Kitabı oku: «Herr über Leben und Tod bist du», sayfa 4

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Herr Jens und die Identitätsfrage

»Sind Sie nicht Herr Jens?«

Ein älterer Herr kam im Halbdunkel der Straßenbeleuchtung auf Fett zu. »Sie sind doch Herr Jens!«

»Was nicht ist, das kann noch werden. Fett, Vorname Michael. Jens steht nicht in meinem Ausweis.«

»Oh, entschuldigen Sie bitte. Sie sehen aus wie Herr Jens. Auf Wiedersehen.«

Fett blieb irritiert stehen. Zum wiederholten Mal war er verwechselt worden. In Kloster Steinfeld war ein Bierkutscher auf ihn zugekommen und hatte ihn mit »Guten Tag, Herr Scheidtweiler« begrüßt. Als er Toni Erdmann im Capitol-Kino schaute, drehte sich die Dame vom Nachbarsitz zu ihm und sagte: »Sie sehen aus wie mein Bruder.« Und bei einer Podiumsdiskussion freute sich der Historiker Michael Wolffsohn: »Schön, dass Sie gekommen sind. Wir kennen uns ja.« Diese plötzlich auftauchenden und zunehmenden Verwechslungen nagten an ihm. War er ein Avatar, ein geklonter Kommissar? Oder war sein Vater in Wirklichkeit ein umherziehender Kurzwarenverkäufer gewesen, der an vielen Orten seine fruchtbaren Spuren hinterlassen hatte? Fett versuchte, es von der komischen Seite zu betrachten, so richtig gelang es nicht. Er war nicht einmalig, sondern es gab viele Fetts. Wenigstens äußerlich. Ihm fiel eine Erzählung von Clemens Brentano ein, die er kürzlich im Antiquariat gefunden hatte: Die mehreren Wehmüller. Sie handelte von der Auflösung der Identität, von Verwechslungen, von Spuk, Zauberei und der Wilden Jagd. Er dachte daran, als er in Höhe des Hauses stand, in dem einst Sport Gruber beheimatet war. Für immer geschlossen. Danke, Internet, dachte Fett. Was wird aus unseren Städten? In Höhe des Bistros Anvers stieß er fast mit Vera Braun zusammen, Redakteurin des Zeitungsverlags. Sie bewegte sich beschwingt in Richtung Jakobstraße.

»Dein Freund und Helfer, ja da schau an. Der liebe Kommissar Fett.«

»Vera, die Chefaufklärerin des Zeitungsverlags. Welche Freude, welche Ehre.« Wenigstens sie hat mich nicht verwechselt, dachte Fett.

»Hör auf zu säuseln, du alter Colombo. Oder Columbo? Wie hieß der denn?«

»Columbo.« Schon wieder eine Verwechslung, aber nicht mit Columbus, schoss es Fett durch den Kopf.

»Lass uns einen Kaffee trinken, gleich hier im Anvers.« Sie lächelte ihn an.

»Wenn du mich nicht ausquetschst. Einverstanden.«

Fett schloss sein Rad an eine Laterne. Er öffnete der Redakteurin die Tür des Lokals. Sie standen im studentisch anmutenden Bistro Anvers, eher eine griechische Taverne als ein Bistro aus Antwerpen.

»Was hast du für mich? Mord, Totschlag, Eifersucht, Gift?« Vera Braun konnte ihre Neugier nicht verbergen.

»Kaffee. Oder auch einen Schoppen. Trinkst du noch gerne Chianti?«

»Eins, nur ein klitzekleines Gläslein. Muss zum Dom. Da spricht heute Aleida Assmann.«

»Friedenspreis des Buchhandels.« Fett nickte wie ein allwissender Professor.

»He, Kommissar Fett kennt sich aus. Das gibt’s nicht.« Ihre dunkelbraunen Augen blickten erstaunt.

»Ein bisschen Bildung kann nicht schaden. Stammt von Heine, nicht von mir.«

»Bildungsmonster Fett. Wow. Darauf einen Chianti.«

Sie rief den Kellner und bestellte zwei Gläser.

»Vorsorgliche Bevormundung. Merci. Wenn du es nicht wärst.«

»Wer dann, Columbo? Du hast sonst nur den Schmelzer.«

Das saß. Fett hatte nur Schmelzer. Fett, der Chef, und Schmelzer, der Schüler. Oder war er eher sein alter Lehrmeister. Nur Schmelzer. Ja, wenn er darüber nachdachte, er hatte wirklich nur Schmelzer. Er verbrachte mehr Zeit mit Schmelzer als mit irgendeinem anderen Menschen.

»Zwei Chianti?« Der Kellner jonglierte ein Tablett durch die Tischreihen.

»Hier. Die junge Dame und der alte Mann.« Fett verwies freundlich auf Vera Braun.

»Ein Toter in der Eifel, und der Kommissar schiebt in Seelenruhe sein Klapprad durch die Kockerellstraße.«

»Feststellung oder Frage?«

»Beobachtung.«

»Zum Wohle. Auf die vierte Gewalt.«

Sie lächelte ihr Journalistenlächeln. Halb wissend, halb fragend, neugierig, auf der Suche nach einer Story. Dunkelblauer Blazer, die Daunenjacke von Moncler hing lässig über dem Stuhl, braune Lederstiefel und strohblonde Haare.

»Lass mich nicht verhungern, Herr Fett.«

»Herr Fett bestellt einen gemischten Vorspeisenteller und sagt dir höchstens unter drei etwas.« »Unter drei« nannte man die vertrauliche Information, die sie in ihrem Blatt nicht drucken durfte.

»Unter drei. Immer so verschwiegen.«

»Warte bis zur Pressekonferenz vom Kollegen Kemmen.«

»Jörg, der gute Jörg. Du weißt viel mehr als Jörg Kemmen. In jeder Beziehung. Und der Jörg ist vor 14 Tagen in den Ruhestand verabschiedet worden.« Sie schaute ihm so tief in die Augen, dass er die Doppeldeutigkeit ihrer Bemerkung überhörte. Stimmt, er hatte vergessen, dass Kemmen pensioniert worden war.

»Ein alter Mann aus Bergstein, morgens auf dem Krawutschketurm, wird mit einem amerikanischen Karabiner, wie ihn die GIs hatten, erschossen. Danach noch sieben Stiche in die Brust«, berichtete Fett. »Heute kurz vor Tagesanbruch.«

»Wer war der Ermordete?«

»Ermittlungstaktik. Nicht öffentlich.«

»Komm. Unter uns.«

»Wir wollten einen Kaffee trinken, nun ist es ein Wein, und du quetschst mich aus. Schade.« Fett wirkte enttäuscht und ein wenig genervt. Lieber wäre er nach Hause geradelt. Er, der »Herr Jens«.

»Schon gut, schon gut. Themenwechsel. Muss eh gleich zum Dom. Die Kulturleute sind alle krank. Da darf ich mal einen Beitrag für die Kulturseite schreiben.«

»Kann nicht schaden.«

»Was, der Dom oder Kultur oder beides.«

»Ein wenig Kontemplation.« Fett trank sein Glas aus.

»Schlechte Laune, Herr Kommissar?« Sie schaute ihn neckisch und frech an.

»Zu viel Trubel, schöne Vera. Wo geht die Reise hin? Die Gesellschaft rutscht, Schieflage. Organisierte Kriminalität, Clans, Gewalt, Drogen, Prostitution, Prepper-Typen, die sich auf den Weltuntergang vorbereiten, und diese Diskussion über die Antoniusstraße in der Innenstadt. Der Polizeipräsident hat recht. Dort wird es immer Kriminalität geben. Wollen wir daneben einen Kindergarten einrichten? Nein. Trotzdem proben die bewegten Damen von der Prostituiertenhilfe den Aufstand.«

»Einer muss den Zwangsprostituierten aus Osteuropa und Afrika helfen.«

»Ja, helfen. Und Gesetze respektieren und durchsetzen. Wir lassen unsere Spielregeln aufweichen. Klappt auch nicht beim Fußball. Wenn jeder seine eigenen Regeln macht, funktioniert das Spiel nicht. Schau nach Hambach. Schau nach Hamburg zum G20-Gipfel oder Berlin Rigaer Straße. Manche sprechen von befreiten Zonen. Wovon befreit? Von der Ordnung, den Gesetzen, die unser Zusammenleben regeln.«

»Spannender als Aleida Assmann. Könnte dir noch lange zuhören.«

»Mach dich nur lustig.« Fett war gereizt.

»Im Ernst, Michael.« Erstmals sprach sie seinen Vornamen aus. »Der Zynismus in der Redaktion geht mir auf den Senkel. Ein Ausdruck unserer Unsicherheit. Wer liest noch Zeitung? Wir glauben, dass wir für das System wichtig sind. Jeder blöde Youtuber hat mehr Follower als wir Leser. Manchen Redakteuren bleiben nur Zynismus und Alkohol. Und hin und wieder eine richtig gute Geschichte von den jungen Kollegen, die abtauchen in wahre Sorgen, Nöte und Probleme.«

»Wie heißt der Song? Hurra, unsere Welt geht unter?«

»Ja. Glaube schon.«

»Ich zahle vorne, Vera. Lass dir das Lächeln nicht stehlen. War vielleicht der falsche Moment für einen Plausch. Du musst los. Sonst platzt du mitten in die Veranstaltung.« Vera Braun schaute dem Kommissar nachdenklich hinterher, als er zum Tresen ging. Sie fand ihn seit Jahren interessant. Eine harte Nuss. Sie wurde nicht schlau aus diesem heiteren Melancholiker, von dem die Polizeireporter mit großem Respekt sprachen. Seine Aufklärungsquote sei beeindruckend. Aber er selbst unnahbar.

»Alles erledigt, schöne Frau Braun. Grüß mir den Dom, den Dompropst und Paul, den Chefredakteur, wenn du ihn siehst.«

»Paul Schnigge. Den sehe ich morgen bei der Redaktionskonferenz. Werde es ausrichten, Columbo. Mach’s gut. Beim nächsten Mal reden wir nicht über die Toten. Nur über uns, die Lebenden.«

»Gerne.« Fett hielt ihr die Tür auf, grüßte den Wirt, der ein Glas polierte und lächelnd nickte.

Fett und die Verfolgung

Schmelzers Recherchen halfen nicht weiter: keine Kameraaufnahmen, keine Spuren, keine Scharfschützen aus Bergstein, und der Karabiner M1 lag ohne Schlagbolzen und dadurch unbrauchbar im Museum Hürtgenwald. Herr Falter, der Vorsitzende, bestätigte, dass nichts abhandengekommen sei. Alle ausgestellten Waffen seien unbrauchbar. Das Alibi von Bauer Tyssen war wasserdicht. Verwandte der Ehefrau waren in Rostock informiert worden. Kaltenbach hatte seiner Ehefrau den Kontakt zu ihnen untersagt. Nun würden sie das Erbe antreten. Von ihnen kam niemand als Täter in Betracht; ihre Alibis hatten die Kollegen an der Ostsee überprüft. Zudem hatte wegen der Abneigung von Kaltenbach niemand mit einer Erbschaft von ihm gerechnet.

Am Dienstagnachmittag fuhren Fett und Schmelzer erneut zum Burgberg. Schmelzer ließ den Wagen wieder auf dem Parkplatz hinter der Kirche stehen. Das Monster erwähnte er nicht.

»Wir nehmen zunächst den Rundweg, und dann geht’s hinauf.« Fett brauchte Bewegung und den Überblick über den Burgberg.

»Wenn’s denn sein muss. Habe heute festes Schuhwerk an«, maulte Schmelzer.

Schmelzers Laune nervte Fett. Es wurde immer offensichtlicher: Der Kollege war nicht motiviert. Wer nicht motiviert ist, der ist unaufmerksam. Wer unaufmerksam ist, schaut nicht genau hin und hört nicht genau zu. Ob er zu wenig Fleisch bekommen hat, überlegte der Kommissar.

Fett schritt zügig voran, links an der Krawutschke-Infotafel vorbei im Uhrzeigersinn um den Burgberg. Nach 100 Metern stießen sie auf Überreste eines massiven Bunkers am Abhang Richtung Obermaubach.

»Da kann man lange sprengen. Das Ding wird wahrscheinlich die nächste Eiszeit überleben.« Schmelzer interessierte sich kaum für den Marsch durch die feuchte Luft. Das Laub unter den Schuhen hatte jeden Glanz verloren. Schmutz, Dreck, Matsch. Sie gelangten an eine Aussichtsstelle mit Blick auf Obermaubach. Rechter Hand von der vermoosten Plattform stand ein Kreuz mit einer Tafel, die an die toten deutschen und amerikanischen Soldaten erinnerte. Fett registrierte alles und folgte dem Weg zu einem Familienplatz mit zahlreichen Bänken. Von dort aus reichte der Blick hinüber zu Burg Nideggen und ins Rurtal nach Nideggen-Brück. Auch Gut Kallerbend und das anliegende Gestüt waren gut sichtbar. Immer wieder warf Fett einen Blick hoch zum Krawutschketurm, der zwischen den Bäumen auftauchte, dann wieder von Kiefern verstellt wurde.

»Dauert es noch lange?«, imitierte Schmelzer seinen Sohn Justus.

»Alles braucht seine Zeit, Schmelzer. Sie können morgen vom PC aus recherchieren. Ihre Motivation ist unterirdisch. Das nervt. Wir haben einen eiskalten Mord, und Sie laufen hinter mir her wie Stan Laurel hinter Oliver Hardy. Machen Sie ihre Gucker auf und kombinieren Sie. Ist Ihre Stärke.«

»Hoho, danke für die Motivation, Chef. Was soll das hier alles? Oben wurde der Sohn vom Goldfasan abgeknallt. Vermutlich wieder so eine uralte Geschichte, wir laufen durch den Wald, schauen auf die Rurtalbahn, während sich in Aachen der Schreibtisch biegt.«

»Es reicht, Schmelzer. Gehen Sie zurück zum Wagen, googeln Sie in den Dateien, finden Sie mehr über Kaltenbach raus. Auch über diese Anzeige von damals. Ich komme in ungefähr 40 Minuten nach.« Fett setzte mit schnellem Schritt die Runde fort. Schmelzer stand verdutzt im Wald und nahm schließlich denselben Weg zurück, den er gekommen war. So hatte ihn Fett lange nicht mehr stehen gelassen. Es reichte ihm. Er brauchte Veränderung.

Fett erkannte bei seinem Rundgang, dass der Täter über genaue Ortskenntnisse verfügt haben musste. Zudem schien ihm Kaltenbachs Ritual bekannt gewesen zu sein. Fett erreichte wieder die Krawutschketafel und nahm den Weg hinauf zum Turm. Es dauerte zehn Minuten, dann erreichte er sein Ziel. Kaltenbach wird sich oben auf das Geländer gestützt haben, überlegte Fett, um Luft zu holen. Dann fällt der Schuss. Der Täter sammelt die Hülse ein, läuft hoch zu Kaltenbach, sieben Messerstiche, runter vom Turm, und zum Abschluss legt er die Patronenhülse vor das Kreuz von Peternell. Fett blickte in die Richtung, aus der der Schuss gekommen sein musste. Die grauen Wolken rasten aus Westen in die Köln-Aachener Bucht. Langsam dunkelte es. Etwas bewegte sich unten im Gebüsch. Fett starrte durch die blattlosen Bäume auf den Graben, der sich westlich entlang zog. Er sah, wie eine Person mit Tarnjacke vorsichtig und langsam, fast katzenhaft, durch den Graben schlich. Hätte ich nur ein Fernglas mitgenommen, ärgerte sich der Kommissar. Schmelzer anrufen? Eine SMS. Er griff zum Handy.

»Verdächtige Person westlich unter Turm. Sofort kommen!«

Die Rückkehr des Täters zum Tatort? Kommt immer wieder vor. Wie ein Kätzchen näherte sich Fett der Treppe. Nur kein Geräusch verursachen. Die Person im Wald hatte ihn noch nicht bemerkt. Mit leisen Schritten nahm Fett Stufe um Stufe. Er erreichte die nächste Plattform. Die Tarnjacke huschte weiter im Graben umher, als ob sie dort etwas suchen würde. House of Cards – mit dieser Melodie klingelte Fetts Handy. Schmelzer hatte den Klingelton letztes Jahr programmiert. Die Person im Graben schaute hoch zum Turm. Dunkle Mütze, Sonnenbrille trotz einbrechender Dunkelheit. Mit einem Satz sprang sie aus dem Graben und raste den Burgberg hinunter gen Westen. Fett nahm die nächsten Stufen mit einem Satz. Letzte Plattform. Nochmals drei Stufen, er rutschte ab, landete neben dem überfüllten Mülleimer. »Scheiße!« Stechender Schmerz im linken Knöchel. Er rappelte sich auf. Mit einem Sprung landete er in einem alten Granattrichter und brach durch das Unterholz in Richtung Graben. Äste peitschten ihm ins Gesicht, rissen die rechte Backe auf. Er stolperte, schlug auf den Boden, kullerte durch Gestrüpp und Gebüsch, knallte gegen einen Kieferstamm, der Knöchel schmerzte höllisch. Schmelzer näherte sich von rechts. Fett rappelte sich auf und kämpfte sich im Wald vorwärts, die Hände und Unterarme vor das Gesicht, den Höllenschmerz ausblendend. Er torkelte auf den Panoramaweg nach Bergstein zu. Nach links oder rechts? Schmelzer keuchte aus Richtung Bergstein heran.

»Sie rechts, ich links«, stöhnte Fett.

Die wilde Jagd ging weiter. Fett hinkte, Schmelzer lief in Richtung Krawutschketafel. Fett stolperte durch das Unterholz, hörte nur sein eigenes Schnaufen, das Krachen der Äste, spürte die Dornen an der Hose.

»Halt! Stehenbleiben, Polizei!« Fett brüllte in den dunklen Wald. Die Person verschwand immer tiefer im Unterholz. Katzengleich oder wie Rotwild flog sie durch den Wald, entfernte sich mit jeder Sekunde weiter und drohte, in der Dunkelheit zu verschwinden. Fett donnerte wie ein herabtaumelnder Bruchstein mitten durch das Gestrüpp, die Büsche, rutschte auf totem Holz aus, trat in Matschlöcher, taumelte, knallte mit dem Brustkorb gegen eine Betonmauer und sah nur Sterne. Als er die Augen öffnete, blickte er in den fast dunklen Abendhimmel, die Baumwipfel und das Gesicht von Schmelzer.

»Sie sind gegen eine Bunkerwand gelaufen, Chef. Volle Pulle. Zum Glück nicht mit dem Kopf, sondern dem Brustkorb. Da geht die Puste aus. Der Typ ist weg. Keine Spur. Nichts.«

»Männliche Person, Tarnjacke. War oben im Graben.« Fett keuchte. Er stützte sich langsam auf, Schmelzer hakte ihn unter und zog ihn hoch. Wie zwei Kriegsversehrte wankten sie zurück zum Panoramaweg. Die Hände zerkratzt, Schrammen im Gesicht, Hose zerrissen und voller Dreck, linker Knöchel verstaucht – zum Glück konnte Fett sich selbst nicht sehen.

»Warum haben Sie mich angerufen?«

»Falsche Taste, Chef.«

»Das hat er gehört. Mist!« Fett atmete tief. »Hoch zum Graben. Der hat da was gesucht. Vielleicht hat die KTU was übersehen. Scheiße. Das war kein Monster und auch kein Zombie-Wiedergänger. Das war ein flinker Mann in Tarnjacke.«

»Ich bring Sie zum Wagen, Chef.« Schmelzer drehte ihm den Sitz runter, und Fett ließ sich hineinfallen. Er war keine 30 mehr. Sport hatte er in letzter Zeit ausfallen lassen. Jetzt kam die Quittung. Keuchend lag er im Ford Focus, machte die Innenbeleuchtung an, klappte den Spiegel runter. Er sah sein verzerrtes Gesicht, Schrammen auf beiden Backen, Blutspuren und verschwitzte Haare. So ein Käse, dachte Fett, ich bin zu alt für den Job. Und Schmelzer zu unaufmerksam.

Schmelzer kraxelte derweil lustlos zum Graben. Die Dunkelheit nahm zu. Er fand nichts und hatte keine Lust, etwas zu finden. Er kehrte zu Fett zurück, klopfte an die Scheibe des Wagens:

»Wir müssen die KTU anrufen. Ich sehe nichts mehr.«

»Okay«, sagte Fett. »Kommen Sie rein. Rufen Sie an.«

Sie verbrachten die nächste Stunde im Dienstwagen, wartend auf die Kollegen. Die unbekannte Person sollte keine Gelegenheit mehr bekommen zurückzukehren.

Elke Unsleber erreichte mit zwei Kollegen gegen 17.45 Uhr den Burgberg. Mit starken Handlampen leuchteten sie die Umgebung aus. Fehlanzeige. Keine Faserspuren, Fußabdrücke durch all die modrigen Blätter unbrauchbar.

»Ich glaube, die Person trug sogar eine Motorradsturmhaube«, murmelte Fett auf der Rückfahrt nach Aachen, bevor er hinter Vossenack einschlief und sich in einem Traum mit Iska Sonntag wiederfand. Er lief durch den Wald, suchte sie. Plötzlich tauchte der Maskenmann mit einem Messer auf. In Höhe von Kornelimünster schreckte Fett aus dem Albtraum auf.

Die Stimmung in Aachen war so bedrückend wie die Suche nach dem Mörder von Kaltenbach. Das sollte sich in den nächsten Tagen nicht ändern. Schmelzer ließ sich krankschreiben. Das erste Mal in all den Jahren, dass er ohne Vorwarnung von Mittwoch bis Freitag nicht auftauchte. Fett hinkte durch das Präsidium, den Spott der Kollegen bekam er gratis. Er erledigte Papierkram, las den Bericht der KTU und recherchierte über Kaltenbach und den Burgberg. Die Stiche im Körper des Toten stammten von dem Bajonett eines US-Karabiners. Alles passte zusammen, und doch kam er nicht weiter. Elke Unsleber war auf Fortbildung, Kosslowski, sein Chef, in Köln im Ständigen Einsatzstab, und Frau Hof vom Sekretariat hatte Urlaub für Weihnachtseinkäufe. Alles wundervoll. Bis zum Samstagabend, den er eigentlich für Iska Sonntag reserviert hatte. Aber sie musste kurzfristig Bereitschaft übernehmen. Absicherung für ein Hochrisikospiel des FC Köln. Super.

Zur Lage der Nation

In der Robert-Koch-Straße, am Rande des Grüngürtelviertels in Düren, nahe beim Städtischen Krankenhaus, standen herrschaftliche Villen, von denen einige den Bombenangriff am 16. November 1944 fast unbeschädigt überstanden hatten. Hier wohnte ein Unternehmer, dort ein Anwalt, nebenan ein Architekt, und etwas zurückgesetzt, von Bäumen und Büschen verdeckt, stand das Haus von Doktor Adele Borsche. Adele Borsche lebte mit ihrer Schwester Gundula zusammen, die ihr sehr ähnelte, obwohl sie keine Zwillinge waren. Beide waren im reifen Alter, devisengeschützt, und hatten sich vor Jahren, nach dem Tod der Ehemänner, auf diese Lebensform verständigt: gemeinsamer Lebensabend im elterlichen Haus. Adele bewohnte die eine Hälfte, Gundula die andere. Adele hatte es für sie herrichten lassen. Adele war Jahrgang 1935, Gundula 1936. Ihr Vater war der längst verstorbene Kreismedizinalrat Professor Doktor Rutger Borsche, eine anerkannte Autorität, Mitglied der Partei und die oberste medizinische Instanz in Stadt und Kreis Düren sowie Direktor der Landesklinik von 1933 bis 1945. Danach war es ruhig um Rutger Borsche geworden. Er hatte sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und beantwortete keine Fragen von Eltern, deren Kinder zur angeblich besseren Versorgung nach Hadamar geschickt worden waren. Wo waren die Insassen der Dürener Landesklinik geblieben, die 1942 aufgelöst wurde? Professor Rutger Borsche schottete sich ab und finanzierte seinen Töchtern das Studium aus Mitteln, von denen seine Ehefrau nichts wusste. Adele Borsche wurde klinische Psychiaterin und promovierte über neue Methoden zur Behandlung psychisch gestörter Gewaltverbrecher. Gundula widmete sich der Agrarkunde, promovierte über den Zuckerrübenanbau und beriet im Vorstand der Jülicher Zuckerfabrik die regionale Zuckerindustrie bei der Diversifizierung der Produkte.

Am Samstag nach dem Mord an Kaltenbach trafen sich die bourgeoisen Damen mit Freundinnen zu einem Plauderkaffee in der Bar Celona am Markt in Düren. Ihr Kriegsrat, wie Adele lächelnd sagte. Adele, Gundula, Irmgard, Margarete und Maria diskutieren die Lage der Stadt und des Landes. Im Grunde behandelten sie die Lage der Nation. Sie alle hatten den Zweiten Weltkrieg erlebt, das zerstörte Düren und den Wiederaufbau. Sie waren eher konservativ, treue Wählerinnen der Partei mit dem großen C. Manchmal büxte eine zu den Liberalen aus. Mit ihren Kindern stritten sie sich über Umweltschutz. Aber dem Herrn Habeck, dem konnten sie etwas abgewinnen. Der wirkte so wie Raimund Harmstorf 1971 in der Verfilmung vom Seewolf. Hatten sie sich nicht alle nach Raimund Harmstorf gesehnt? Seine Männlichkeit und seine Kraft, als er die rohe Kartoffel zerquetschte. Da konnten ihre Freischwimmerzeugnis-Männer nicht mithalten. Noch bevor die ersten Kännchen Kaffee eintrafen, wurde die Lage der Stadt Düren und der Bundesparteien unter die Lupe genommen. Bürgermeister Paul Larue wollte nicht mehr kandidieren, die SPD war auf dem Weg der Selbstverzwergung wieder einen Schritt weitergekommen, und Frau Kramp-Karrenbauer hatte immer noch nicht den richtigen Modeberater gefunden.

Die Ehegatten des Damenkränzchens waren bereits im Jenseits. Die Damen hatten die Herren überlebt und trotzdem oder deshalb den Humor nicht verloren. Irmgard hatte die Papierfabrik längst dem ältesten Sohn überschrieben. Die Hüfte bereitete ihr Kummer. Sie trug bei besagtem Treffen viel Schmuck aus dem Familienbesitz, wann sollte sie ihn auch sonst vorzeigen? Margarete fummelte im Spielzeuggeschäft herum, das ihre Tochter mit Bravour führte. Sie raste schneller durch den Laden als manch tätowierte Verkäuferin. Immer ein Bonbon in der Tasche für die Kinder und ein liebes Wort für die Eltern. Ihre grauen Haare leuchteten zwischen Lego-Star-Wars-Kartons und den Modellbaukästen vom Schweren Panzerkreuzer Prinz Eugen. Maria verzehrte die Pension von Kurt, ihrem verstorbenen Ministerialratsgatten. Sie besaß ein Premierenabo für das Aachener Theater, eine Dauerkarte für die Kölner Philharmonie und verfügte, darin waren sich alle einig, über die beste Perle, also Putzfrau, von allen. Maria lud im Herbst zum Krebsessen und im Frühjahr zum Magnoliensekt. Sie alle waren für ihr Alter gut in Form. Viele Spaziergänge, Wanderungen und kleinere Radtouren halfen dabei. Kartenspiele mochten die fünf nicht. Eher gemeinsame Besuche von Ausstellungseröffnungen im Leopold-Hoesch-Museum und Konzerte der Villa Duria vom begnadeten Herrn Esser, dem sie stets einen Blumenstrauß überreichen ließen. Den musikalischen Höhepunkt der Region bildete ihre Fahrt zu Spannungen, dem Kammermusikfestival des Pianisten Lars Vogt im Jugendstilkraftwerk bei Heimbach. Sie waren Dauergäste und buchten einen Minibus mit Fahrer, der sie während der Zeit des Festivals nach Heimbach kutschierte. Nach knappen Bemerkungen zur Stadt Düren widmeten sich die Damen den Parteivorsitzenden von SPD und CDU.

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22 aralık 2023
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