Kitabı oku: «Terra Aluvis Vol. 1», sayfa 5

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Was sollte er bloß mit all dem Essen anfangen …? Am liebsten würde er alles Lewyn zukommen lassen. Er wusste ja nicht einmal, was sich sein Freund überhaupt auf den langen Weg eingepackt hatte …! Vermutlich nur etwas Brot und Trocken­fleisch und- … Ach, er wollte gar nicht daran denken und stattdessen lieber aufstehen, so schmerzte es ihn doch nur wieder in seiner Brust.

Der junge Mann ging zum Waschbecken in seinem Bade­zimmer nebenan, ließ etwas kaltes Wasser hinein und wusch sich das Gesicht. Mit einem anschließenden Blick in den Spiegel stellte Sacris erschrocken fest, dass er einfach nur fürchterlich aussah. Dass seine zerzausten Haare stets nur das taten, was sie wollten, und sich nicht im Geringsten darum scherten, wenn er versuchte, sie auch nur ansatzweise in etwas wie eine Frisur zu bringen, war ihm ja nichts Neues; aber nun kam diese ungewöhnliche Blässe im Gesicht und dann auch noch diese rot unterlaufenen Augen mit dunklen Ringen hinzu …!

Als sich der Prinz für einen Moment selbst in diese Augen sah, schüttelte es ihn innerlich. Ihr Ausdruck bereitete ihm mehr als Unbehagen, sodass er sein Gesicht prompt wieder im Becken versenkte.

Anschließend kehrte Sacris in sein Schlafzimmer zurück und zog sich eine dunkelbraune, bequeme Hose sowie ein lockeres, weißes Hemd an, welches er nur zur Hälfte zu­­knöpfte. Nachdem er einen Schluck Wasser aus einem Glas vom Tablett getrunken hatte, verließ er seine Gemächer.

Der junge Mann schlich mehr denn dass er schritt durch die mit Fackeln beleuchteten Gänge des Palastes, ohne dass er seine Umgebung wirklich wahrnahm. Nachdem Sacris seinen Vater im privaten Teil des Königshauses nicht auffinden konnte, beschloss er, im öffentlichen Bereich nach ihm zu suchen.

Auf einem abgelegenen Gang kamen dem Prinzen unerwartet einige angeheitert schnatternde, adlige Frauen entgegen. Doch war er geistesabwesend genug, um sie nicht zu bemerken und einfach an ihnen vorbeizugehen. Die Damen wiederum hielten herzlich wenig davon; denn als sie den königlichen Thronfolger erkannten und auch noch feststellten, dass er ohne Begleitung war, blieben sie begeistert – und in ihrem Rausch leicht taumelnd – vor ihm stehen, um seine Aufmerksamkeit zu provozieren.

Sacris fielen die betrunkenen Frauen erst auf, als sie ihm direkt den Weg versperrten. Er blinzelte verwirrt in die Runde und verstand nicht, warum sie ihn angehalten hatten. "Na, aber hallo, Mädels! Wen haben wir denn da …?", zwinkerte ihm eine leicht bekleidete, schlanke Kayranerin verführerisch zu, "Eure Königliche Hoheit, heute so ganz allein unterwegs?" Ihr Kichern klang unangenehm kratzig in seinen Ohren.

"Also wirklich, mein Sssüßer, du sssiehst ja richtich niedergeschlag'n aus …!", stellte eine aufreizende Lunidin zu seiner Rechten fest, stemmte die Hände in die kurvige Hüfte und beugte sich zu ihm vor, um ihren ohnehin schon betonten Ausschnitt noch mehr zur Geltung kommen zu lassen. Was … wollten diese Fremden?

"Ah, ssseht, Hoheit …! 'S bricht mir schier 's Hersss …!", beteuerte eine andere Lunidin in übertriebenem Mitleid zu seiner Linken und fuhr sich über die Brust, um auf das vermeintlich gebrochene Herz hinzuweisen. Eine war ja aufgeputzter und freizügiger als die andere …!

Die auffällige Alkoholfahne, welche von den drei Adligen ausging, ließ den Atem des jungen Mannes stocken, dass er den Kopf abwandte und angeekelt die Nase rümpfte. Abwertend blickte Sacris von einem lüsternen Weib zum nächsten … und hielt es für das Beste, einfach nicht auf sie einzugehen. Er wollte nichts mit ihnen zu tun haben – und mit den Gedanken war er gerade ohnehin ganz woanders.

Schon wollte sich der Prinz schlichtweg wortlos an ihnen vorbei drängeln; da lachte eine der Lunidinnen gackernd auf, umfasste keck seinen Arm und lallte dann mehr zu ihren Freundinnen als zu ihm gewandt: "Ach, nu guck doch nich' so böööse …! Ich wüsst' da ja 'ne ausssgessseichnete Möglichkeit, deine Laune sssu heben, mein Sssüßer …! Nich' wahr, Mädelsss?" Mit einem begeisterten Kichern stiegen ihre Begleiterinnen auf den Vorschlag ein und fingen ebenfalls an, sich dem jungen Mann unziemlich zu nähern.

Sacris begriff nur langsam, was vor sich ging – riss sich jedoch sofort los, als ihm die Absicht der adligen Frauen dämmerte. Der Prinz ging entschieden auf Abstand, verengte die Augen zu Schlitzen und zischte: "Ihr widert mich an. Verschwindet."

Daraufhin rief die hochgewachsenen Kayranerin jagdlustig: "Ohohooo, habt ihr das gehört, Mädels …? Er will uns tat­sächlich abweisen …!" – "Uuuuu~h …!", erklang es von den Lunidinnen im Chor; und schon setzten sie gemeinsam zu einer Verfolgung auf den schlagartig mehr als verstörten Prinzen an – als plötzlich zwei sich unterhaltende, ältere Männer um die Ecke bogen. Augenblicklich verstummten die Weiber, ließen von ihrer königlichen Beute ab und liefen klappernden Schrittes den Gang davon.

"Oh, Sacris, mein Sohn …!", bemerkte König Faryen überrascht und blieb jäh stehen, "Wir waren just in diesem Moment auf dem Weg zu dir!" Auch der Mercurio betrachtete ihn – allerdings mit einem gänzlichen anderen Gesichtsausdruck.

Sacris sah stumm zum dunklen Ende des Ganges hin, in welchem die adligen Frauen verschwunden waren, und wandte sich stirnrunzelnd dem König zu. "Was möchtest du mir mitteilen, Vater?", fragte er gefasst. "Nun …", begann der alte Mann langsam und legte einen Arm um die Schultern seines Sohnes, während sie den Seitengang zurück zum Thronsaal einschlugen, "Unsere Wachen und Händler berichten, … dass sie Lewyn auf der Straße nach Tyurin begegnet sind."

Sacris schwieg. Der König wartete, bis sie beim Baum der Väter im hinteren Teil des Thronsaales angekommen waren, bevor er stehenblieb, ihm beide Hände auf die Schultern legte und ihn mit warmen Augen ansah. "Wenn er nach Eksaph aufgebrochen ist …", kam es leise von Rex, "… wieso bist du dann nicht einfach mit ihm gegangen?"

Der Prinz schaute seinen Vater still an und schwieg fort. "Bitte, sprich mit mir, mein Sohn …!", bat König Faryen und sah ihn sanft an, "Was ist los mit dir? Warum ist Lewyn losgezogen?" Doch Sacris erwiderte daraufhin noch immer nichts … und warf dem kahlköpfigen Berater neben ihnen lediglich einen finsteren Blick zu …

Anschließend wandte sich der junge Mann ab und setzte sich mit angezogenem Knie seitlich auf die marmorne Mauer, die den Baum der Väter mit all seinen exotischen Pflanzen und Gewächsen umgab. Die gekräuselte Rinde leuchtete in weichem Schein, während die weißen Flecken auf den gewundenen Blättern der Äste ihrerseits wundersam glitzerten und den Baum so in einen hellen Mantel des Lichts hüllten …

Sacris betrachtete diese sonderbare Erscheinung mit trübem Blick und erklärte auf einmal unhörbar: "Lewyn … ist zum Feld der Himmelsspeere aufgebrochen."

Der König sog hörbar die Luft ein. Nach langem Zögern setzte er sich seinem Sohn auf der Mauer gegenüber hin und fragte ruhig: "Sage mir, mein Sohn: Wieso ist er dorthin auf­gebrochen …? Dies ist kein Ort für einen kurzen Ausflug – ja, dies ist ohnehin überhaupt kein Ort, zu welchem ein junger Mann wie er jemals aufbrechen sollte …!" Sacris' Augen wanderten traurig zu seinem Vater hin. Seine Stimme war gedämpft und brüchig, als er ihm antwortete: "Das weiß ich … Das weiß ich doch …! Aber- …!", und plötzlich verbarg er sein Gesicht im Ellbogen, "Celine …! Er glaubt, dort Celine zu finden!"

Der ältere Mann hob beide Augenbrauen an. "Celine? Aber warum?", hakte er verdutzt nach, "Wie kommt Lewyn denn dazu, sie ausgerechnet dort zu vermuten?" Der Prinz lachte trocken in seinen Arm hinein, schüttelte bitter den Kopf und meinte: "Weil ein Junge es ihm gesagt hat."

"Weil ein … Junge … es ihm gesagt hat …?", vergewisserte sich der König ungläubig. Sacris blickte sichtlich unglücklich auf und bestätigte: "Ja, ein Junge …!", und mit einem Mal brach alles aus ihm heraus, "Er kam daher und erzählte etwas von einer 'Vision' und von 'Schicksal' und dass er in einem Traum gesehen hätte, wie Lewyn sie beim nächsten Vollmond auf dem Berg des Ahiveth finden würde, weil sie dort angeblich von irgendwem geopfert wird …!", der Prinz wurde immer aufgebrachter und gestikulierte mit den Händen um sich, "Und, u-und dass das wohl diejenigen sein würden, die auch alle anderen verschwundenen Menschen auf dem Gewissen haben, und dass es zwar vergebens sei und überhaupt, aber dennoch war er so – argh!", Sacris verkrallte die Hände am Kopf, während sein Redefluss zunehmend stockte, "Ich … i-ich weiß nicht warum, aber danach … danach war Lewyn wie ausgewechselt! Wir, w-wir redeten nur noch aneinander vorbei; zur Vernunft bringen konnte ich ihn nicht und, und meine Hilfe wollte er auch nicht und-" Der junge Mann raufte sich verzweifelt die Haare, bevor er sein Gesicht in den Händen vergrub und sich wieder mit aller Kraft zu beruhigen versuchte.

Sein Vater fuhr sich sprachlos über den langen, gepflegten Vollbart und wusste nicht, was er sagen sollte …

Rex hatte mit allem, mit wirklich allem gerechnet – aber nicht mit einer derartigen Erklärung. Daher wusste er nun umso weniger, wie er darauf reagieren sollte, ohne die Gefühle seines einzigen Sohnes, den er doch so sehr liebte!, zu verletzen. Es schmerzte den König sehr, ihn derartig leiden zu sehen, also setzte er schließlich zögernd zu einem Vorschlag an: "Wir könnten … einen Falken an die nördliche Grafenstadt Henx schicken und dem Hauptmann der Wache den Befehl geben, Lewyn aufzuhalten, sobald er dort vorbeikommt; und er wird dort vorbeikommen müssen, sofern er nicht einen großen Umweg über die westlichen Territorien der Anderwesen machen und sich damit schon einer fast noch größeren Gefahr aussetzen will."

Sacris schüttelte den Kopf und ließ seine Arme sinken. "Du verstehst das nicht, Vater", meinte er und fing wieder an, seine Hände zur Verdeutlichung einzusetzen, "Lewyn war dermaßen erfüllt von diesem, diesem … 'Gedanken', dass es vollkommen sinnlos war, ihn aufzuhalten! Mit Vernunft und Verstand bist du bei ihm überhaupt nicht mehr weiter­gekommen …! Ich … i-ich hatte vielmehr das Gefühl, dass seine Beweggründe einer, einer völlig 'anderen' Natur waren."

Als der Prinz dem unterdrückt skeptischen Blick seines älteren Gegenübers begegnete, hob er eine Hand und wandte sich resigniert kopfschüttelnd ab. "Bitte, zwinge mich nicht, dir das näher zu erklären, Vater, denn das kann ich nicht. Der kleine Junge war einfach nur seltsam … Seine Ausstrahlung, sein Benehmen – ja, schlichtweg alles an ihm war seltsam! Und nach der Begegnung mit ihm wurde Lewyn genauso seltsam …!"

Plötzlich lachte Sacris hilflos auf und zog seine Schultern an. "Ich meine, wenn wir Lewyn gefangen haben, was soll ich dann bitte mit ihm anstellen? Ihn in eine Zelle sperren …?!", und sein Lachen verschwand schlagartig, "Er wird mich hassen, das wird er!" Kurz darauf senkte der junge Mann seinen Blick erneut, atmete einmal besonders tief durch und schloss schmerzlich die Augen …

"Es gibt nichts, was ich für ihn tun könnte."

König Faryen schaute seinen Sohn bitter an. Der ganze Fall überstieg seine Vorstellungskraft. Wie konnte er ihm nur helfen? Ratsuchend blickte Rex zum Mercurio hinauf, welcher die ganze Zeit über still und bewegungslos an einer näheren Säule verharrt hatte.

Der Wissende regte sich daraufhin und trat still in den Schein des Baumes. "Nun …", er legte die dürren Fingerspitzen aneinander und guckte auf den Prinzen hinab, welcher in­folgedessen stirnrunzelnd zu ihm aufsah, "Wie mir scheint, wird dieses Vorkommnis nicht ohne Opfer gelöst werden können."

Sacris sagte nichts. "Eure Freundin Celine wird offensichtlich sterben", führte der Mercurio sachlich aus, "und Euer Freund Lewyn höchstwahrscheinlich ebenso – wenn man die Statistiken bezüglich aller Aufbrüche zum Feld der Himmelsspeere betrachtet. Und Ihr …", der königliche Berater hielt inne und musterte den jungen Mann mit einem äußerst rätselhaften Blick, "Ihr wart vernünftig genug, ihm nicht zu folgen, und somit Euer Leben und das des ganzen Königshauses Faryen zu verschonen."

Die trockenen Worte des Wissenden ließen die Miene des Prinzen düster werden. Eine immer größer werdende Antipathie dem Mercurio gegenüber machte sich in ihm bemerkbar. "Des Weiteren", fuhr Hal ruhig fort, "hätte ein fremdes Eingreifen in die Reise Eures Freundes, wie Ihr bereits richtig festgestellt habt, den Tod Eurer Freundschaft zum Opfer – was sich für Euch unter Umständen als noch schlimmer erweisen könnte als sein tatsächliches Ableben selbst."

Sacris hatte mit einem Mal alle Mühe, sich zu beherrschen und nicht einfach aufzustehen, um den königlichen Berater zum Schweigen zu bringen. Er wollte es nicht hören! Es brachte nichts! Nichts außer Schmerz! Doch behielt der junge Mann auch weiterhin seine Fassung und schaffte es, dem eindringlichen Blick des Mercurios selbstsicher standzuhalten – zähneknirschend.

"Ihm ab der Grafenstadt Henx weitere Einheiten zur Seite zu stellen", setzte Hal gelassen fort; und seine Stimme bildete einen absoluten Kontrast zur negativen Spannung, die in ihrem intensiven Blickkontakt lag, "würde lediglich zur Folge haben, dass nur noch mehr Menschen ihr Leben für eine aussichtslose Reise opfern – wenn man die Statistiken bezüglich aller Aufbrüche zum Feld der Himmelsspeere betrachtet."

Und so schloss der Wissende kühl kalkulierend: "Die geringste Anzahl an Opfern würde somit durch die Aufrechterhaltung des Status quo gewährleistet."

Der nüchterne Vortrag des Mercurios über die Verluste im Zusammenhang mit Lewyns Vorhaben war nicht gerade das gewesen, was sich der König erhofft hatte; so fürchtete er, dass dieser nur mehr Schaden angerichtet als geholfen hatte. Tatsächlich bemerkte er, dass sein Sohn den Worten des Wissenden mit wenig Begeisterung begegnete.

Sacris starrte den kahlköpfigen Mann über sich unbeirrt und über alle Maßen finster an. "Ach, wirklich …?", ging er grimmig auf seine Worte ein, "Nun, stellt Euch einmal vor, dass ich all das schon gewusst habe. Vielen Dank für die Darlegung des ohnehin schon Offensichtlichen!", und er deutete erst auf sich und danach auf ihre Umgebung, "Was meint Ihr denn bitte, warum ich mich gerade hier befinde? Und warum ich auch nichts weiter unternommen habe, um Lewyn in der Ferne aufzuhalten oder anderweitig mit Truppen zu unterstützen?"

Der Prinz stand ruhig auf, ohne den Blickkontakt zum Mercurio zu unterbrechen, und fuhr nahtlos fort: "Und damit Ihr auch noch jenes wisst, 'Wissender': Es war Lewyn selbst, der bereits von vornherein jede Hilfe meines Vaters abgelehnt hat – da ihm offenbar klar gewesen ist, wie unglaubwürdig das alles auf andere wirken musste. Immerhin hat er es noch nicht einmal geschafft, mich, seinen besten Freund!, davon zu überzeugen."

Sacris kniff seine Augen unmerklich zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. "Tut also bloß nicht so, als würden Eure 'Ratschläge' zu irgendetwas nütze sein!", er rümpfte flüchtig die Nase, während seine Stimme mehr und mehr zu einem Zischen wurde, "Ihr redet viel und wisst …", er nickte verbittert, "… ja, wisst gewiss noch wesentlich mehr als Ihr nach außen hin preisgebt. Aber Eure Zunge ist ungezügelt und scharf, nimmt weder Rücksicht auf Gefühl noch Zustand desjenigen, mit dem Ihr sprecht; so rate ich Euch dringend, in Euren 'allumfassenden Büchern' nachzuschlagen, was es mit den Begriffen 'Taktgefühl' und 'Mitleid' auf sich hat."

Der König beobachtete die Reaktion seines Sohnes ernst und nachdenklich … Sacris bot dem Mercurio offenkundig die Stirn und wirkte im Vergleich zu all den anderen Menschen völlig unbeeindruckt von dessen autoritärem Auftreten. Der Wissende hatte während der Tirade des Prinzen eine Augenbraue gehoben und seinen Blick ebenso beherrscht erwidert wie er ihn von dem jungen Mann empfangen hatte. Sowohl der König als auch der Berater schwiegen.

"Wenn Ihr nichts mehr zu sagen habt, werde ich mich nun zurückziehen", endete Sacris knapp und nickte seinem Vater kurz zu, bevor er sich auf dem Absatz herumdrehte und den Thronsaal verließ. Der Mercurio sah ihm mit einem still interessierten Blick nach. Der König seufzte.

Sacris ging zielstrebig auf sein Zimmer zurück und war innerlich erleichtert, keinen weiteren ungewünschten Personen auf dem Weg begegnet zu sein. Als er in seinen Gemächern an­gekommen war, griff er nach dem Wasserglas vom Silbertablett und trank daraus einen kleinen Schluck. Im Vorbeigehen langte der Prinz dann noch nach einer belegten Brotscheibe, biss in diese hinein und ging damit im Mund weiter zum Stuhl neben seinem Bett hinüber. Er nahm das darum gehangene Schwert, gürtete es sich routiniert um, kehrte dabei wieder zum Tisch zurück – und biss nun endlich erstmals ein Stück von seinem Brot im Mund ab. Nachdem er es mit einem weiteren Schluck Wasser hinuntergespült hatte, verließ der dunkelhaarige Mann den Raum auch schon wieder.

Sacris war das Ganze zuwider: Er hielt es nicht aus, erleben zu müssen, wie der ganze Adel Jahr um Jahr immer dekadenter wurde. Seit Frieden im Reich herrschte, kam es dem Prinzen vor, als wäre jeder Mensch, der es sich leisten konnte, dem Genuss und Amüsement verfallen. Zu ihren immer ausfallender werdenden Aufzügen kam nun hinzu, dass er zunehmend auf betrunkene Adlige im öffentlichen Teil des Palastes traf, auch wenn Sacris zugeben musste, dass ihn bisher noch niemand auch nur im Ansatz so ungehemmt angefallen hatte wie die Weibsbilder im Säulengang vorhin.

Die Menschen hatten sich vorrangig an den Küstengebieten des südlichen Gebirges bis hin zu den Wüsten von Rayuv ausgebreitet. Sie handelten hauptsächlich über Hafenstädte und Schiffe, da das Landesinnere weitestgehend unbewohnt war und es kaum zugängliche Pässe gab, welche über die hohen Gipfelkämme der Berge führten.

Die Menschen fürchteten die Einsamkeit des Gebirges des Grauens. Nur wenige Pflanzen und Tiere vermochten in jener Ödnis zu überleben – und man erzählte sich von einem unvorstellbaren Schrecken, der dort wohnte: einem Grauen, welches Mark und Bein erschüttern ließ. Niemand verlor auch nur ein Wort darüber, was einem in der Abgeschiedenheit jener Berge begegnen mochte; doch mied ein jeder sie wohl wissend, dass sie gleich dem Feld der Himmelsspeere ein Ort ohne Rückkehr waren.

Es gab vier mächtige Grafenhäuser, welche die Pfeiler des Menschenreiches darstellten: Henx, Lun, Xorn und Kayran. Jedes von ihnen verfolgte einen eigenen Kodex und hielt bestimmte Werte und Prinzipien für heilig. So verkörperten die vier Grafenhäuser gänzlich unterschiedliche Ansichten von Kultur, Wissenschaft und Moral und hatten ihre Rivalitäten unter­einander nie ganz abgelegt. Allerdings gab es mit der Herrschaft König Faryens III seit Ewigkeiten erstmals wieder ein vereintes Reich – und dass dies mit dem plötzlichen Auf­tauchen der Wissenden zu Beginn seiner Regentschaft zusammenhing, war ein offenes Geheimnis.

Das Königshaus Faryen hatte seinen Sitz in Hymaetica Aluvis, der Hauptstadt der Menschen, während die Grafenhäuser Henx, Lun, Xorn und Kayran in ihren gleichnamigen Städten residierten.

Die Menschen jenseits dieser fünf Großstädte waren meist eher einfach gestrickt und lebten von Viehzucht und Landwirtschaft. Über die Jahrhunderte hinweg hatte sich ein starker Ahnenkult manifestiert, der ohne geistliche Führungspersonen in Tempelanlagen praktiziert wurde. Dabei wurden die Verstorbenen rituell in dem Glauben verbrannt, dass ihre Lebenserfahrung in den Baum der Väter einging und zur Weisheit für die Könige wurde.

Die Kriegerfestung Henx war die einzige Grafenstadt, welche sich nicht an der Küste zum Ozean der Träume befand. An der Quelle des Tical auf dem Pass zur Senke des Schicksals gelegen sorgte Henx für die Sicherheit des Reiches – indem es die beständig von außen einfallenden Exenier-Horden am Großen Wall zurückschlug. Da die Grafenstadt Henx als Festungsanlage zwischen zwei Bergen errichtet worden war, stellte sie die nördliche Bastion gegen die hereinfallenden Anderwesen vom Norden, Osten und Westen her dar.

Henx besaß die am besten ausgebildeten Truppen des ganzen Menschenreiches und hatte sie bei Weitem auch am häufigsten einsetzen müssen. Entsprechend wies der Graf von Henx einen unübertroffenen, militärischen Erfahrungs­schatz auf; sodass es niemanden wunderte, dass er zugleich der Oberbefehlshaber der menschlichen Armee war. Die Grafschaft Henx hatte dem König seit jeher treu gedient und ihre Krieger dienten als Hüter des Gesetzes im ganzen Menschenreich.

Die Berge, zwischen denen Henx eingebettet lag, flankierten den Fluss Tical zur Meeresmündung im Ozean der Träume, wo die Hauptstadt der Menschen Hymaetica Aluvis lag.

Folgte man von der Hauptstadt aus der Küste in den Süden, so traf man zuallererst auf die Grafschaft Lun am Ansatz des Drachenrückens – einem sichelförmigen Bergkamm, welcher in den Ozean hineinführte. Dabei handelte es sich um das Ende des Gebirges des Grauens, das sich fernab der Küste in den Tiefen des Meeres zerlief. Der Gebirgskamm unterteilte das Menschenreich in den fruchtbaren Norden und kargen Süden, da es die Meeresströmungen umlenkte und den Niederreichen dadurch ein trockenes Klima bescherte.

Lun war eine verhältnismäßig kleine Grafschaft und bildete den Handelsknotenpunkt zwischen dem Norden und dem Süden. Durch seinen hohen Zoll war Lun auffällig wohlhabend und reich an Schätzen. Seine Bewohner verstanden es, ihren größtmöglichen Profit aus einer jeden Situation zu ziehen, und dabei eher selten Rücksicht auf ihre Geschäftspartner und Mitmenschen zu nehmen.

Doch der Handel und Wohlstand stellten nur einen Bruchteil der Kultur Luns dar. Die Luniden waren in erster Linie Schön­geister, Dichter und Künstler. Wo das Wesen der Henxer vom Kampf um die Gerechtigkeit bestimmt war, so bestand das Wesen der Luniden aus der Liebe für Ästhetik, Kultur und Sinnlichkeit. Entsprechend groß war jedoch auch der Schatten der Dekadenz und Intriganz, den Lun mit sich brachte; und ein jeder wusste, dass Vorsicht geboten war, wenn man mit Luniden umging – denn sie waren Meister des falschen Spiels.

So undurchsichtig und listig die Luniden waren, so klar und aufrichtig waren die Xorniden. Die Grafenstadt Xorn lag südlich von Lun in der Drachenbucht und war als zuletzt rettender Anker von großer Bedeutung für viele Seefahrer, welche von den unberechenbaren Wirbeln des Drachenrückens heim­gesucht wurden.

Xorn war vergleichsweise arm und bildete den direkten Gegensatz zur Grafschaft Lun, da seine Menschen nicht im Geringsten auf materiellen Reichtum aus waren und das einfache Leben und die Familie schätzten. Xorn war die Stadt der talentierten Handwerker und tüchtigen Arbeiter. Durch die in ihren Gewässern auftretenden 'Drachenwirbel' waren die Xorniden allerdings ebenso dafür bekannt, ungeschlagen in Schiffstechnik und Seefahrt zu sein. Ihre Navigatoren zählten zu den geschicktesten und zuverlässigsten des Reiches und wurden häufig mit der Überfahrt wichtiger Frachten beauftragt.

Den Menschen Xorns sagte man allgemein nach, dass sie ihr Herz am rechten Fleck trugen und viel Wert auf praktisch Verwertbares legten – sodass sie als Bezahlung lieber ein gebratenes Schwein auf dem Tisch als eine Münze im Geld­beutel sahen.

An der Küste in den Ausläufern des Gebirges zur Wüste hin lag schließlich Kayran. Jene Grafenstadt war für ihre Wissenschaft und Forschung bekannt. Viele Gelehrte und Meister arbeiteten dort im direkten Auftrag des Königs­hauses – nicht selten unter Beobachtung der Wissenden selbst.

Die Intelligenz und Auffassungsgabe der Kayraner galten als herausragend und allein ihre Errungen­schaften in der Medizin sogar als 'Wunderwerk'. Daher waren sie im ganzen Reich als Heilkundige, auch 'Medici' genannt, zu finden und wurden von den meisten Menschen entsprechend hoch geschätzt.

Doch hörte man im Norden auch von manch anderen Dingen über Kayran und seine wissensdurstigen Forscher – von Dingen, die dem König überhaupt nicht gefielen: von dunklen Ritualen und schwarzer Magie, von Experi­menten mit Menschen, die im Wahnsinn in die Wüsten hinausgetrieben wurden und Wochen später völlig verändert zurückkehrten …

– Das gewöhnliche Volk galt dort allerdings als besonders abergläubisch, so sah man in solcherlei Aussagen keinen ernsthaften Grund zur Beunruhigung.

Die Hauptstadt der Menschen, Hymaetica Aluvis, vereinte letztlich alle vier Grafenhäuser in sich – sowohl vom Menschen­schlag als auch von den Eigenschaften her, die sie jeweils mit sich brachten. Nur hatte Sacris den Eindruck, als würde Hymaetica zwischen den Fronten eine eigene Identität und Orientierung fehlen. Er dachte an all die klugen Köpfe Kayrans, die tapferen Krieger Henx', die gerissenen Adligen Luns und die fleißigen Handwerker Xorns … und schüttelte den Kopf.

Wie hart und ehrlich arbeiteten die Xorniden für ihr Brot und dachten nicht einmal im Entferntesten daran, ihre Mitmen­­schen auf dieselbe Art und Weise auszunutzen, wie es ihre Nachbarn aus Lun taten. Ja, diese verdammten Luniden …!

Der Prinz ließ ein zynisches Schnauben hören, während er durch die verlassenen Gänge des Palastes schritt. Nun, es lag natürlich im Interesse der Luniden, ihre 'Kultur' auch in der Hauptstadt durchzusetzen. Schließlich mussten sie das Geld irgendwo herbekommen, das sie jeden Abend zusammen mit ihren adligen Gesellen aus Kayran in Rausch und Lust ertränkten.

Voller Abscheu stieß Sacris die Tür zu den Hinterhöfen des Palastes auf und schlug den Weg zu den Ställen ein. Wie konnte es eigentlich sein, dass zwei der großen Adelsgeschlechter derart verkommen waren? Erst hatten sich Lun und Kayran gegen den König und seine loyalen Häuser Henx und Xorn aufgelehnt; und nun, wo sie gebändigt worden waren, stürzten sie die höhere Gesellschaftsschicht in den Schmutz! Und dann sollte er, Sacris, auch noch darauf bedacht sein, ihnen nicht negativ aufzufallen?! Pah! Er war doch kein Spielzeug, das alles mit sich machen ließ, was den Herrschaften angenehm erschien …! Er war der angehende König des Volkes und nicht der angehende Lakai des Adels.

Lun und Kayran hatten sich einst gegen Xorn verbrüdert, um erst den Süden und dann die ganze Küste einzunehmen. Jedoch hatten sie die unberechenbaren Strömungen der Drachenbucht fatal unterschätzt; sodass die Truppen Henx' rechtzeitig eingetroffen waren, bevor eine ernsthafte Machtübernahme hatte stattfinden können – zumal Xorns Schiffe wesentlich robuster gebaut und seine Schiffsmänner denen der anderen in den wilden Gewässern weit überlegen waren.

Nach diesem Vorfall hatte Henx einen Teil seiner Armee dem Grafenhaus Xorn überlassen und gemeinsam mit dem Königshaus ein Bündnis geschlossen, um das Reich zusammenzuhalten. Kayran und Lun hingegen hatten sich seither zurückgezogen und suchten ihre Machteinflüsse nunmehr im Verborgenen.

Durch die Anwesenheit der Wissenden hatte sich die Situation zumindest in Kayran wesentlich entspannt; so waren der König und das Volk schließlich auf die Dienste der Medici angewiesen. Des Weiteren kamen sie um eine Zusammenarbeit mit dem Handelsbindeglied Lun ebenfalls nicht herum, da ansonsten der Kontakt zwischen den Ober- und Niederreichen versiegen würde. Folglich hatte König Faryen nichts dagegen einwenden können, dass sie ihren Zoll nochmals erhöht hatten …

Sacris rümpfte die Nase in Missfallen. Diese nichtsnutzigen Parasiten …! Scherten sich einen Dreck um andere, jammerten aber lauthals herum, sobald ihnen etwas nicht passte – schlimmer als Kinder. Er durchquerte einen weiteren, mit Fackeln beleuchteten Innenhof und trat durch eine Gittertür auf eine gepflasterte Straße hinaus, die zu den Stallungen hinter dem Palast außerhalb der Stadt führte.

Zwei henxische Krieger hielten vor den Ställen Wache und grüßten den vorbeikommenden Prinzen mit einem hochachtungsvollen "Wir grüßen Euch, Hoheit!". Der junge Mann erwiderte ihren Gruß mit einem knappen Nicken, betrat den Pferdestall und schritt auf eine der hinteren Boxen zu – in welcher bereits ein großer, schwarzer Hengst aufgeregt hin und her scharrte und es kaum erwarten konnte, bis er endlich bei ihm ankam.

Sacris tätschelte seine dunkle Nase und begrüßte ihn leise: "Na, Concurius, du vermisst Lydia auch, nicht wahr …?", er lächelte traurig, "Komm, lass uns ein wenig ausreiten. Das wird uns beiden gut tun …" Nachdem der junge Mann dem Rappen noch einmal über den Kopf gestrichen hatte, öffnete er die niedrige Tür, ließ Sattel und Zügel an der Wand hängen und verließ neben seinem Pferd schreitend das Gehöft.

Sobald die Wachen sahen, dass das königliche Reittier völlig ungesattelt war, fragte eine von ihnen pflichtbewusst: "Hoheit, soll ich den Stallmeister rufen, damit er das Pferd für Euren Ausflug vorbereitet?" Der Prinz hielt im Gehen inne, drehte sich langsam auf dem Absatz herum und sah den henxischen Krieger mit gehobener Augenbraue an. "Ich bin sehr wohl in der Lage, mein Pferd eigenhändig zu satteln", meinte er kühl und verlieh seinen Worten durch einen vernichtenden Blick unmissverständlich Nachdruck. Infolgedessen räusperte sich die Wache verlegen, entschuldigte sich mit einem "Selbstverständlich, verzeiht, Hoheit!" und nahm wieder ihre Position am Tor ein.

Sacris ging noch einige Schritte weiter, bevor er Concurius über die pechschwarze Mähne strich, … sodass jener stehenblieb und darauf wartete, dass er sich auf ihn setzte. So begab sich der Prinz in einer schwungvollen Bewegung auf den Rücken seines Rappen und ließ seine Hände zu beiden Seiten des kräftigen Halses ruhen. Dann gab er ihm mit einem leichten Druck der Fersen zu verstehen, dass er bereit war – was sich Concurius nicht zwei Mal sagen ließ und über die mondbeschienenen Weiden davongalloppierte.

Es war eine klare Sommernacht. Der junge Mann hatte sich flach auf seinen Hengst gelegt und gab mit den Händen in dessen Mähne nun ihre grobe Richtung vor. Dabei ließ er seinen Rappen den Weg ohnehin fast gänzlich frei wählen; so mied Concurius von sich aus die Stadt und das war ihm im Moment nur recht.