeladjutant Čertkov“.
Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
28 ekim 2017
Hacim:
210 s. 1 illüstrasyon
Tercüman:
Telif hakkı:
Public Domain
Metin
Средний рейтинг 3,5 на основе 2 оценок
Metin
Средний рейтинг 5 на основе 1 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Ses
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin PDF
Средний рейтинг 4 на основе 3 оценок
Metin PDF
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin PDF
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 4 на основе 3 оценок
Metin
Средний рейтинг 5 на основе 3 оценок
Metin
Средний рейтинг 4,7 на основе 3 оценок