Kitabı oku: «Terra Aluvis Vol. 1», sayfa 6

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Sacris schloss die Augen, sog dabei die frische Nachtluft ein und ließ den Reitwind sein wildes Haar durchkämmen. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen … Ja, hier gehörte er hin – nicht in die Stadt, nicht hinter Mauern aus Stein, nicht hinter ein Kostüm aus Puder und Rüschengewändern. Je mehr der Prinz damit konfrontiert wurde, desto stärker wurde sein Verlangen, sich davon zu distanzieren.

Sacris lachte trocken auf und dachte bei sich: 'Und du willst der Prinz sein …!? Als König erwartet dich doch ein einziges Leben hinter diesen Toren aus Trug und Glanz!' Er schlug die Lider wieder auf und stellte fest, dass Concurius auf den Tical zuritt. Ja, sollten sie ruhig zum anderen Ufer wechseln … Die Hänge dort drüben waren ohnehin üppiger und die Stadt auf jener Seite auch nicht derartig ausgedehnt wie auf der hiesigen.

Der Tical war ein recht breiter und tiefer Fluss, welcher bei seinem Delta in der Bucht von Hymaetica allerdings nur über eine sehr ruhige, gemäßigte Strömung verfügte. Sacris stieg von seinem Rappen herab und tauchte ohne zu zögern ins dunkle, kalte Wasser hinein, um zum anderen Ufer zu gelangen. Concurius folgte ihm ohne Umschweife, sodass sie nun gemeinsam durch den großen Fluss schwammen.

Sacris genoss es, die Kühle der Strömungen an seinem Körper zu spüren … Es war ein gewisses Gefühl von Freiheit, das damit einherging – denn wilde Strömungen wie diese gab es in keinem der Luxusbäder der Paläste. Der Prinz seufzte befreit und ließ sich von den glitzernden Reflexionen des Mond­lichtes umspielt auf den sanften Wellen davontragen …

***

Lewyn blickte nachdenklich zum Sternenhimmel hinauf, während er auf einer Strohmatte lag und die Arme hinter seinem Kopf verschränkt hielt. Seine Stute Lydia graste gemächlich in der Nähe und schnaubte ab und zu leise auf, wenn sie das ein oder andere Ungeziefer mit einem mächtigen Schwung ihren Schweifes abwehrte. Knisternd verzehrte das Lagerfeuer die Äste und schenkte mit seinen züngelnden Flammen beruhigende Wärme und Licht. Die Insekten in den dichten Gräsern um sie herum zirpten unablässig, während in der Ferne der Nacht gelegentlich der einsame Ruf eines Vogels erklang …

Lewyn ließ seinen Blick über die zahllosen Sterne schweifen, bis er an einer bestimmten Konstellation hängenblieb. Es war ein gewundenes Sternbild – einem Drachenschwan ähnelnd – welches die Menschen 'den Suchenden' nannten. Der hell­haarige Mann betrachtete das Bildnis am Himmels­gewölbe unter all den anderen Gestirnen … und fragte auf einmal verloren in die Nacht hinein: "Was suchst du, Lewyn …? Was suchst du …"

Der Blonde hielt die rechte Hand in die Höhe und betrachtete seine Fingerspitzen. Dieses Kribbeln … Es war so eigenartig gewesen, so befremdlich und so, so- … – Lewyn konnte es einfach nicht in Worte fassen. Er wusste lediglich, dass das Kribbeln in jenem Augenblick nicht nur durch seinen Körper, sondern durch sein Innerstes, seine Seele selbst, gegangen war.

Und die Augen jenes rätselhaften Jungen erst …! Das sonderbare Feuer in ihnen war auf ihn, Lewyn, übergesprungen und hatte eine unerklärliche Glut in ihm entfacht. Jene Glut versengte ihn seit jenem Moment und versetzte ihn dadurch in einen Zustand unsäglicher Unruhe, der ihm nun arge Mühe bereitete, an Ort und Stelle zu verharren. Am liebsten würde er sofort weiterziehen und erst dann wieder zum Stillstand kommen, wenn er sein Ziel endgültig erreicht hatte.

Es fühlte sich an, als würde sich sein Geist in einem undurchdringlichen Nebel befinden – und seine Gedanken irrten wirr und formlos umher, ohne klare Gestalt anzunehmen. Nur in einer Richtung befand sich eine kleine Öffnung, zu welcher hin sich alles in ihm auszurichten schien. Es zog und zerrte den Blonden zu jenem Punkt hin, ja, als gäbe es keine andere Möglichkeit, außer dem inneren Streben nachzugeben und sich von diesem Sog mitreißen zu lassen …

Das Feld der Himmelsspeere … Der Berg des Ahiveth … Celine …

Es war vollkommen in Ordnung; so kam dem jungen Mann schließlich nichts in den Sinn, was ihn hätte ernsthaft davon abhalten sollen, sich diesem tosenden Strom hinzugeben und sich darin zu verlieren …

Sie wartete auf ihn, … wartete darauf, dass er sie dem sicheren Tod entriss, … ja, dass er sie diesen Wesen entriss, bevor sie geopfert wurde …! Nein, sie würde nicht sterben – und wenn er sich selbst dafür opfern musste. Er, Lewyn, würde erfahren, wer für all die Zwietracht zwischen den Menschen und Elfen verantwortlich war; und er würde mit eigenen Augen sehen und begreifen, warum sie es getan hatten …

Er würde Zeugnis ablegen vor den Menschen und vor den Elfen und vermeiden, dass weitere Opfer gebracht wurden – und vor allem verhindern, dass ein Krieg ausbrach. Er würde zum Berg des Ahiveth gehen und zurückkehren … mit Celine an seiner Seite. Er durfte nicht scheitern- … Nein, falsch: Er durfte das Scheitern nicht überleben.

***

Sacris fuhr mit seinen Fingern über die raue, verkohlte Oberfläche der Holzmühle und fühlte dabei, wie kleine Kohlebrocken ins hohe, taubedeckte Gras hinabrieselten. Er zog seine Hand zurück und betrachtete ihre Innenfläche im kühlen Mondlicht: Sie war schwarz verdreckt und staubig. Der dunkelhaarige Mann strich mit ihr durch das feuchte Gras und meinte, den Ruß daran abgewischt zu haben. Als er seine Hand wieder zum Vorschein brachte, merkte er jedoch, dass der Ruß lediglich verschmiert und gleichmäßiger verteilt worden war.

Sacris runzelte die Stirn in Unbehagen und ließ den Blick von seiner Hand zur niedergebrannten Ruine schweifen, … bevor er wieder zu Concurius schritt und gemeinsam mit ihm Hang aufwärts weiterging.

Hinter ihnen lag Hymaetica Aluvis und zu ihrer Rechten das endlose, dunkle Meer. Gemächlich liefen sie über die Wiesen der Steilhänge, welche zum Sandstrand des Ozeans überleiteten – bis sich am Horizont eine Baumsilhouette gegen das Gras und die weit dahinter liegende Bergwand abzeichnete.

Der Prinz begrüßte das sanfte, ihm so sehr vertraute Blätter­rascheln des großen, alten Baumes mit traurigem Blick. Dieser hatte einen derart breiten Stamm, dass eine Hand voll Männer ihn nur schwerlich umfassen mochten. Dazu besaß er eine prächtige, ausladende Krone mit so vielen starken Ästen und feinsten Zweigen, dass selbst der Baum der Väter aus dem Palast vor Neid erblassen würde, wenn er diesen holzigen Bruder hier an den Küstenhängen je zu sehen bekäme.

Das Meer rauschte mit der weiten Wiese und den zahlreichen Blättern des alten Baumes im Akkord, während die Nacht weiter voranschritt. Mit einem schwermütigen Seufzen ließ sich der Prinz bei den stattlichen Wurzeln des Baumes nieder, lehnte sich an den knorrigen Stamm und lauschte mit einem nostalgischen Lächeln den Klängen des Windes …

"Meine Güte, was ziehst du denn für ein Gesicht …?", lachte Lewyn, während er seine Hände in die Seiten stemmte und sich zu seinem Freund hinabbeugte. Sacris, welcher vor ihm im Gras saß, blickte sichtlich schlecht gelaunt zu ihm auf und entgegnete in zynischem Tonfall: "Was soll ich deiner Meinung nach sonst tun? Etwa heiter rufen: 'Juhu, mein Vater liegt im Sterben – Lasst uns feiern'?!" Der Blonde schüttelte lächelnd den Kopf, setzte sich zu ihm an den großen Baum und legte den Kopf schief, während er zum Meer am Horizont blickte …

"Nein", meinte Lewyn nach einer Weile ruhig, "Aber würdest du ihm mit einem fröhlichen Gesicht die ihm noch hier auf Erden verbliebene Zeit nicht wesentlich verschönern, anstatt ihn mit einem Herz voll Trauer in die andere Welt zu entlassen?" Als sein Freund auf diese Worte hin nichts erwiderte und lediglich voll Verdruss vor sich hin starrte, fügte der Blonde mit einem aufmunternden Blinzeln hinzu: "Doch an deiner Stelle würde ich ihn gar nicht erst so schnell aufgeben. Ich denke nämlich, dass er sich erholt und schon bald wieder ganz der Alte ist", und er seufzte nachdenklich, lehnte sich etwas an seinen großen Gefährten und sandte den Blick zum fernen Meer hinaus, "Vertraue der Zeit, Sacris, einfach der Zeit …"

Da begann der Prinz in einem jähen Anflug aus unterdrücktem Zorn: "Ich soll der Zeit vertrauen?", und er schnaubte, "Die Zeit hat mir bereits meine Mutter genommen. Ich zweifle nicht daran, dass sie mir auch meinen Vater nehmen wird", und seine Finger bohrten sich in die Erde unter ihnen, "Die Zeit ist grausam, Lewyn."

Zuerst war Lewyn über die pessimistische Reaktion seines Freundes überrascht; doch legte er ihm schon nach kurzer Zeit eine Hand Mut gebend auf die verkrampften Finger. Stirnrunzelnd blickte Sacris von ihren Händen am Boden zu seinem Gefährten auf.

"Dann vertrau mir, Sacris", sprach der hellhaarige, junge Mann und lächelte ihn aufrichtig an. Aber sein Gegenüber schüttelte nur verwirrt den Kopf und entgegnete: "Woher willst du- " – "Intuition, Sacris, Intuition", fiel ihm der Blonde bestimmt ins Wort, "Er wird wieder gesund werden, vertrau mir."

Daraufhin sah ihn Lewyn mit einer solch erstaunlichen Ruhe an, dass der Prinz nichts zu erwidern wusste. Jene reinen, blauen Augen vermittelten in jeder einzelnen Nuance ihrer Schatten und Schimmer eine derartige Klarheit und Zuversicht, dass Sacris sprachlos dasaß und ihm nichts in den Sinn kam, womit er der Aussage seines Freundes hätte widersprechen können.

Da durchbrach Lewyn mit einem jähen Lachen die Stille zwischen ihnen, hakte sich bei seinem dunkelhaarigen Gefährten ein und schubste ihn von der Seite her verspielt an. "Oder hältst du mich etwa auch für grausam?"

Sacris schaute verdutzt zu seinem strahlenden Gefährten und wusste nicht, ob er über dessen Naivität lachen oder weinen sollte. Der Optimismus seines Freundes überraschte ihn immer wieder aufs Neue – doch er gab ihm Mut. Denn die Vergangenheit hatte gezeigt, dass auf seine Intuition erstaunlicherweise Verlass war.

Lewyns Charakter war durch und durch von empathischen und intuitiven Zügen geprägt. Er erfasste Hinweise in der Sprechweise, Gestik, Mimik, ja, im gesamten Auftreten seines Gegenübers, die ihm mehr über dessen Empfindungen und Gedanken verrieten als Sacris manchmal lieb war. Gleichzeitig wusste er, dass Lewyn diese sensible Art auch sehr verletzlich machte – selbst wenn sein Freund alles andere als schwach war … alles andere als schwach …

Der Prinz betrachtete den bereits dämmernden Himmel und blickte dann zu seiner Linken ins Gras hinab. Wie viele Jahre war es nun her, dass sein Vater zum ersten Mal derart erkrankt war? Zwei, … vielleicht drei Jahre? "Tz …!", er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes, dunkel­braunes Haar, "Jetzt sieh dich doch einmal an …! Reiß dich zusammen, verdammt, das ist ja jämmerlich!" Sacris lachte trocken in seinen Ellbogen hinein und schloss die Augen in schmerzlicher Bitterkeit.

Plötzlich berührte ihn etwas Feuchtes am Handgelenk, dass der junge Mann aufschrak und bemerkte, wie Concurius ihn mit seinem Maul anstupste. Die großen, dunklen Augen des Rappen sahen traurig zu ihm hinab und die Nüstern blähten sich auf, als jener leise vor sich hin schnaubte und ihm dabei einige Haarsträhnen aufwirbelte. Der Prinz lächelte matt und tätschelte die große Nase seines Hengstes, bevor er aus dem Gras aufstand und tief Luft holte …

Noch war nichts verloren. Er durfte die Hoffnung nicht aufgeben – um Lewyns Willen.

***

In den darauffolgenden Tagen ritt Lewyn auf dem Handels­­weg am Tical entlang weiter ins Landesinnere. Er passierte die Stadt Tyurin, überquerte die erste große Handelsbrücke, welche über eine Insel im Fluss zum südlichen Ufer führte, und setzte seinen Weg durch die Wälder an den weiten Wasserfeldern nach Rafalgar fort.

Während die Ufer des Tical zum Delta hin sehr ausladend und weit waren, wurden sie zur Quelle hin immer schmaler, gewundener und unbegehbarer. Gleichzeitig nahm die Bewaldung der abnehmenden Uferfläche zu – und die steilen Berghänge keilten den gesamten Flussverlauf zu beiden Seiten hin gnadenlos ein.

Der ruhige Tical wurde auf dem Weg zu seinem Ursprung seiner­seits immer unbändiger, seine Strömungen rauer und seine Gewässer von spitzen Felsen und Geröll durchsetzt; so musste die meiste Handelsfracht zwischendurch auf kleinere Schiffe verlagert werden, damit sie überhaupt ihr Ziel erreichte. Kurz vor der Quelle bildete der Fluss schließlich einen großen See, an welchem die Grafenstadt Henx zwischen den zwei Bergrücken eingebettet lag, die auch den Tical zur Meeresmündung hinab begleiteten.

Zwischen Rafalgar und Henx lag noch eine kleinere Stadt namens Kanfar in einem besonders menschenarmen Abschnitt. Die Besiedlung nahm ins Landesinnere nämlich immer mehr ab – denn wo in der Nähe der Hauptstadt noch große Viehfarmen und Getreidefelder die Wege säumten, fand man später über Tage hinweg häufig nur noch vereinzelte Häuseransammlungen vor, in denen sich einige Familien in der Einsamkeit nieder­gelassen hatten.

Wie arm die Siedlungen aber auch sein mochten, so hatte jede von ihnen zumindest einen provisorischen Hafen, in welchem ein, zwei Boote vor Anker lagen; denn die großen Gewässer waren der Hauptverkehrsweg im gesamten Königreich. Die Landwege mochten in manchen Gegenden nach dem ein oder anderen Regenschauer unzugänglich geworden sein, doch der Tical und die Ozeane waren stets zuverlässig gewesen.

Am Ende des dritten Tages erreichte Lewyn einen Zulauf des Tical. Er stieg vom Pferd herab und füllte seine Trinkschläuche auf, während sich Lydia ihrerseits am kühlen Nass gütlich tat. Als der Blonde das Schild an der Weggabelung bemerkte, seufzte er. "Eksaph …" Wie sehr wünschte sich der junge Mann, dass er dem Flusslauf folgend in jener Siedlung auf Celine treffen würde – welche ihm fröhlich zulächelte und ihn verwundert fragte, warum er sich denn all solche Sorgen um sie gemacht hatte …

Als sie weiterritten, machte der Schimmel Anstalten, aus Gewohnheit in jene Richtung abzubiegen, doch Lewyn hielt ihn davon ab und lenkte ihrer beider Augenmerk wieder zurück auf die Berge am fernen Horizont. "Dorthin, meine Gute …", flüsterte er der schneeweißen Stute zu, "Dorthin führt uns heute unser Weg." Sie schnaubte verständnislos, gehorchte ihm jedoch. So überquerten sie den kleinen Flusslauf und ritten auf den entfernten Wald vor ihnen zu. Bevor sie ihn allerdings erreicht hatten, war die Sonne bereits untergegangen, sodass sie ihr Nachtlager kurz vor der Baumgrenze aufschlugen.

Lewyn war dieser Weg recht bekannt, da er als Knappe eines henxischen Kriegsveteranen nicht selten hatte zwischen der Grafenstadt und Hymaetica hin und her reiten müssen …

Thorn, der Tapfere, hatte ihn damals auf die Bitte seiner Eltern hin unter die Fittiche genommen. Es ergab sich nämlich, dass der Klingenmeister Thorn mitunter der königliche Schwert­lehrer war und er selbst somit häufig die Gelegenheit gehabt hatte, etwas mit dem Kronprinzen zu unternehmen.

Lewyn war verhältnismäßig unbegabt im Umgang mit dem Schwert – der Langbogen lag ihm da schon wesentlich mehr; sehr zum Leidwesen seines Herrn und Meisters, der schnell feststellen musste, dass bei ihm wenige Unterrichtseinheiten im Bogenschießen wesentlich mehr Früchte trugen als das Zehnfache an Schwertübungseinheiten. Er war nicht sonderlich schlecht im Schwertkampf, das bei Leibe nicht!, aber neben dem hochtalentierten Prinzen einfach … nicht weiter erwähnenswert.

Henx bildete hervorragende Krieger aus, keine durchschnitt­lichen Kämpfer. 'Merke dir eines, mein Junge', hatte Thorn ihm stets gesagt, ''Gut' ist niemals gut genug, 'sehr gut' vielleicht noch akzeptabel, doch 'herausragend' erst das, was wir einen wirklichen 'Krieger' nennen.'

Gedankenverloren strich der Blonde über das glatte, dunkle Holz seines Langbogens vor sich und holte aus einer Gürteltasche ein Stück Wachs hervor. Mit großer Sorgfalt begann er, die Sehne damit einzureiben und zu pflegen. Der Köcher mit den Pfeilen lag gleich neben ihm auf dem Boden bei seinem Schwert.

Lydia rupfte an den Wiesengräsern und kaute munter vor sich hin, während die Vögel einer nach dem anderen verstummten und die dunkle Nacht hereinbrach. Der junge Mann ließ den Tag ruhig ausklingen: Im behaglichen Schein des Lagerfeuers überprüfte er seine Rüstung und anschließend auch seine Schwert- sowie Dolchklinge. Er würde diese in den nächsten Tagen wieder schärfen müssen, aber das hatte Zeit.

Gerade als Lewyn die Waffen wieder in ihre Halterungen zurückgetan hatte, fiel ihm die unnatürliche Stille auf, die sich um sie gelegt hatte. Seine Stute hatte aufgehört zu grasen und streckte den Kopf lauschend in die Höhe, während ihre Ohren in unterschiedliche Richtungen zuckten. Da ließ der Blonde seine Hand langsam zum Bogen wandern und legte ganz beiläufig einen Pfeil auf. Er blieb ruhig, schloss seine Augen und konzentrierte sich auf die Geräusche in seiner Umgebung …

Das leise Knistern des Lagerfeuers dicht neben ihm … Das sanfte Rauschen der Baumkronen weiter hinter ihm … Das weit­läufige Rascheln des vom Wind durchkämmten Gras­meeres um ihn herum … – Das Knacken eines durch­brochenen Zweiges von schräg hinter ihm.

Augenblicklich schnellte Lewyn herum und schoss den Pfeil in diese Richtung ab. Ein Schrei erklang aus dem hohen Gras. Sofort ertönte ein Rascheln aus einer völlig anderen Richtung – gefolgt von einem leisen Surren, dessen Ursache seine Schulter nur knapp verfehlte. Lydia wieherte auf und galoppierte davon. Der Blonde hingegen ließ sich kontrolliert zu Boden fallen, bevor er von der Feuerstelle weg ins Gras rollte und auf dem Weg zwei weitere Pfeile aus dem Köcher am Boden zog. Ein erneutes Surren hörte direkt in der Erde neben ihm auf, wo er eben noch sein Bein gehabt hatte.

Während Lewyn in Windeseile einen weiteren Pfeil auflegte, bemerkte er, dass er soeben einem Bolzen ausgewichen war: schlecht gearbeitet, keine Soldaten, vermutlich Wege­lagerer. Er schoss seinen Pfeil dem akustischen Ursprung des Fremdgeschosses entgegen und suchte geduckt durch das Gras huschend nach demjenigen, den er vorhin getroffen hatte. Der junge Mann fand ihn sehr schnell; denn dort, wo jener lag, waren die Halme umgeknickt. Mit einem Satz war er bei ihm, zog den Dolch, hielt ihn dem Fremden an die Kehle und rief: "Komm raus! Zeig dich und ich verschone das Leben deines Gefährten!"

In der Zeit, da Lewyn die Gestalt vor sich fest im Griff hielt und im schattigen Schutz des Grases auf eine Reaktion wartete, bemerkte er, dass sich sein Pfeil tief in den Oberschenkel des Angreifers gebohrt hatte. Keuchend hielt sich jener sein blutendes Bein und schien noch unter Schock zu stehen. Der Fremde trug eine viel zu große und schon sehr abgenutzte Lederrüstung und machte auch ansonsten einen eher zerschlissenen Eindruck …

Nach einem kurzen Moment der Stille trat jemand vom Waldrand her in den Schein des Lagerfeuers – die Hände mit einer Armbrust in die Höhe gestreckt. So erhob sich auch der Blonde langsam mit seinem Opfer und zog es mit sich zum Lager zurück. Die Person in seiner Gewalt war nicht sonderlich schwer und auch mehr als zwei Köpfe kleiner als er. Ein Kind …?

Am Feuer angekommen bedeutete Lewyn seinem Gegenüber mit einem knappen Nicken, die Armbrust abzulegen – geräuschvoll landete die Waffe im Gras. Nachdem der junge Mann dem Angreifer in seinem Griff das Kurzschwert abgenommen hatte, schubste er ihn seinem Komplizen entgegen und schwang die soeben erworbene Klinge sofort in ihre Richtung. "Was wollt ihr hier, Streuner?"

Die unverletzte Person fing die andere auf und wich einen Schritt vor dem Blonden zurück. Sie trug einen dunklen Kapuzenumhang, aber ansonsten nicht weniger abgetragene Kleidung als ihr kleinerer Gefährte. Sie nahm ihre Kapuze ab und gab somit den Blick auf ihr halbkurzes, wild zerzaustes Haar und ihr ungepflegtes Gesicht preis, welches allerdings eindeutig einer jungen Frau gehörte. Die Fremde stierte ihn nun böse an und rief: "Wie kannste's wagen, mein' Bruder zu verletz'n!?"

Lewyn keuchte fassungslos auf und traute seinen eigenen Ohren nicht. Er besah sich flüchtig die beiden Bolzen am Boden, ehe er mit hochgehobenen Augenbrauen zu der Fremden sprach: "Du beliebst zu scherzen, wenn du meinst, dich zur nächtlichen Stunde in mein Lager schleichen zu müssen, mich fast tödlich zu treffen, um mir dann vorzuwerfen, mich verteidigt zu haben!"

Der Blonde hielt das Kurzschwert weiter auf sie gerichtet und wartete auf eine Erklärung. Der halbwüchsige Junge sackte zusammen, dass die Frau in die Knie ging, um seinen Sturz abzufangen. Sie legte ihn vor sich ins Gras und funkelte den langhaarigen Mann stinksauer an: "Ihr Großstädter habt doch eh' nichts and'res als 'n Tod verdient! – Und jetz' hilf endlich meinem Bruder, sonst stirbt er!"

Lewyn konnte nicht anders als trocken aufzulachen. "Was für ein freches Biest bist du eigentlich?!", erwiderte er und schüttelte ungläubig den Kopf, "Ich war nicht derjenige, der euch hier angefallen hat! Hilf ihm doch selbst, denn es scheint ja nicht das erste Mal zu sein, dass ihr arglose Reisende überfallt!" Damit ließ der junge Mann das Schwert sinken und murmelte abschließend: "… Und deine Treffsicherheit wird auch nicht von ungefähr kommen."

Der Blonde ging hinüber zur Armbrust, hob sie auf und legte das schartige Kurzschwert des Jungen zusammen mit seinem eigenen Bogen zum Köcher auf die Erde zurück. Dann setzte er sich hin und betrachtete die Armbrust: einfache Bauweise, nichts für lange Distanzen. Ein Wunder, dass sie ihn damit fast zwei Mal getroffen hatte.

Als Lewyn zu der Fremden hinübersah, bemerkte er allerdings, dass sie ihn immer noch hasserfüllt anstarrte. "Und? Was erwartest du nun von mir?", meinte er und lachte sarkastisch, "Dass ich mich vielleicht noch dafür entschuldige, deinen Bolzen ausgewichen zu sein …?!" Der langhaarige Mann zog die beiden Geschosse in seiner Umgebung aus der Erde und hielt sie kopfschüttelnd der jungen Frau hin, bevor er diese zusammen mit der Armbrust zum Kurzschwert legte und seinen Kopf schüttelte. "Törichtes Kind."

Das Mädchen hatte aber noch immer nichts Besseres zu tun als ihn vorwurfsvoll anzustarren; sodass der Blonde aufseufzte, in seine Tasche griff, eine kleine Verbandsrolle herauszog und sie der Fremden zuwarf. Diese fing die Rolle zwar auf und schaute kurz darauf hinab, richtete ihren Blick dann jedoch gleich danach wieder unbeirrt auf den jungen Mann wenige Schritte entfernt.

Lewyn sah sie stirnrunzelnd an. "Nein, ich glaube dir jetzt nicht, dass du nicht weißt, wie man einen Pfeil entfernt. Ihr führt nicht erst seit gestern dieses Leben und seid mit Sicherheit nicht immer ohne Verletzungen davongekommen." Der Blonde holte seinen Trinkschlauch hervor und nahm daraus einen großen Schluck, wobei er den Jungen aus den Augenwinkeln näher betrachtete … Jener hielt sich weiterhin sein blutendes Bein und weinte mittlerweile leise vor sich hin – Verdammt nochmal aber auch, warum musste er so ein ausgeprägtes Gewissen haben?!

Der junge Mann schloss den Schlauch wieder und begann, nach etwas in seiner Tasche zu suchen. "Wie heißt du, Fremde?", raunte er, während er ein kleines Fläschchen hervorholte und wieder in seiner Tasche herumwühlte. Sie aber schwieg nur und starrte ihn weiterhin an. "Dein Name?!", Lewyn wandte sich ihr mit genervtem Blick zu, der eindeutig sagte: 'Entweder du kooperierst oder dein Bruder verblutet.'

In höchster Missbilligung verengte das heranwachsende Mädchen die Augen zu Schlitzen – wovon sich ihr langhaariges Gegenüber herzlich wenig beeindrucken ließ – dann gab sie plötzlich einen zischenden Laut von sich und wandte beleidigt ihren Kopf ab. Lewyn wartete noch einen Moment, ob sie etwas sagen würde, bevor er die Tinktur wieder zurücklegen und die streunenden Jugendlichen einfach ignorieren würde …

"Sheena", murmelte die Fremde schließlich leise und undeutlich. "'Schna'?", wiederholte der junge Mann gelassen; mehr war bei ihm nicht angekommen. "Sheeeenaaa", sie überbetonte ihren Namen, damit er ihn richtig verstand. "Geht doch." Lewyn kam nicht umhin, unmerklich zu schmunzeln, während er zwei Tücher, den Wasserschlauch, ein anderes Fläschchen und die Tinktur nahm, aufstand und zu den beiden hinüberschritt. Die junge Frau wich auf seine Annäherung hin instinktiv zurück, während sie ihren Bruder schützend in den Armen hielt. Lewyn ignorierte diese Abwehrhaltung einfach und tat, was getan werden musste.

Er hatte ungern Menschenleben auf dem Gewissen. Für gewöhnlich begegneten ihm so weit im Landesinneren allerdings nun mal eher weniger gut gesinnte Menschen als vielmehr Banditen und Räuber. Wilde Raubtiere gab es hier in dem Landstrich noch nicht wirklich und Pflanzenfresser schlichen sich nicht derart verstohlen an. Doch es war zum ersten Mal, dass ihn solche Jungspunde – und das auch noch in so kleiner Anzahl – angefallen hatten.

"Wie heißt dein Bruder, Sheena?", wollte Lewyn wissen, "Und was machen Kinder wie ihr allein hier draußen? Wo sind eure Eltern?" Der hellhaarige Mann hielt das Mädchen beschäftigt, während er ihr den vorhin zugeworfenen Verband abnahm, den Puls des Jungen überprüfte und seine Stirn abtastete, um herauszufinden, ob jener Fieber hatte. Nachdem er sichergegangen war, dass der Puls stabil und noch keine Entzündung auf­getreten war, begann Lewyn damit, sich die Pfeileintrittsstelle näher anzusehen. Dazu zückte er seinen Dolch und schnitt die Hose des Jungen am Oberschenkel weit genug auf, dass er die Wunde ungehindert behandeln konnte. Es war ein sauberer Schuss gewesen, deswegen war das Fleisch nicht verrissen. Der Bruder des Mädchens konnte dankbar sein, dass er nur mit Jagdpfeilen geschossen hatte, sonst wäre das Ganze äußerst hässlich geworden.

Sheena beobachtete seine Handlungen mit sehr besorgtem und gleichzeitig gequältem Blick. Es schien ihr ganz und gar nicht zu gefallen, auf die Hilfe dieses 'Großstädters' angewiesen zu sein. "Kayne …", meinte sie dann zögernd, "Er is' mein klein'rer Bruder. Wir wohnt'n bis vor Kurzem noch in 'ner Hütte hier im Wald mit uns'rem Vater. Aber …", ihre Stimme wurde plötzlich finster, "… der is' verschleppt word'n … schon vor viel'n Woch'n – keine Ahnung von wem oder was. War'n keine Spuren oder so zu seh'n." Der Blonde sah stirnrunzelnd auf, während Sheena immer aufgebrachter wurde. "Einfach weg! Alles steh'n un' lieg'n gelass'n! Die Leute sag'n alle, 's war'n diese Wölfe, aber ich glaub' den' nich'! Un', un' mein Bruder erst recht nich'!" Ihr Tonfall war zum Ende hin immer bissiger und schmerz­erfüllter geworden und sie betrachtete das verletzte Bein ihres Bruders beklommener denn je …

"Verschleppt?", hakte Lewyn ernst nach, "Ohne jede Spur?" – "Ja, Mann, sagt' ich doch grad'!", warf das Mädchen zurück, "Und jetz' sind wa hier allein un' wiss'n nich', was wa jetz' mach'n soll'n." Der Blonde nickte nachdenklich und wandte sich wieder der Verletzung des Jungen zu. Er begann allmählich zu verstehen, wie es zu alldem hier gekommen war. "Deswegen habt ihr also angefangen, Leute zu überfallen", murmelte er, "um euch selbst am Leben zu erhalten …"

Das Mädchen zuckte hilflos mit den Schultern und erwiderte: "Ja, was sollt'n wa denn bitte sonst tun? Diese ganz'n Stadt­leute in Rafalgar, die hab'n uns schnurstracks rausgeschmiss'n und gesagt, wir soll'n wo anders hin!", und sie verstellte ihre Stimme zu einem abfälligen Keifen, "'Für Bettler un' Streuner kein' Platz' un' so! Halt'n sich eben für was Bess'res, diese elenden Stadtleute, pah!" Der junge Mann blickte ungläubig auf. Er wusste ja, dass die Menschen in Rafalgar sehr stolz sein konnten, aber verwaiste Kinder abzulehnen …! – Lewyn schüttelte seinen Kopf und arbeitete weiter. "Ihr hättet nach Hymaetica kommen sollen", meinte er gefasst, "Es gibt dort sogar eine spezielle Einrichtung für Kinder wie euch, die mittellos von ihren Eltern zurückgelassen worden sind."

Sheena sah ihn auf einmal mit großen, überraschten Augen an. "Wirklich?!" Dann zügelte sie sich aber schnell wieder und setzte erneut ihren misstrauischen Gesichtsausdruck auf. "Warum sollt'n die sich um solche wie uns kümmern …? Alles gelog'n-!" – "Warum sollte ich dich anlügen?" Der Blonde hatte die Wunduntersuchung abermals unterbrochen und schaute sein weibliches Gegenüber nun ruhig schweigend an …

Je länger sich Lewyn mit den beiden Jugendlichen befasste, desto jünger kamen sie ihm vor: Das Mädchen zum Beispiel, welches er noch vor Kurzem fast für eine ausgewachsene Frau gehalten hatte, machte auf ihn mittlerweile den Eindruck, als hatte sie nicht mehr als vierzehn, … vielleicht fünfzehn Winter erlebt.

Sheenas dunkelgrüne Augen begannen zu flackern, als sie der junge Mann so aus der Nähe musterte; und auf ihren Wangen zeichnete sich ein Hauch von Röte ab. "Weil … w-weil …", stammelte sie jäh verunsichert und musste sich zusammenreißen, "… weil ihr uns're Väter un' Mütter verschleppt habt!!!"

Lewyn wich unter der Wucht ihrer Worte zurück. Mit so einer Anschuldigung hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Es folgte ein höchst angespannter Moment der Stille, … bevor der Blonde in berstendes Gelächter ausbrach und damit einige Vögel in den nähergelegenen Bäumen aufscheuchte.

"Und was genau", setzte der Lewyn schließlich äußerst vergnügt an, nachdem er sich wieder gefangen hatte, "sollten 'wir elenden Stadtleute' mit euren Eltern tun, nachdem wir sie verschleppt haben?" Sheena war sichtlich erbost darüber, dass sie von ihrem Gegenüber nicht ernst genommen wurde. Aber jener lachte nur: "Sie vielleicht als Sklaven in unseren Häusern halten, damit sie für uns kochen und putzen?!" Der Blonde sah sie unter erneutem Kopfschütteln an und tät­schelte grinsend ihren zerzausten Kopf. Das Mädchen duckte sich daraufhin weg und fauchte ihn an, wobei sie seine Hand abschüttelte.

Doch dann ließ Lewyn von ihr ab und richtete seinen Blick wieder auf die Wunde vor ihm … Sein Lächeln war verschwunden. "Weißt du eigentlich, dass auch aus den großen Städten nicht wenige Menschen verschwinden?" Und wesentlich leiser und ernster fügte er dann an: "Vor wenigen Tagen hat es meine beste Freundin erwischt." Der junge Mann wartete nicht auf eine Antwort, sondern legte das große Tuch vorsichtig um die Pfeileintrittsstelle, bevor er das Fläschchen öffnete und eine klare Flüssigkeit über die Wunde goss. Kayne schrie prompt auf und krümmte sich, sodass Lewyn ihn wieder zur Erde hinab drücken und seiner Schwester bedeuten musste, ihn festzuhalten. Dann umfasste er den Pfeil so nah am Ansatz wie möglich und zog ihn vorsichtig und routiniert aus dem Bein des Jungen heraus – welcher daraufhin abermals aufschrie.