Kitabı oku: «Terra Aluvis Vol. 1», sayfa 7

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Sheena stand unter sichtlicher Anspannung und zuckte bei jedem Schrei zusammen, während sie die Handgriffe des langhaarigen Mannes mit gebanntem Blick verfolgte. Sofort nachdem der Pfeil entfernt worden war, presste Lewyn das große Tuch auf die nun noch stärker blutende Wunde und wies das Mädchen an, das Andrücken für ihn zu übernehmen. Der Blonde nahm etwas von der Tinktur und tränkte damit ein zusammengefaltetes, kleineres Tuch. Danach ersetzte er den großen, blutgetränkten Stofflappen durch das nasse Tuch und schickte sich dann an, das Bein zu verbinden.

Kayne wimmerte vor sich hin und hatte die Augen schmerz­erfüllt zusammengekniffen, war aber offenbar noch immer zu schockiert, um die Situation wirklich zu begreifen. Nachdem Lewyn die Wundbehandlung abgeschlossen hatte, fasste er ihm wieder prüfend an die nunmehr schweißgebadete Stirn und redete ihm in beruhigendem Tonfall zu: "Schhh, ganz ruhig, gleich sollte der Schmerz nachlassen. Ruhe dich aus." Er stand mit den eben verwendeten Gegenständen auf, legte die Tinktur in die Tasche zurück und sprach, ohne sich Sheena zuzuwenden: "In deiner Nähe sollte eine Decke liegen. Nimm sie und leg sie über deinen Bruder, damit er nicht auskühlt."

Anschließend entfernte sich Lewyn vom Lagerfeuer, nahm den blutigen Stofflappen sowie den Pfeil und wusch sie zusammen mit seinen Händen unter Zuhilfenahme der klaren Flüssig­keit und seinem Wasserschlauch über der Wiese aus. Am Ende breitete er den Lappen in der Nähe des Feuers zum Trocknen aus und legte den Pfeil zurück in seinen Köcher.

Doch der junge Mann blieb nicht bei den Kindern, sondern hielt nun Ausschau nach Lydia. Als er sie nirgends auffinden konnte, pfiff er laut mit seinen Fingern in die Nacht hinaus. Kurz darauf wehte der Wind ein leises Wiehern zu ihm herüber – und schon wenig später zeichnete sich bereits die Silhouette eines schlanken Pferdes gegen den Sternen­himmel ab.

Lewyn kam Lydia entgegen und tätschelte behutsam ihre Nase, bevor er sich zu ihr vorbeugte und besänftigend zuredete: "Na, hast dich ganz schön erschreckt, was, meine Gute …?" Die Stute wieherte zutraulich auf und trabte kurz auf der Stelle, bevor sie wieder ruhig wurde. Der junge Mann lachte leise, ehe er eine Hand an ihre Seite legte und sie vom Lagerfeuer fort führte.

Nach einer Weile blieben sie an einem weich abfallenden Wiesenhang stehen, der einen weiten Ausblick in die Ferne zurück Richtung Westen bot. Schwer seufzend setzte sich der Blonde auf die Erde und stützte die Hände hinter seinem Rücken ab, um zu den hellen Sternen über ihnen hinauf­zublicken. Sie waren wunderschön … Auch der Schimmel ließ sich nun gemächlich neben ihm im Gras nieder und schnaubte müde vor sich hin, während sein Schweif ab und zu aufpeitschte. Lewyn fuhr mit seinen Fingern durch die weiße Mähne der Stute, lächelte und lehnte sich dann seitlich an sie an. "Ach, Lydia, wenn ich dich nicht hätte …" Er seufzte erneut und schaute wieder zum klaren Nacht­himmel auf …

"Wie war sie …?", ertönte es plötzlich kleinlaut hinter ihnen. Der junge Mann wandte seinen Kopf zur Seite und sah, dass das fremde Mädchen einige Schritte von ihm entfernt im Gras stand und ihre Hände knetete. Sie fühlte sich offen­sichtlich unwohl … Lewyn hob eine Augenbraue, legte die Stirn in Falten und blickte wieder zum Himmel hoch. Dann erwiderte er nachdenklich: "Celine gehört zu den gut­mütigsten Menschen, die mir je begegnet sind …" Er vernahm ein leises Rascheln, bevor er merkte, wie sich Sheena neben ihn ins Gras setzte.

Als der Blonde aber nichts weiter von sich gab, begann das Mädchen, ihn zum ersten Mal genauer zu betrachten: seine langen Wimpern, seine schmale Nase, seine geschwungenen Lippen, sein rundes Kinn … Die kurzen Strähnen seiner hellen Haare umspielten sein schlichtweg schönes Gesicht im Wind, während die längeren Strähnen nur vereinzelt träge hin und her flatterten. Sheena fand allerdings, dass die Augen des jungen Mannes – sofern sie nicht gerade von fliegenden Haaren verdeckt wurden – irgendwie furchtbar einsam in die Ferne gerichtet waren …

"Sie bedeutete dir sehr viel, nich' wahr?", wagte das Mädchen zaghaft die Stille zu durchbrechen. "Hör bitte auf, von ihr zu sprechen, als sei sie schon tot!", zischte Lewyn plötzlich und warf ihr einen harschen Blick zu, ehe er sich wieder abwandte. Sheena zuckte betroffen zusammen und traute sich, kein Wort mehr zu sagen.

Nach einer längeren Zeit unangenehmen Schweigens wollte sich die junge Frau gerade wieder erheben, als der Blonde völlig unvermittelt in wesentlich sanfterem Tonfall zu erzählen begann: "Sie ist immer wie eine Schwester für mich gewesen … Meine Eltern haben Celine nach dem Tod ihrer Mutter bei uns aufgenommen – auch wenn sie darauf bestanden hat, das Hand­werk ihrer Mutter fortzusetzen und auf eigenen Beinen zu stehen …", der junge Mann atmete wehmütig aus und fuhr sich durch die offenen Haare, "Sie will stets den Menschen helfen, wie es ihre Mutter ihr Leben lang getan hat. Die Menschen in ihrer Siedlung lieben sie dafür. Sie hat die Kranken geheilt und den Schwachen geholfen, ganz ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Standes – einfach nur geholfen, wo sie konnte …"

Sheena hatte sich wieder gesetzt und lauschte seinen Worten still angespannt. "Sie ist stark und hat so viel von ihrer Kraft an ihre Mitmenschen abgegeben, dass ich sie einige Male habe davon abhalten müssen, sich ganz in ihrer Arbeit und Hingabe zu verzehren!", Lewyn schüttelte nieder­geschlagen den Kopf, "Eine sehr ungesunde Leidenschaft …" Er lachte kurz auf und ergänzte traurig: "Frech und eigensinnig ist sie aber wie keine andere …! Und so lebendig und auf­geweckt, doch gleichzeitig sanftmütig und einfach … einfach herzensgut …"

Dann verschwand das Lächeln des jungen Mannes jedoch und er senkte sein Haupt, dass die Haare gänzlich seine Augen verdeckten. "Und ausgerechnet sie …!", meinte er kaum hörbar, "Das hat sie nicht verdient …! Niemand hat es so wenig verdient wie sie – so selbstlos, wie sie ihr Leben geführt hat …!" Lewyn ballte seine Hand zur Faust. "Ich bereue es, dass ich in letzter Zeit so selten bei ihr gewesen bin, … mich kaum noch um sie gekümmert habe, auch wenn sie schon längst selbstständig genug ist, dass sie mich ohnehin nicht mehr braucht …!"

Der junge Mann wandte seinen Kopf ein wenig in Sheenas Richtung, jedoch nicht weit genug, als dass sie seine Augen hätte sehen können. Dabei öffnete er seine Faust und hielt sie vor sich. "Als mein Vater auf dem Sterbebett lag, hat er meine Hand erfasst und gesagt: 'Nun liegt es an dir, dich um sie zu kümmern und dafür zu sorgen, dass ihr nichts passiert – Mein Sohn, beschütze sie, denn sie ist unser größter Schatz. Beschütze sie, was es auch kosten mag. Beschütze sie, … denn ohne sie … sind wir …'"

Lewyns Stimme war zum Schluss hin immer leiser und schwächer geworden. Er stützte die Stirn auf seinem Unterarm ab, sog die kühle Luft der Nacht ein und sprach nun etwas bestimmter: "Er hat den Satz nie zu Ende gebracht. Und ich habe das Gefühl, die vollständige Bedeutung seiner Worte bis heute nicht verstanden zu haben …"

Als der Blonde jedoch versuchte, genauer darüber nachzudenken, begannen seine Gedanken plötzlich wirbelartig um seinen Geist herumzuschwirren; und er erkannte das beun­ruhigende Gefühl wieder, sich in einem starken Sog zu befinden, dem er nicht entfliehen konnte …

Das Gesicht seines Vaters erschien, während jener ihm die letzten Worte nochmals mitteilte … Celines unbeschwertes Lachen in der Ferne … Das eigenartige Gefühl, als seine Hand die Finger jenes Jungen berührte … Sacris' verzweifeltes Gesicht, während er auf ihn einredete, um ihn von seiner Reise abzuhalten! – Der geheimnisvolle Ausdruck in den Augen jenes Jungen – Sacris, wie er mit wehendem Mantel in der Menge verschwand …

Stille um ihn herum. Leises Kribbeln. Da war mehr. Er wusste es.

Lewyn schrak auf, als ihn etwas heftig an der Schulter schüttelte. Als er die Augen öffnete, begegnete ihm das besorgte Gesicht eines zerzausten Wildschopfes. "Shee…na …", murmelte er und blinzelte einige Male. Lydia lag nicht mehr auf dem Boden, sondern trabte unruhig auf der Stelle. Er saß seltsamerweise auch nicht mehr, sondern befand sich rücklings im Gras. Seine Hände zitterten.

Der Blonde schüttelte heftig den Kopf, atmete einmal tief durch und stand auf. "Was … w-was war das gerade …?", hörte er das Mädchen unsicher fragen. "Was war 'was'?", entgegnete Lewyn abgewandt und versuchte, sich von seiner Aufgewühltheit nichts anmerken zu lassen. "Na … n-na, das eben …! D-du hast geredet un' dann warste auf einmal ganz still, un' ... un' dann haste dich gekrümmt und mehrmals gezuckt wie wild u-un' bist dann einfach nach hinten umgekippt u-un' ich weiß nich'!"

Lewyn warf ihr einen flüchtigen Blick zu, ehe er sich zu der Stute wandte und ihr betont langsam über den Rücken strich. "Ich weiß nicht, was mit mir geschieht …", sprach er dann leise. Das Mädchen trat vorsichtig näher. "B-bist du krank oder so? Es … 's gibt bestimmt irgendwas, um das z-" Doch der junge Mann wandte sich jäh um und unterbrach sie mit erhobener Hand und festem Blick. "Gute Nacht, Sheena. Unser Gespräch ist hier beendet. Ruhe dich aus, denn morgen werden du und dein Bruder zur Hauptstadt der Menschen aufbrechen." Lewyn ließ seine Hand wieder sinken und stieg auf sein Pferd auf. Er klopfte Lydia auf den Hals und machte Anstalten, loszureiten.

Das Mädchen stand mit geöffnetem Mund vor ihnen und wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Aber gerade, als der junge Mann seiner Stute einen leichten Druck mit den Fersen versetzt hatte, rief sie ihm zu: "Wie … w-wie heißt du überhaupt?" Das Pferd kam wenige Schritte von ihr entfernt wieder zum Stehen, während sich der Umriss ihres Reiters dunkel gegen den Mond abzeichnete. "Lewyn", meinte er nur knapp und ritt von dannen.

Der Geruch von gebratenem Fleisch ließ Sheena mehrmals verwundert schnuppern, bevor sie – noch ein wenig verschlafen – ihre Augen öffnete … Leicht geblendet von der Morgensonne erblickte sie die Gestalt eines jungen Mannes, welcher gerade mehrere Fleischstücke über einem Lagerfeuer röstete. Wer um alles in der- … Aber dann erinnerte sie sich wieder an alles und saß auf einmal kerzengerade auf ihrer Decke. Moment, Decke? Sie hatte beim Einschlafen keine gehabt, woher denn auch …?! Ein wenig verlegen räusperte sich das Mädchen und suchte nach Worten.

Lewyn bemerkte, dass sie wach geworden war, und wandte sich gelassen zu ihr um. "Guten Morgen." Sheena, welche ihn zum ersten Mal bei Tageslicht erblickte, war sprachlos. Ihr Mund war zwar zum Sprechen geöffnet, doch kam wie in der Nacht zuvor kein Laut über ihre Lippen. Er war … schön. Sie war fasziniert von diesen kristallblauen Augen und ihrem so tief gehenden Ausdruck …! Und … und diese Haare erst …! Wie flüssiges Gold tanzten sie im Sonnenlicht und schienen so weich wie Samt …

"Stimmt etwas nicht?", riss sie der junge Mann aus den Gedanken. "I-ich …", Sheena zupfte unbewusst an ihren eigenen, verfilzten Strähnen und merkte, wie sie rot wurde. Plötzlich wehte allerdings ein besonders deftiger Fleischduft zu ihr herüber und ein unmissverständliches Knurren durchbrach die peinliche Stille, "… ich h-hab' Hunger, hehe." Sie lachte verlegen und kratzte sich am Hinterkopf, während ihr Gegenüber ein leichtes Schmunzeln sehen ließ.

Lewyn drehte sich wieder zum Feuer hin, nahm eines der drei Stöcke aus dem Boden, auf denen das Fleisch aufgespießt worden war, und hielt es ihr mit einem höchst amüsierten Grinsen hin. "Hier, iss", meinte er vergnügt, "Bevor dein Bruder noch durch die Hungerschreie deines Magens aufwacht …" Sheena plusterte sich in Empörung auf, nahm den Stock dann aber still entgegen und begann, davon zu essen.

Der Blonde indes stand auf, ging zum Waldrand und holte eine Hand voll mittelkleiner Äste, die er anschließend neben sich ins Gras fallen ließ, um sie einzeln nach und nach ins Feuer zu geben. "Wo hast du eigentlich so gut Schießen gelernt?", fragte er auf einmal mit einem Kopfnicken zur Armbrust in ihrer Nähe. Das Mädchen verschluckte sich beinahe, als sie das implizierte Kompliment vernahm, fing sich aber, kaute zu Ende und antwortete: "Naja … Mein Vater is' immer mit mir jag'n gegang'n. Nur irgendwie find' ich hier, seit er weg is', kaum noch wilde Tiere zum Erleg'n …!" Ihr Blick fiel dabei auf das angebissene Stück Fleisch in ihren Händen … und sie verstummte. Offensichtlich hatte ihr Gegenüber keine Probleme diesbezüglich gehabt. Sheena seufzte resigniert, ließ ihre Schultern hängen und fügte hinzu: "Vielleicht mach' ich auch einfach was falsch …"

Da musste Lewyn lachen. "Das passt nun überhaupt nicht zu dir: Eine Wildkatze wie du würde doch niemals so leicht aufgeben!", und er blinzelte ihr zuversichtlich zu, "Du hast noch viel Zeit. Irgendwann bekommst du den Dreh sicher raus."

Das Mädchen bemerkte fasziniert, dass der junge Mann tatsächlich in der Lage war, sogar von innen heraus zu strahlen. Sie war vom Ausmaß seiner Ausdrucksfähigkeit einfach überwältigt. Bis auf Kayne und ihren Vater war Sheena ansonsten nur Menschen begegnet, die sie eiskalt abgewiesen und fortgeschickt hatten. Und hier saß sie auf einmal zusammen mit ihrem Bruder und diesem Menschen – den sie noch vor wenigen Stunden hatte mehr tot als lebendig sehen wollen! – und aß das Essen, welches ebendieser Fremde ihr gegeben hatte. "D-danke …", stammelte die junge Frau plötzlich. Es war für sie so ungewohnt, dieses Wort zu sagen …! Und ihr erwachsenes Gegenüber antwortete lediglich mit einem stillen Lächeln, welches sofort einen weiteren Hauch von Röte in ihr mädchenhaftes Gesicht zauberte.

Anschließend stand Lewyn auf und ging zu Kayne hinüber. Er überprüfte seine körperliche Verfassung und den Zustand seiner Wunde: Der Junge hatte leichtes Fieber, befand sich aber ansonsten in einem stabilen Zustand. Die Wundheilung war ebenfalls vorangeschritten, die Blutung zumindest gestillt. Der Blonde rief das Mädchen zu sich, damit sie lernte, einen Verband zu wechseln. Sie folgte seinem Ruf und saß im Handumdrehen neben ihm im Gras. Der junge Mann verwendete erneut etwas von der Tinktur zur Schmerzlinderung sowie Entzündungshemmung der Schusswunde und wies Sheena Schritt für Schritt an, ihrem Bruder zu helfen; schließlich würde sie ihn die nächsten Tage alleine weiterpflegen müssen.

Während sie den Jungen verarzteten, wachte jener auf und gab einen zischenden Laut von sich. "Au, tut das weh …" Kayne hielt sich die Hand vor Augen, da ihn die Sonne blendete und er nichts um sich herum erkennen konnte. "Bruder …!", hörte er seine Schwester neben sich rufen. Als ihm seine Lage allmählich zu dämmern begann, schreckte Kayne nicht minder überrascht wie Sheena zuvor hoch – oder … versuchte es zumindest. In der Hälfte seiner Bewegung schrie er jedoch schmerzerfüllt auf und wurde sofort mit sanfter Gewalt zurück in die Decke gedrückt.

"Bleib ruhig liegen, dir wird nichts mehr passieren", sprach Lewyn besänftigend. "Mein Bein … m-mein Bein tut so weh …!", ächzte der Junge und griff nach seinem Oberschenkel. Als er den Verband sah, erschrak er und sah mit ängstlich aufgerissenen Augen zu Sheena. "Keine Sorge, Kay, du wirst im Nu wieder gesund werd'n un' bald wieder putzmunter sein!" Seine Schwester lächelte ihm aufmunternd zu.

Der Blonde vergewisserte sich, dass der Verband richtig saß, und holte dem Verletzen etwas zu trinken. 'Im Nu gesund werden', ts …! Und er schüttelte den Kopf. Es würde zahlreiche Wochen, gar Monate dauern, bis der Junge wieder halbwegs laufen konnte. Doch es war richtig von dem Mädchen, ihrem Bruder Mut zu machen.

Lewyn selbst machte sich allerdings Vorwürfe, in der letzten Nacht so schnell gehandelt zu haben. Doch in jedem ernsten Überfall wäre ein Zögern seinerseits tödlich gewesen. Nun gut, es war auch ein ernster Überfall gewesen; das Mädel hätte ihn schließlich beinahe erschossen. Der junge Mann sah zu den Kindern hinüber, hörte, wie sie sich angeregt unterhielten, und schüttelte erneut den Kopf …

Er hatte nicht das Gefühl, dass sie irgendjemanden auf dem Gewissen hatten – dafür waren sie viel zu unbeschwert. Vielmehr hegte Lewyn den Verdacht, ihr erstes Angriffsopfer gewesen zu sein. Andererseits war dies eine offizielle Handelsroute … Vielleicht hatten die beiden den ein oder anderen unvorsichtigen Bauern oder Händler überfallen, der gerade mit seinem Güterkarren auf dem Weg in die Stadt gewesen war. Wie dem auch sei. Solch ein Leben war falsch. Es war an der Zeit, dass ihnen jemand den Weg wies. Und dafür war die 'Zuflucht der Suchenden' ein guter Anfang.

Lewyn kannte einen Pferdezüchter in der Umgebung der zweiten großen Handelsbrücke, welche über den Tical zurück zum anderen Ufer – und damit nach Rafalgar – führte. Sein Pferdehof lag gut sichtbar für alle Reisenden in der Nähe des Handelsweges auf einer lichten Wiese mitten im Wald. Viele Händler und Botschafter ließen ihre Reittiere dort rasten und mieteten sich ausgeruhte Pferde für den weiteren Teil ihrer Reise, um auf dem Rückweg wieder ihre erholten Tiere mitzunehmen.

Das warme Sonnenlicht ließ die Wiese aus dem kühlen Schatten der Bäume heraus hell erstrahlen, während die unterschiedlichsten Pferde galoppierend durch das Gras tollten und dabei glücklich wieherten. Lydia wurde von der Freude ihrer Artgenossen spürbar angesteckt, denn sie schien es auf einmal sehr eilig zu haben, zu ihnen zu stoßen – ja, Lewyn musste sie am Zügel haltend daran hindern, die zwei Jugendlichen aus Versehen von ihrem Rücken zu werfen! Diese schienen von der Idylle dieses Ortes allerdings nicht minder begeistert; so rief Kayne aufgeregt: "Sieh, Schwester, dort!"

Ein schwarzes und weißes Pferd bäumten sich mit freudigem Wiehern voreinander auf und wichen dann jeweils zu den Seiten hin aus, bevor sie kreisförmig umeinander trabten und ihre Köpfe ab und zu aneinander rieben. "Werden wir den ganzen Weg zur Hauptstadt auf solchen Pferden reiten?", fragte Sheena begeistert. Lewyn lachte und erwiderte: "Ja, ansonsten würdet ihr ja ewig unterwegs sein, zumal dein Bruder nicht laufen kann." Er warf dem Jungen einen prüfenden Blick zu, doch jenem schien es bestens zu gehen. Die Aufregung bezüglich ihrer bevorstehenden Reise in die größte Stadt der Menschen schien ihn genug von seiner Verletzung abzulenken, dass er sogar unbeschwert lachen konnte. Das beruhigte den Blonden und bestätigte ihn in seinem Entschluss, diesen Kindern eine bessere Zukunft zu geben.

Als sie am Zaun angekommen waren, der das gesamte Gelände umfasste, öffnete Lewyn das Tor und hielt Ausschau nach dem Pferdehalter. Einige Reittiere waren zu ihnen gekommen und begrüßten die ihnen wohlbekannte Stute schnaubend, welche freudig ihre helle Mähne hin und her schüttelte. Die fremden Pferde wiederum hatten sich zurückgezogen und musterten die Neuankömmlinge neugierig bis misstrauisch.

"Na, wenn das mal keine Überraschung is' …!", rief eine tiefe Stimme plötzlich vom anderen Ende der Wiese zu ihnen herüber, wo sich ein größerer Stall befand. Ein stämmiger und hochgewachsener Mann trat aus dem Schatten jenes Gebäudes hervor und kam ihnen gelassen entgegen. Er trug nur eine halblange Hose und begegnete ihnen ansonsten mit nacktem, sonnengebräunten Oberkörper. Der junge Mann war kahlköpfig, durch breite Gesichtszüge gekennzeichnet und besaß einen Ohrring, während zwischen seinen Zähnen ein langer Grashalm herausguckte. Trotz seiner auf die Kinder eher Angst einflößenden Erscheinung zeugten seine dunklen Augen von einem warmen Charakter.

"Brey!", rief ihm Lewyn strahlend entgegen und begrüßte ihn mit einem herzlichen Händedruck, "Lange nicht gesehen …! Wie ich sehe, geht es deinen Hufe tragenden Freunden bestens!", und er warf den Pferden auf der Wiese einen bedeutungsvollen Blick zu. Der Pferdehalter erwiderte lachend: "Ja, denen könnt's nich' besser gehen! Die sind aufgeweckter denn je, wie du siehst …!", und er wies einladend zu den Ställen hin, "Aber komm doch erst mal rein und erzähl mir, was ich für dich tun kann." Der dunkelhäutige Mann musterte die Kinder auf der Stute kurz, ehe er über die Weide voranging.

Der vordere Teil des Gebäudes war gänzlich aus dunkleren, groben Holzstämmen errichtet und in zwei Stockwerke unterteilt, während der hintere Teil ein einziger großer Stall war. Die Eingangstür erreichte man über eine Holzterrasse, welche überdacht war und durch zwei schmale Holzsäulen gestützt wurde. Auf ihr stand eine lange, gemütlich wirkende Bank, von der aus man die gesamte Wiese hervorragend überblicken konnte – zumal das Haus erhöht lag und der ganze Hof auf einem leichten Abhang errichtet war.

Lewyn half Sheena, vom Pferd herabzusteigen, bevor er Kayne herunter hob und ihn zur Bank auf der Terrasse trug. Dort setzte er ihn vorsichtig ab und sagte zu den Jugendlichen gewandt: "Ruht euch hier ein wenig aus und genießt die Heiterkeit dieses Ortes. Ich kehre gleich zu euch zurück, nachdem ich mit meinem Freund gesprochen habe."

Das Mädchen weigerte sich jedoch und erwiderte mit geschürzten Lippen: "Ich trau' dem nich' …!" Der Blonde lachte leise und tätschelte ihren dunkelroten Schopf. "Du kannst ihm vertrauen, glaube mir!", und er blinzelte ihr aufmunternd zu, "Bleib lieber bei deinem Bruder und pass auf, dass ihn nicht plötzlich ein 'bösartiges Pferd' anfällt …!" Sheena verengte die Augen in sichtlicher Empörung, sodass der hellhaarige Mann erst recht grinsen musste. Dann setzte sie sich jedoch – wenn auch unter deutlichem Protest – neben ihren Bruder auf die Bank, verschränkte ihre Arme und schmollte vor sich hin. Lewyn schüttelte lächelnd den Kopf, ehe er durch die Haustür schritt und sie hinter sich angelehnt ließ.

Der junge Mann betrat einen ländlich eingerichteten, größeren Raum, der als Wohn- und Speisezimmer genutzt wurde. An einem der grob gearbeiteten, runden Holztische saß Brey bereits und hatte für ihn einen Wasserkrug sowie einen Becher bereit gestellt. Der Blonde setzte sich ihm gegenüber an den Tisch hin und faltete die Hände zusammen. "Also, Kumpel, was gibt's?", begann der Pferdezüchter in munterem Tonfall und beugte sich zu ihm vor, um etwas leiser hinzuzufügen: "Und wer sind eigentlich diese Kinder?"

Lewyn holte tief Luft und begann in gefasstem Tonfall: "Brey, … ich möchte dich um einen Gefallen bitten." Jener war ganz Ohr. "Ich brauche jemanden, der die beiden hier zur Zuflucht nach Hymaetica bringt." Sein Freund dachte gar nicht erst lange darüber nach, sondern erwiderte sogleich: "Wieso kannst du's denn nich' selbst tun? Is' doch nur 'ne Sache von drei Tagen."

Doch da lachte der hellhaarige Mann nur trocken auf und wich seinem Blick aus. "Ich kann es leider nicht tun, tut mir leid …", meinte er unglücklich, "Ich … ich bin in Eile." Brey runzelte daraufhin nachdenklich die Stirn, nickte allerdings und sprach: "Also gut, ich werde mich darum kümm-" – "Un' … un' wer versichert uns bitte", tönte es plötzlich aufgebracht vom Hauseingang her, "dass wa dort auch heil ankomm'n, un' nich' stattdess'n was weiß ich wohin verschleppt werd'n?!" Sheena stand breitbeinig im Türrahmen und wirkte sauer, aber gleichzeitig auch verletzt, dass Lewyn sie einfach so verlassen wollte.

Die beiden Männer schraken aus ihrem Gespräch auf und wandten sich verdutzt zu dem Mädchen um. Kurz darauf brachen beide in vergnügtes Lachen aus. "Was is'n bitte so lustig d'ran?" Sheena stampfte empört auf und stemmte ihre Hände in die Hüften, während sich die Männer amüsiert von ihren Stühlen erhoben. "Sag mal, wo hast du denn diesen Wildfang her? Das ist ja nich' zu fassen …!", meinte der Pferdezüchter lachend und schritt auf das Mädchen zu, welches ihm höchst misstrauisch aus dem Weg ging und stattdessen in wenigen Sätzen an die Seite des Blonden gehüpft kam.

Verwundert blickte Lewyn zu Sheena hinab, welche ihn trotzig und fest entschlossen ansah. "Ich! Will! Mit dir! Geh'n!", rief sie mit allem Nachdruck, den sie aufbringen konnte. Der junge Mann hob die Augenbrauen und wechselte einen überraschten Blick mit seinem Bekannten, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. "Tja, Lewyn, altes Haus, da kann ich wohl nich' mithalten …" Brey schlug dem Kleineren auf die Schulter und nahm eine übertrieben resignierte Haltung ein.

Der hellhaarige Mann kam nicht umhin zu lächeln, doch dieses Lächeln erstarb nach wenigen Augenblicken – und er wurde schlagartig ernst. Der plötzliche Wandel in seinem Gesichtsausdruck stimmte Sheena sofort unruhig. Er legte dem Mädchen eine Hand auf die Schulter und sprach mit umso ruhigerer Stimme: "Dort, wo ich hingehen werde, kannst du mir nicht folgen." – "A-aber wieso'n nich'?", warf sie verzweifelt ein, "Warum sol-" – "Sheena, du darfst mir dorthin nicht folgen", unterbrach sie Lewyn bestimmt, festigte den Druck auf ihrer Schulter und fixierte sie mit einem eindringlichen und bedeutungsvollen Blick, um ihrer Argumentationsreihe von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das Mädchen legte die Stirn in Falten und sah ihn verständnislos und völlig verwirrt an. "Aber warum denn nicht?"

Es kehrte eine anspannte Stille ein, während aller Augen auf den Blonden gerichtet waren. Auch Brey horchte auf, denn er war eigentlich davon ausgegangen, dass Lewyn lediglich auf einem weiteren Botengang zurück zur Grafenstadt Henx war.

So hell die Sonne die Außenwelt erstrahlen ließ, so finster und dunkel wirkte es plötzlich im Inneren des Hauses. Der ganze Vogelgesang und das heitere Wiehern schienen an der geöffneten Türschwelle abzuprallen und nur als dumpfer Geräuschschwall zu ihnen durchzudringen.

Der junge Mann rang sichtlich nach Worten. Er wusste selbst nicht wirklich, wie er es ausdrücken sollte … und ließ es schließlich ganz bleiben. Der Blonde schüttelte nur den Kopf und schloss die Augen. "Lebt wohl", sprach er leise und sanft, nahm die Hand von Sheenas Schulter herunter und wandte sich schließlich zum Gehen. Höchste Beunruhigung zeichnete sich auf dem Gesicht des Mädchens ab, der das Ganze viel zu schnell ging.

Auch seinem Freund behagten die jähen Abschiedsworte nicht, denn so kannte er Lewyn überhaupt nicht. Und dass jener nun ohne ein einziges Wort der Erklärung verschwinden wollte, gefiel ihm erst recht nicht. Als der langhaarige Mann an ihm vorbeiging, ergriff Brey entsprechend seinen Arm und redete auf ihn ein: "He, mach bloß keine Dummheiten, Kumpel. Was hast du vor?"

Daraufhin wandte Lewyn langsam seinen Kopf zur Seite – sodass nur sein Freund allein seinem Blick begegnen konnte – und sah ihn für einige Augenblicke einfach nur still­schweigend an …

Der intensive Ausdruck der Einsamkeit und des Leidens, die Brey in jenen tiefblauen Augen zu Gesicht bekam, schnürte ihm dermaßen die Kehle zu, dass er mehrmals schlucken musste, um den Knoten wieder zu lösen. Es verging ein weiterer Moment bedrückten Schweigens, bis er sich leise räusperte, Lewyns Arm mit einigem Zögern freigab und dabei bedeutsam nickend sprach: "Dann geh … und die Ahnen mit dir."

So kehrte ihnen Lewyn den Rücken zu und verließ sie. Als er aus der Türschwelle herausgetreten war, verharrte er dann noch für einen kurzen Augenblick im Gehen … Der junge Mann wandte seinen Kopf zur Seite, als wollte er noch etwas Letztes sagen – ließ aber auch jenes bleiben und setzte seinen Weg nicht mehr zurückblickend fort.

Lewyn sah Lydia trotz des ganzen Gepäcks auf ihrem Rücken mit ihren Artgenossen herumspielen und dachte einen Moment ernsthaft darüber nach, sie hierzulassen und sich ein anderes Pferd für die Reise zu nehmen. Doch ehe er den Gedanken hatte weiter ausreifen lassen können, war seine Stute schon von den anderen Pferden weggelaufen und schnaubte auf der Stelle

tretend neben ihm, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ihre Reise weiterging. Der Blonde lächelte traurig und schlug seiner treuen Gefährtin sanft gegen die Seite, bevor er schwungvoll auf ihren Rücken aufstieg und mit ihr davonritt.

Ein weiterer Ort, der mit schönen Erinnerungen verbunden war, lag nun endgültig hinter ihm. Seine Füße schienen aus Blei zu sein, so schwer fiel es Lewyn, Abschied zu nehmen; denn je weiter er kam, desto stärker wurde das Gefühl in ihm, einen Weg ohne Wiederkehr gewählt zu haben. All die Menschen, denen er begegnet war, und all die Freunde, mit denen er so viel Zeit seines Lebens verbracht hatte – all dies verblasste einfach im Nichts.

Im Nichts des Wirbels. Im Wirbel der Erinnerung.

Im Wirbel des Vergessens.

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