Kitabı oku: «Herr über Leben und Tod bist du», sayfa 3
Der längste Tag
Fett kochte. Er ärgerte sich über Schmelzer, darüber, dass ihre Abteilung immer die Fälle mit Geschichte bekam, immer diese Vergangenheit, der Zweite Weltkrieg. Es hörte nicht auf, es hörte nie auf. Nun kam die Enkelgeneration, und auch die hatte offene Rechnungen. Eugen Kaltenbach, 75 Jahre, alleinstehend, klettert im Dunkeln auf den Krawutschketurm, geht jeden Morgen hinauf. Kann ein Täter rausfinden. Kaltenbach schaut in den Westen, steht am Rand der Brüstung, peng, Kopfschuss, sofort tot. Schütze steigt hinterher, sticht sieben Mal zu und verschwindet. Muss ein guter Schütze gewesen sein. Schmelzer sollte prüfen, wer aus Bergstein Scharfschütze bei der Bundeswehr war. Wer war der beste Schütze im Schießverein, hat Bergstein einen Schießverein oder eine Schützenbruderschaft? Fett ging die gesammelten Fakten durch. Die Patrone am Grab des amerikanischen Gefreiten Peternell. Ablenkung, Zeichen, Rätsel? Das war kein Krieg zwischen zwei verfeindeten Nachbarn. Der Fall reichte vermutlich zurück in die Geschichte. Wer war Eugen Kaltenbach? Wer war sein Vater, seine Mutter, Geschwister?
Fett erreichte die oberste Plattform. Das Blut auf den Holzbrettern war dunkler geworden, ein paar Spritzer auf der Infotafel, die Richtung Vossenack aufgestellt war. Der nächste Regen würde die Spuren der Tat abwaschen. Alles würde versickern in den Burgberg, den Hügel der blutigen Stiefel, getränkt vom Blut der Soldaten. Fett griff zu seinem Handy. Der Empfang war hundsmiserabel. Er gab Burgberg ein und stieß auf Hill 400. Fett versank in die Zeit vor 75 Jahren. Genau vor 75 Jahren war hier auf und am Berg die Hölle los gewesen. Er lehnte sich an die Brüstung und sah vor seinen Augen die amerikanischen Ranger, die von Brandenberg aus über die freie Fläche angriffen. Sie waren dem Artilleriefeuer der Wehrmacht schutzlos ausgesetzt. Er blickte auf die kargen Felder, die keine Deckung boten. Am 7. Dezember 1944 stürmten die Ranger den Burgberg. Der deutsche Kommandant befahl deutsches Artilleriefeuer auf den eigenen Bunker. Die Ranger verloren beim ersten Angriff ein Viertel aller Männer. Fett dachte an den Film Platoon, der damit endete, dass die US-Einheit von Nordvietnamesen überrannt wurde und der Kommandant einen Luftschlag auf die eigenen Stellungen befahl. Alles versank in Napalm. Vor Fetts Augen tobten die Kämpfe. Kann man sich das vorstellen? Kann man versuchen, die Situation zu erfassen, die Angst, das Schreien, den Kampf Mann gegen Mann, die abgerissenen Glieder, den Stoß des stumpfen Bajonetts in den Brustkorb, der letzte Blick auf die Handgranate, die in das Schützenloch fliegt? Private First Class Peternell, der amerikanische Gefreite, wurde vermisst bis zu dem Tag im Jahre 1981, an dem seine Überreste in einem Schützenloch gefunden wurden.
Fett dachte an den 7. Dezember 1944. Sieben Messerstiche. Was sagte Elke Unsleber? »Voll in die Zwölf.« Kopfschuss. Sieben und zwölf. 7.12., der Tag des Horrors hier am Burgberg. Im Schnee, im Matsch, im Eis, im Regen, im Dreck, im Granatenhagel. Die Amerikaner waren seit dem 12. September 1944 in Deutschland. Da erreichte die erste Einheit Roetgen, und zur Warnung standen überall die Schilder: »Entering Germany«. Jetzt lag hier oben Eugen Kaltenbach, erschossen mit einem M1 Karabiner der US-Army. Die Patronenhülse auf dem Grab von Peternell. Eine Ablenkung? Fett schaute auf Bergstein, Brandenberg, Vossenack, Schmidt, das Kalltal. Wolkenfetzen jagten von Westen nach Osten, es lag Schnee in der Luft. Ein Pfiff. Die Rurtalbahn. Wo war er hineingeraten, wer lenkte hier das Geschehen, warum diese Messerstiche, diese Legende, diese Stephen-King-Geschichte aus dem 16. Jahrhundert? Oder narrte sie jemand? Fett blickte auf Bergstein. Aus einigen Kaminen stieg Rauch, der sofort vom Wind nach Osten vertrieben wurde. Er steckte die kalten Hände in die Jackentasche seines gefütterten Parkas, den er auf seinem Klapprad brauchte. Die Dockermütze zog er fest über die Ohren. Er war nicht überzeugt von den Verbindungen zur US-Army. Zu offensichtlich, zu einfach.
Die wilde Jagd
Schmelzer saß im Wagen. Er hatte etliche Telefonate geführt. »Damit Sie nicht denken, ich beiße mich an der Wolfslegende fest. Habe bereits Aufträge erteilt.«
»Wolf oder Hund?«
»Wolfshund, Chef.«
»Zum Glück wurde Kaltenbach nicht nach dem 26. Dezember ermordet, sonst würden Sie über die Wilde Jagd spekulieren.«
»Wer oder was, um Himmels willen, ist die Wilde Jagd?«
»Ein wenig Kenntnis über deutsche Mythen kann nicht schaden, Herr Kollege. Schlag nach bei den Brüdern Grimm. Von Weihnachten bis zum Dreikönigstag treibt Die wilde Jagd ihr Unwesen. Mit Wolfsgeheul und Hundegebell. Diese Gestalten schießen durch den Nachthimmel hinunter in die Wälder, erschrecken Wanderer, Jäger, Förster, Waldarbeiter. Wer nicht spurt, kommt mit. Auf ewig Wilde Jagd. Vielleicht haben die sich im Kalender vertan, und Eugen Kaltenbach musste sterben.«
»Schöne Bescherung. Wilde Jagd und Sürches Mossel. Zwei grausige Legenden.«
»Genug mit den Legenden und Mythen. Wer war Eugen Kaltenbach?«
Schmelzer öffnete die Datei auf seinem Handy: »Jahrgang 1944, einziges Kind von Wilhelm Kaltenbach, der vor 1933 von Schlesien in die Eifel auswanderte, einen Hof kaufte und ziemlich schnell in der kargen Eifel mit Erfolg wirtschaftete. Vater Wilhelm trat früh der NSDAP bei, quasi alter Kämpfer, und war prompt 1933 die Nummer eins. Ortsvorsteher, Goldfasan, also mit Uniform der SA in Braun und goldenen Streifen. Freigestellt vom Krieg, zuständig für die Landwirtschaft in einem Teil der Nordeifel. Er wurde entnazifiziert. Moment, da gab es einen Prozess, der im Sande verlaufen ist. Wilhelm Kaltenbach soll den deutschen Verteidigern des Burgbergs Stellungen der Amerikaner verraten haben. Darunter auch ein Haus mit verletzten US-Soldaten. Das Haus wurde unter Artilleriebeschuss genommen, alle Soldaten starben. Ein Nachbar habe den alten Kaltenbach bei den Amerikanern denunziert. Angeblich aus Rache am Goldfasan, der seine Macht missbraucht habe, um sich Felder, Wälder und Wiesen unter den Nagel zu reißen. Trotzdem muss der alte Kaltenbach glimpflich davongekommen sein mit Entnazifizierungsverfahren und so weiter. Das Verhältnis zum Dorf und den Nachbarn blieb zerrüttet. Die Mutter des Toten stammte auch aus Schlesien, starb Ende der 50er-Jahre.«
Fett schaute ihn fragend an: »Motiv Rache? 2019 und 1944. 75 Jahre später kommt jemand und übt Rache an Eugen Kaltenbach, dem Sohn, und das auf diese spektakuläre Art?«, sinnierte Fett. »Warum nicht in Ruhe bei ihm in der Wohnung? Weil es der Burgberg ist? Weil es um den Burgberg ging vor 75 Jahren? Sieben Stiche, Schuss auf die Zwölf. 7. Dezember 1944, Angriff auf den Burgberg, Verrat von Kaltenbach, er besiegelt das Schicksal vieler Amerikaner und wird mit einem Karabiner der US-Army erschossen. Fall gelöst. Bravo, Schmelzer. Jetzt müssen wir die Nachfahren der US-Soldaten checken, schauen, wer vor Kurzem von den USA nach Europa gekommen ist. Vielleicht lebt jemand sogar in Deutschland oder Europa. Klasse. Kann Monate dauern. Sehr gut.« Fett machte eine Pause. »Holen Sie bei Unsleber den Wohnungsschlüssel von Kaltenbach. Wir schauen uns sein Haus an, und dann geht es zur Kantine.«
Häuser und Menschen
Eugen Kaltenbach hatte am Ortsrand von Bergstein ein Haus gebaut und dann den Hof seines Vaters Wilhelm verpachtet. Steingarten statt Vorgarten, eine Kutsche mit Bauern aus chinesischem Beton, mit Plastik überzogene Sträucher zum Schutz vor Schnee und Eis. Die dunklen Butzenscheiben der Fenster wirkten unheimlich. Aus dem Kamin stieg Rauch auf. Fett betrachtete das Haus, den Vorgarten, die Steinwüste. Schmelzer schätzte den Abstand zu den nächstgelegenen Häusern auf einen Kilometer. Kaltenbach hatte abseits gewohnt.
Fett öffnete die Tür. Ein unangenehmer Geruch schlug ihm entgegen. Er kannte den Geruch der Häuser von Toten. Jedes Haus roch anders. Das Leben eines alten Mannes, der sich allein versorgte. Von einer Haushälterin war nichts bekannt. Fett öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Der Blick ging hinüber nach Schmidt und Kommerscheidt. Ein alter Schreibtisch, Papiere, Rechnungen. Auf dem Kaminsims Fotos von Eugen Kaltenbach mit seiner Ehefrau, die vor Jahren ums Leben gekommen war. Keine Kinder. Keine Fotos der Eltern. Die Abrechnungen des Pächters Tyssen akkurat abgeheftet. Gab es Verwandtschaft? Fett blätterte im Familienstammbuch von Eugen Kaltenbach, fand Angaben über seine Ehefrau.
»Die KTU soll das Haus durchsuchen. Hier könnten Geheimnisse schlummern, die uns Motive liefern«, rief er Schmelzer zu, der aus dem Schlafzimmer kam und vor lauter Hunger ziemlich unaufmerksam die Schubladen durchsucht hatte.
»Ein paar Sparbücher der Sparkasse Düren. Arm war er nicht. Mehrere 100.000 Euro«, brummte Schmelzer.
»Wer erbt? Das muss uns interessieren. Prüfen Sie das Telefon und den Anrufbeantworter.« Fett war müde. Wieder dieser Blick in ein seltsames Leben. Eugen Kaltenbach, heute Morgen für ihn noch unbekannt; nun stocherte er in dessen Leben herum.
»Alles sauber, Chef. Als ob niemand angerufen hätte. Keine Aufzeichnungen auf dem Anrufbeantworter. So möchte ich nicht enden. Abgeschieden, alleine, steinreich und einsam am Ortsrand von Bergstein.«
»Steht Ihnen auch nicht bevor, Schmelzer. Wo ist der Bauernhof mit dem Pächter Tyssen?«
»Hinten am Sportplatz von Bergstein.«
»Haus versiegeln, KTU informieren. Wir fahren rüber.« Dann hörten beide ein Geräusch aus dem Keller, als ob eine Flasche umgekippt sei.
Fett legte den linken Zeigefinger an seine Lippen und zog mit der rechten Hand die Dienstwaffe aus dem Holster. Schmelzer nickte ihm zu, zog ebenfalls seine Pistole. Fett zeigte in Richtung Kellertür. Schmelzer ging vor. Die Tür war offen, leicht angelehnt. Wieder ein Geräusch. Schweißperlen auf der Stirn. Fett wischte kurz mit dem linken Handrücken. Schmelzer schaute ihn an.
»Polizei! Kommen Sie heraus! Das Haus ist umstellt.« Fett übertrieb. Aber für Telefonate mit Aachen blieb ihm keine Zeit. Schmelzer öffnete vorsichtig die Tür und knipste blitzschnell den Lichtschalter an. Mit einem lauten und fauchenden »Miau!« schoss ein schwarzer Kater an beiden vorbei in Richtung Wohnzimmer. Die Kommissare schauten sich überrascht und erleichtert an. Dann stiegen sie mit gezogenen Waffen die Treppen hinunter. Der Kater hatte eine Weinflasche umgeworfen und mit der Flasche gespielt.
»Im Keller nichts Neues«, sagte Fett und steckte die Waffe ein. »Sagen Sie der KTU, dass hier ein Kater rumläuft. Fall fürs Tierheim. Oder er haut ab in die freie Wildbahn. Auf zu Bauer Tyssen.«
Schmelzer atmete tief durch. Auch ihm hatte die Überraschung zugesetzt. Und das alles auf leeren Magen.
Kurz danach bogen sie in den Hof von Tyssen ein, und Fetts Erinnerungen an die Kindheit auf dem Bauernhof in Langerwehe waren sofort präsent, als er den Geruch von Stall, Futter, Jauchegrube wahrnahm.
»Wen suchen Sie?« Ein vierschrötiger Mann um die 50 kam auf sie zu. Gummistiefel, grüne Arbeitshose, verschmutzte Joppe und auf dem Kopf etwas, das mal ein Hut gewesen sein konnte.
»Fett, Schmelzer. Kripo Aachen. Sind Sie Lorenz Tyssen?«
»Wer sonst?«
»Sie könnten ein Knecht sein?«
»Knechte gibt es nicht mehr. Nur Landwirtschaftshelfer.«
»Wo waren Sie heute Morgen von 6 bis 10 Uhr, Herr Tyssen?«
»Was ist los? Wurde eine Bäckerei ausgeraubt oder wieder ein Geldautomat gesprengt?«
»Für Fragen sind wir zuständig.« Fett hatte ein ungutes Gefühl.
»Lassen Sie mich meine Arbeit machen. Ich hatte Nachtschicht in Düren bei den ehemaligen Fordwerken. Bin um 6 Uhr zurückgekommen, hab die paar Kühe gefüttert und dann die Abrechnung für die Molkerei gemacht.«
»Gibt es Zeugen dafür?«
»Ja, neben Elli noch 30 andere Kühe.«
»Dann werden wir die verhören.«
»Was soll das?«
»Eugen Kaltenbach ist tot.« Fett hielt Todesort und –art zurück.
»Kaltenbach tot? Wenn Sie kommen, dann ist er kaum sanft entschlafen?«
»Gut kombiniert. Also, haben Sie Zeugen?«
»Meine Frau und die Kinder. Meine Frau hat mir um 6 Uhr das Frühstück gemacht, um 7 Uhr sind die Kinder zum Schulbus, um 7.30 Uhr kam der Milchwagen. Reicht das?« Tyssen wurde leicht aggressiv, auch wenn er eine gewisse Freude über den Tod von Kaltenbach nur schwer unterdrücken konnte.
»Wir prüfen alle Angaben. Wie war denn Kaltenbach als Eigentümer?«
»Ein Arschloch. Blutsauger. Wehe, wenn die Ernte mal schlecht ausfiel. Von Stundung der Pacht keine Rede. Der hetzte sofort Anwälte los. Wurde noch schlimmer, als seine Frau bei dem Autounfall gestorben ist. Wenn Kaltenbach stirbt, dann wird es in Bergstein besser. Das sagten alle. Wie ist es passiert?«
»Erfahren Sie noch früh genug, Herr Tyssen.«
»Was wird aus dem Hof?«
»Es gibt bestimmt noch Verwandte der Ehefrau. Dauert. Vielleicht wird alles besser für Sie.«
Tyssen nahm die undefinierbare Kopfbedeckung in die Hand, drehte sie hin und her. Er dachte nach. All die Auseinandersetzungen mit Kaltenbach, die Inkassotypen noch vor Heiligabend. Wenn Agatha Kaltenbach damals den Alten nicht aufgehalten hätte, dann wäre Familie Tyssen rausgeflogen. Warum musste sie diesen absurden Tod sterben?
»War es das, Herr Kommissar? Ich muss mich hinlegen. Heute wieder Nachtschicht.«
»Wem trauen Sie einen Mord an Kaltenbach zu?«
»Gehasst wurde er von vielen. Mord? Hören Sie sich im Dorf um. Ich bin zu müde, um über Kaltenbachs Mörder nachzudenken. Wiedersehen.« Er stampfte in Richtung Küche und ließ Fett und Schmelzer auf dem Hof stehen.
»Prüfen Sie das Alibi, Schmelzer. Jetzt ab ins Präsidium.«
Schmelzer wird überwacht
Sie waren spät dran. Keine warmen Speisen mehr am Buffet. Drei einsame Schüsselchen mit Vanillepudding und Himbeersirup. Fett zahlte für die drei, nahm zwei kalte Frikadellen und suchte mit Schmelzer einen Tisch mit Aussicht. Nur einige Kollegen von der Bereitschaft saßen in der Kantine.
»Brauchen wir eine besondere Aufbauorganisation?« Schmelzer vertilgte Pudding Nummer eins. Die Frikadelle erledigte er mit zwei Bissen. Er hatte Fleischeslust. Wie immer.
»Dafür fehlt das Personal. Da müssen wir beide ran und wieder in die Vergangenheit schauen.«
Pudding zwei war an der Reihe, und Schmelzer blickte so intensiv auf die Verlaufsformen des Himbeersaftes, dass er den Mord vergaß. »In meiner Kindheit gab es oft Pudding mit Himbeersaft.«
»Ja und Schokopudding mit selbstgemachter Sahne am Sonntag.« Fett hatte keine Lust auf diese Nahrungserinnerungsgespräche.
»Ich mochte mehr Vanillepudding.« Schmelzer biss sich fest. Sein Lieblingsthema.
»Was macht die vegetarische Küche von Anne?« Fett wusste, dass Schmelzer seit Freitag nur Gemüse, Tofu, salzlose Kost bekommen hatte.
»Wird immer ideologischer. Wenn nur die Belehrungen nicht wären. Alles weiß sie besser. Alles. Aus dem Essen wird eine Wissenschaft. Die freudlose Küche. Justus und ich fahren heimlich zu Metzgereien. Sie macht sogar Kontrollanrufe. Ob ich Kunde bei Lemmen oder Brach sei. Fleischkonsumüberwachung.«
»Nehmen Sie meine Frikadelle. Ich hab Bockwürstchen im Kühlschrank.«
Schmelzers Laune besserte sich für wenige Minuten. Fett ging auf die Probleme nicht weiter ein. Er hatte genug für den Tag. Sie verabschiedeten sich freudlos.
Fett verließ das Polizeipräsidium und stieg auf sein Klapprad. Trierer Straße und Adalbertsteinweg waren um die Uhrzeit dicht. Er zog die Gelbweste an, steckte Vorder- und Rücklicht an den Rahmen und legte das schwere Kettenschloss ins Körbchen. Seit dem Sommer fuhr er Rad. Den Alfa hatte er verkauft wegen Altersschwäche. Ein neuer Wagen war nicht in Sicht. Sein Vater hatte immer gesagt: »Auto fängt mit AU an und hört mit O auf.« Über VW-Käfer und einen Golf Diesel war Fetts Vater nie hinausgekommen. Reichte ihm für seine Fahrten zur Wache nach Düren und zur Bereitschaftspolizeiabteilung IV nach Linnich. Der Wind war frisch, kein Schnee, nasses Laub, spiegelnde Pfützen. Fett fuhr an der Lützow-Kaserne vorbei in Richtung Aachen-Arkaden. Ein Denkmal vergangener Konsumlust. Er passierte die Josefskirche und steuerte auf den Kaiserplatz zu, wo seit Jahren mit Drogen gehandelt wurde. Nichts hatte sich verbessert. Wahrscheinlich wurde in der Tiefgarage vom Aquis Plaza Einkaufszentrum gedealt. Über den Willy-Brandt-Platz, wo bei der Einweihung Willy mit zwei »i« falsch geschrieben worden war, radelte er, nach links abbiegend, am Parkhaus vorbei auf die Peterstraße zu. Hubert Moonen, Herren-Oberbekleidung, seit Jahren schon geschlossen. Er schob über die Fußgängerampel in Richtung Parkhaus Büchel. Der Weihnachtsmarkt. Er hatte den Weihnachtsmarkt vergessen. »Stille Nacht, heilige Nacht.« Die Musik umfing ihn bereits. Um die Uhrzeit könnte er sich noch mit dem Fahrrad durch die Besucher schlängeln. Reibekuchen tauchten vor seinem inneren Auge auf. Montagabend mit Reibekuchen. Der Kantinenpudding als Mittagessen reichte nicht. Sie waren spät aus Bergstein zurückgekehrt. Am Nachmittag die Besprechungen und Spurensuche. Eine große Mordkommission lehnte sein Chef Kosslowski ab. Er habe zu wenig Personal wegen Urlaub, Krankheit und den Einsätzen in Hambach. Fett war nicht unzufrieden mit der Entscheidung des Chefs. Das Gewimmel, die Unruhe, die Rennerei im Lagezentrum einer Besonderen Aufbauorganisation waren nichts für ihn. Klar, wenn das Kapitalverbrechen es erforderte, machte er mit. Ansonsten: allein zu zweit. Sein alter Spruch.
Reibekuchen und Reflexionen
Fett schob sein Klapprad an Hütte 16 und von Glühwein geröteten Gesichtern vorbei. Die Hütte stand wieder an der Ecke am Elisengarten. Um sie wurde heftig gestritten. Ausweitung der Kampfzone. Der Weihnachtsmarkt dehnte sich in den Park hinein aus. Auf dem Münsterplatz stand der Kommissar vor dem labyrinthischen Imbissgewirr Hexenhof. Einen Eingang konnte er kaum erkennen. Menschen strebten mit Einkaufstaschen, Glühweintassen, Currywurst, Reibekuchen und gebrannten Mandeln hinein und heraus. Hinter dem Budenwirrwarr erhob sich majestätisch der Dom gen Himmel. Ruhig und gelassen. Als ob ihn das konsumfreudige Treiben nicht stören würde. Was hatte er alles gesehen, der Dom? Seit der Erbauung des Oktogons bescherten Märkte, Messen, Krönungsfeiern Umsatz und Trubel. Händler waren von nah und fern nach Aachen gekommen, um ihre Produkte anzupreisen und zu verkaufen. Mit den Krönungen war stets ein Auftrieb von Gauklern, Narren, Prostituierten und Händlern einhergegangen. Blieb nicht alles gleich? Ging es nicht im Mittelalter auch um Alkohol, Grillgut, schnelle Freude, Wein, Weib und Gesang? Und heute? Fett kettete sein Klapprad an einen der wenigen freien Ständer. Auch hier Not. Zu wenig Fahrradbügel in der Stadt. Zu wenige Sitzbänke im Sommer. Zu wenige öffentliche Toiletten für die älter werdende Bevölkerung, für die Tages-Senioren-Touristen. Er stellte sich vor das Schaufenster der Buchhandlung Schmetz am Dom, betrachtete die Neuerscheinungen, die Auswahl von Kinderbüchern, einen Bildband über die Eifel, den neuen Kalender des Fotografen Andreas Herrmann. Er schritt zur Bratwursthütte an der Ecke des Münsterplatzes. Als er bestellen wollte, kaufte gerade ein gut genährter Tourist die letzte Portion Reibekuchen.
»Sie bekommen gleich welche.« Die eingemummelte junge Frau, wahrscheinlich Studentin, schaute auf den Reibekuchenkoch, der stoisch den Teig in das spritzende Öl kippte.
»Vier Euro. Mit Apfelmus?«
»Ja, mit Apfelmus.« Zurück zu den Schaufenstern der Buchhandlung. Nebenan, bei Hanswurst, wurden die Bratwürste verzehrt. Die Reibekuchen waren heiß und ölig. Er genoss sie mit Blick auf die Klassiker, schaute auf Fontane, dessen 200. Geburtstag bevorstand, auf Rilke, Brecht und Thomas Mann. Wunderschöne Ausgaben. Fontane, dachte Fett, als er ein Stück Reibekuchen zur Abkühlung in das kalte Apfelmus tunkte, Fontane müsste ich nochmal lesen. Der Stechlin, die Geschichte vom alten Dubslav. Dann drängte sich Eugen Kaltenbach zwischen seine Betrachtungen. Heute Morgen lag er tot auf dem Krawutschketurm, jetzt in der Rechtsmedizin der Uniklinik Köln. Ein Leben geht davon. Von dem oder den Tätern keine Spur. Fett tippte auf einen Täter. Ein Mann. Muss ein Mann gewesen sein, der kaltblütig im Graben auf Kaltenbach gewartet hatte. Ein Schuss. Die Stiche mit dem Messer. Der letzte Reibekuchen war soweit abgekühlt, dass Fett ihn mit wenigen Bissen vertilgen konnte. Er holte ein paar Servietten, um die fettigen Finger zu säubern, dann machte er sich auf den Weg, vorbei am Juwelier Grobusch in Richtung Eingang des Doms. Er schaute auf die hellgraue Ungarnkapelle, stieg ab und schob weiter in den Domhof. Er dachte über Deutschland im Winter 2019 nach. Was war los in diesem Land? Die Energiewende vergeigt, die Sicherheit vernachlässigt, die Verkehrswende nicht geschafft, Experimente im Bildungsbereich mit G8 und G9, die Bundeswehr unterfinanziert, die Bahn kaputtgespart, die Hochschulen überfüllt, neuer Rechtsextremismus. Der schwarze Hund schlich aus Richtung Taufkapelle des Doms an Fett heran. Die vom Glühwein erhitzten Gesichter hier, dort die Baustellen des Landes. Kann schnell gehen. Zack, ist die Rezession da. Die Autoindustrie schwächelt. Als ob Elektroautos und Lastenräder alles richten würden. Jeden Tag ein Überbietungswettbewerb für das Klima, den Umweltschutz. Ein Tempolimit bekam die Regierung nicht hin. Diese Widersprüche machten die Bürger kirre. Zumindest die, die noch Tageszeitung lasen, sich engagierten, Steuern zahlten, Kinder zur Kita und Schule brachten. Dazu eine immer bedrohlicher werdende Zahl der Abgehängten, die weit weg von den so genannten Diskursen und Narrativen der Eliten lebten. Narrativ, auch so ein Schaumschlägerwort. Die Rausgefallenen schauten den Bachelor und nicht Frank Plassberg. Traumschiff als Synonym für den Zustand der Gesellschaft. Er lachte, denn das Traumschiff war nicht mehr politisch korrekt. Nun mussten sich die Kreuzschifffahrtsreisenden rechtfertigen. Umwelt- und Meeresverschmutzung. Eher eine Reise im Orient Express, die würde durchgehen. Weihnachtsmarktbesucher strömten ihm entgegen und stoppten seinen Gedankenfluss.
»Geben Sie mir den Beutel.« Eine sehr bewegte Frau, vermutlich Gemeindemitglied der evangelischen Kirche, war neben dem Berufsbettler ausländischer Herkunft in die Hocke gegangen. Sie hatte ihm einen Becher Tee gereicht und zog dem überraschten Obdachlosen soeben zur umweltgerechten Entsorgung den Teebeutel aus dem Becher. Der arme Kerl verstand weder Deutsch noch die Sache mit dem Beutel. Die wohlgesinnte Frau, mit Kleidung wie aus einem Missio-Shop, sprach so laut, dass Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit noch im Quadrum der Domschatzkammer und im Schlafzimmer des Bischofs gehört wurden. Sie packte den Teebeutel in eine Plastiktüte wie andere die Hinterlassenschaft ihrer Vierbeiner. »Ich mach das schon, ich mach das schon!« Fett erinnerte sich an die Klassenkameraden, die Streetworker werden wollten. Allein der Begriff war damals Kult. Streetworker, er dachte immer an die Aachener Kehrmännchen, das waren für ihn die wahren »Streetworker«. Die Kultstreetworker vom Sozialamt knieten zumeist im Studentenlook der 70er-Jahre mit langen Haaren und Bart neben Drogenabhängigen und hatten »eh Mann, volles Verständnis« für den Typ. Er hatte nichts gegen Sozialarbeiter, die wurden gebraucht, aber die Gesten gingen ihm auf den Senkel, das klischeehafte Benehmen oder das offensichtlich zur Schau getragene »Ich bin ein besserer Mensch.« Das Büchlein 111 Tugenden, 111 Laster hatte fein die Gratwanderungen herausgearbeitet, ab wann eine vermeintliche Tugend in ein Laster umschlägt. Wie hieß es im Kapitel über Mitgefühl: »Übersteigerte Empathie mündet in Missachtung sowohl der anderen wie unserer selbst.« Hatte Fett sich gemerkt. In der gerade beobachteten Szene wurde der Bettler entmündigt. Allein in der Menge schob Fett sein Fahrrad weiter Richtung Kockerellstraße. Es wurde ruhiger. Ab wann dominieren Minderheiten die Mehrheiten, fragte er sich. Wie kann eine Gesellschaft den lauten Dauerton aushalten, den Minderheiten, die es wirklich vor Jahrzehnten schwer hatten, nun anschlugen? Bei seinen Wanderungen in der Eifel erlebte er andere Herausforderungen. Kaum Nahverkehr, kein Internetanschluss, kein Gymnasium um die Ecke, Bäcker und Metzger geschlossen, höchstens ein furchterregendes Gewerbegebiet am Ortseingang zur Kreisstadt. Von Shuttle-Party, Ausstellungseröffnung, Streetfood-Events und Karneval im Sommer war dort nicht die Rede; höchstens Schützenfest und Maibrautversteigerung. Nachdenklich und melancholisch blickte er in Richtung Eilfschornsteinstraße.