Kitabı oku: «Tote Biber schlafen nicht», sayfa 2
Tödliche Abzweigungen
Haberstock hatte Flugangst, besaß kein Auto, und mit dem Zug würde die Reise zwei Tage dauern. Er stieg in den Fernbus Richtung Krakau und überquerte bei leichtem Schneefall in Görlitz die Grenze. Dann ging es auf der A 4 an Wrocław, also Breslau, entlang in Richtung Kattowitz. Von da aus war es ein Katzensprung zur ehemaligen Hauptstadt Polens, dem schönen Krakau. Wäre da nicht der Autobahnabzweig nach Oświęcim: Auschwitz. Nachdenklich hing er in seinem Fenstersitzplatz. Was war sein Vater im Zweiten Weltkrieg? Schweigen. Das große Schweigen. Nie hatte er mit ihm darüber gesprochen. Erst nach dem Tod seiner Mutter entdeckte er Unterlagen über seinen Vater Egon, an den er sich nicht erinnern konnte, weil er so früh aus seinem Leben verschwunden war. Unterlagen über dessen Zeit als Soldat. Ein Foto in schwarzer Uniform. Der Name Stroop schoss ihm durch den Kopf. SS-Panzergrenadier- und Ausbildungsbataillon 3 in Warschau. Dann muss sein Vater um Versetzung gebeten haben. Ein Foto von ihm. Auf dem Kragenspiegel links SS-Runen, rechts ein Totenkopf. Ihm grauste. Er wollte es nicht wissen. Als er klein war, da kamen Herren zu Besuch. Sie zogen sich mit Mutter zurück. Manchmal horchte er an der Tür: Warschau, Ghetto-Aufstand, Versetzung, Kamerad Haberstock, Führer, Vaterland, Argentinien, Mengele, Höß, Rudel, Eichmann. Seine Mutter hatte leise und still gelitten. Vater wurde vermisst. Wie so viele. Haberstock wuchs ohne ihn auf. Nun passierte er die Ausfahrt nach Auschwitz. Die Historiker und Politologen der Philosophischen Fakultät sprachen immer wieder über Auschwitz und das kollektive Gedächtnis, über den Holocaust, die Shoa. Haberstock wollte sich damit nicht auseinandersetzen. Sein Zuhause war die Biologie, genauer gesagt, die Familie der Biber. Bereits als kleiner Junge war er an den Bächen und Flüssen der Eifel auf der Suche nach Biberspuren gewesen. Er war damals die Rur entlang geradelt, warf seinen Blick auf die Bäume am Ufer und krachte oft mit anderen Radlern zusammen. Sein Blick galt den Bibern. Diese Nager, diese possierlichen Tierchen, wie Loriot einst sagte, sie wurden der Kern seiner Forschung. Er, Haberstock, war die Biberkoryphäe in Europa. Wäre doch gelacht, wenn er den Polen nicht helfen könnte. Vortrag und Ortsbesichtigung in Lesko und Cisna am Fluss Solinka; er würde rasch die geeigneten Maßnahmen und Methoden vorschlagen und darüber dann einen Aufsatz schreiben.
Kurze Zeit später tauchte die Abfahrt Krakau-Zentrum auf. Seine Nachbarin im Bus, die erzählfreudige Doktorandin Agnieszka Globus aus Krakau mit ihren langen schwarzen Haaren, empfahl ihm die Sehenswürdigkeiten. Sie stammte, wie sie mit einem leicht polnischen Akzent sagte, aus der Stadt an der Weichsel, promovierte in Göttingen an der Fakultät für Agrarwissenschaften und sollte eines Tages den Kleinbauernhof ihrer Großeltern in der Nähe von Krosno zu einem Musterbetrieb für biologische Landwirtschaft entwickeln. Das erzählte sie dem liebenswerten alten Herrn Professor, der seine väterlichen Augen nicht von ihr wenden konnte, auch nicht von ihrem knappsitzenden T-Shirt unter dem wärmenden Mantel und der hautengen Lederhose. Sie schwärmte mit Begeisterung und Freude von den Tuchhallen, dem Wawel, den Planty, der Universität und dem jüdischen Stadtviertel Kazimierz. Dort habe Steven Spielberg einst Szenen für »Schindlers Liste« gedreht. Dort finde jedes Jahr im Sommer ein jüdisches Kulturfestival statt. Haberstock müsse einfach im Sommer wiederkommen und nicht im Februar. Im Sommer, vor der Marienkirche, da sei es fast so wie in Italien, nur anders, aber auch wieder nicht sehr viel anders. Ach, dem Turmbläser, dem müsse er zuhören. Er spiele zu jeder vollen Stunde und verstumme plötzlich. Zur Erinnerung an den Bläser, der vor dem Angriff der Tataren mit einem Signal warnte und mitten im Ton von einem Pfeil im Hals getroffen wurde. Haberstock schauderte ein wenig. Doch das Lächeln der vollen Lippen von Agnieszka lenkte ab. Er dachte an Napoleon. Da war doch was mit einer polnischen Liebe. Die Aussichten bei der Fahrt durch Krakau vertrieben die Gedanken an den kleinen Korsen. Die Straßen waren belebt, die Straßenbahn brummte um die Innenstadt, der Turm der Marienkirche strahlte, der Wawel war leicht mit Schnee bedeckt. Haberstock reichte Agnieszka seine Visitenkarte und näherte sich ihr mit dem Restduft seines After Shaves bedrohlich, nahm erstaunt und dann erfreut die Apfelsaft-Minz-Flasche von ihr als Geschenk, die sie ihm so gerade vor die Nase hielt, damit er ihr nicht die Wange küssen konnte.
»Dzienkuje, danke, danke, liebe Pani Agnieszka. Sie haben einem alten Professor die Fahrt verkürzt und meine Vorfreude auf Krakau enorm gesteigert. Sie sind eine wundervolle Botschafterin Ihres Landes. Danke, danke. Viel Erfolg für Ihre Doktorarbeit. Wenn Sie nach Aachen kommen, bitte melden Sie sich. Ich habe auch ein Gästezimmer. Leben Sie wohl.« Das Gästezimmer war leicht geflunkert, eher ein Klappsofa im Arbeitszimmer. Er dankte nochmals für die Einladung, dann nahm er ein Taxi zur Ulica Garbarska, sein Zimmer war reserviert. Morgen würde er vortragen, übermorgen eine Exkursion nach Lesko machen. Die Luft im Bus war trocken, er trank stets zu wenig, wie so viele alte Menschen.
Haberstock und die Unbedenklichkeit
Haberstock hatte als ordentlicher Professor gezockt. Er hatte für sein Leben gern gezockt und war früher Stammgast im Aachener Casino, als dort die Kugel noch rollte. Er hatte seine Ehe verzockt und die Zuneigung seiner Kinder, sein Haus, seine Grundstücke und hätte fast Privatinsolvenz anmelden müssen, wenn er nicht einen Auftrag erhalten hätte, der ihn zurück ins wahre Leben holte. Das wahre Leben hielt ihn auch noch nach der Emeritierung über Wasser, denn die Biber, die vermehrten sich in demselben unaufhörlich.
Das Gutachten, das er damals fertigen sollte, war entscheidend für ein Urteil, von dem Millionen abhingen. Euro, nicht Biber. Und mit Blick auf die Millionen und die Biber, da entschied sich Hermann Haberstock für die Millionen. Ja, es sei vertretbar, an den Ufern der Urft einen Freizeitpark mit 150 Ferienhäusern anzulegen. Ein kleines Dorf, vor allem für die Nachbarn aus den Niederlanden, die rasch in die Eifel kommen wollten, Ferien machen, wandern, Berge, endlich mal Berge sehen. Denn vom flachen Land, da hatten sie genug: Niederlande eben. Haberstock trat damals in den Gemeinderäten als Herr Professor Haberstock von der RWTH Aachen auf. Redegewandt, ein wenig eitel, Powerpointpräsentation von seinem Assistenten erstellt. So hatte er vor den Damen und Herren des Gemeinderates in Gemünd gestanden und erläutert, dass es dem Biber an der Urft nur guttun würde, quasi eine Dauerkur, wenn er von der Urft an die Rur transloziert würde. Dem Bau einer Anlage von Eifelbungalows für die lieben Nachbarn aus Limburg und die entfernten Nachbarn aus Friesland stünde aus seiner, sozusagen biberfachlichen Sicht, nichts im Wege. Nur die Entschlusslosigkeit der Mitglieder in der Gemeindeversammlung des Kneipp-Kurortes Gemünd, gelegen am schönen Flussbett der Urft. Zudem fließe die Olef ja auch in die Urft, und somit sei klar, dass hier auf den wenigen Restmetern bis zur Urfttalsperre nun wahrlich nicht zwingend eine Familienzusammenkunft mehrerer Eifelbiberclans erfolgen müsse. Das saß. Und in einer der hinteren Reihen saß damals Dr. Wilfried Brauers, lebendig, rotwangig, aufmerksam und in feines Tuch des Aachener Herrenausstatters Wienand gekleidet. Er hatte innerlich frohlockt am Ende der Gemeinderatssitzung. Vor seinem geistigen Auge hatte er bereits damals die naturbelassenen Kleinsthäuser, die PKW mit den gelb-schwarzen Kennzeichen aus den Niederlanden, die Schlangen im kleinen Supermarkt der Gästesiedlung gesehen. Auch nicht viel anders als in Domburg, Middelburg und all den anderen Urlaubsorten an der niederländischen Küste, die wiederum die Aachener in- und auswendig kannten. Wollte man im Sommer mal einige Geschäftskontakte mit Aachener Unternehmern in Ruhe anbahnen, so brauchte man nur dort ein Haus zu mieten. Nun sollte die Retourkutsche erfolgen. Niederländer bevölkern die Eifel, wandern sich die Hacken wund, bewundern Rur, Urft, Olef und lassen Knete in den Kassen von Dr. Brauers und den Gemeinden, den Bauunternehmern, den Kneipen und Gasthöfen, in Vogelsang und Einruhr, in Woffelsbach und Gemünd, in Dreiborn und in Rurberg und Heimbach. An den exponentiell ansteigenden Abverkauf der Erbsensuppe in Mariawald hatte er da noch gar nicht gedacht. Noch am Abend nach besagter Gemeinderatssitzung hatten Dr. Wilfried Brauers und Professor Hermann Haberstock im Restaurant »La Becasse« in Aachen gegessen, mit einem edlen Tropfen auf diesen rhetorischen und inhaltlichen Erfolg angestoßen und irgendetwas vom Lamm mit ganz besonderen Kartoffeln und ganz besonderer Soße und danach ein Sorbet verzehrt. Oder so ähnlich. Die Erinnerung wurde durch den Aperitif, den schweren Rotwein, getreten von ehrlichen Füßen italienischer Winzer, einem Digestif aus den Tiefen des Schwarzwalds, beste Ware, so eingetrübt, dass am Folgetag die Aktien des Aspirinherstellers einen Satz nach oben machten.
Haberstock hatte Dr. Brauers kennen und schätzen gelernt. Brauers, der Macher, der Gestalter, der die Eifel aus dem Dornröschenschlaf holte, sie wachküsste und Arbeitsplätze schuf. Da mussten die Biber mal hintenanstehen. Und Haberstock wurde wieder flüssig, liquide, konnte endlich mal eine Kollegin zum Essen einladen, war wie befreit, nahm Einladungen zu Kongressen und Vorträgen an. So gelangte er als Emeritus zur Leopoldina im Winter 2018 und stolperte über tote Biber. Böses Omen.
Mit großer Spannung wurde Haberstock nun in Krakau im »Dom Profesorski« in der Ulica Garbarska erwartet, dem Gästehaus der zweitältesten Universität Europas. Prof. Zamek, Leiter des Zentrums für Flora und Fauna der Vorkarpaten, suchte händeringend neue Methoden zu Bekämpfung des Nagers. Der Marschall der Woiwodschaft Vorkarpaten saß ihm im Nacken. Forschungsgelder wurden mit Fragezeichen versehen. Dieses verdammte Biberproblem müsse in den Griff zu bekommen sein. Die Vertreter von Tourismus und Landwirtschaft standen dauernd beim Marschall im Büro. Langsam bekam er Albträume. Zum Glück gab es noch Wodka aus Łancut, der beruhigte seine Nerven und führte zu einem tiefen Schlaf wie in der kommunistischen Kindheit.
Haberstock trank auf seinem Zimmer die Flasche mit der Apfelsaft-Minz-Mischung in einem Zug leer. Erfrischt legte er sich auf das Bett und freute sich auf das Abendessen im Restaurant Hawelka auf dem großen Marktplatz mit Blick auf die Tuchhallen und einen Vorabbesuch in der Marienkirche. Der Altar von Veit Stoß, den wollte er unbedingt betrachten. Ach, das Leben war immer wieder für Überraschungen gut. Die Freude nahm kein Ende, denn er wurde nicht mehr wach.
Tiere, Träume, Terroristen
Freitagnachmittag Anfang Februar 2018 in Aachen. Karnevalszeit. Kurze Session. Schon am 12. Februar war Rosenmontag. Offiziere der Oecher Penn huschten am Dom vorbei auf dem Weg in Richtung Eurogress. Es regnete. Überall Berliner und Puffel und Fettgebäck in den Auslagen der Bäcker. Kam man abends an einer Kneipe vorbei, dröhnte es: »Hurra tsching bumm, Hurra tsching bumm – die Prinzengarde ist da!« Der Prinz mit Hofstaat war unterwegs. Der »Orden wider den tierischen Ernst« war am Samstag, dem 27. Januar 2018, an Winfried Kretschmann verliehen worden, den grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Der knarzende Kretschmann hatte sich wacker geschlagen. Gregor Gysi, linker Liebling des Establishments, hielt eine knackige Laudatio. Alles war im Lot. Ein großer Teil des Publikums freute sich auf die nächste Ordensverleihung: Karlspreis an Emmanuel Macron im Mai. Die Herren warteten auf Brigitte und die Damen auf Emmanuel. Beim Oberbürgermeister stand das Telefon nicht still. So viele frankophile Freunde im Bürgertum waren ihm neu.
Kommissar Fett hatte Schuhe gekauft. Cappuccino im »Café zum Mohren«. Am Abend »Three Billboards outside Ebbing, Missouri« mit Iska. Im Grunde alles in Ordnung. Fast.
Vorbereitung auf Kurdendemo in Köln. Sondereinsatzkommando Bonn in Bereitschaft. Schwere Ausschreitungen möglich. Die Absage für den Kinobesuch von Iska, durchtrainierte Leiterin des SEK Bonn, kam wie so oft. Die Zahl der Überstunden wuchs ins Unendliche. Reichsbürger, Linksautonome, sogenannte Aktivisten im Hambacher Forst, Clans im Ruhrgebiet, Folterknechte unter den Flüchtlingen. Seit dem Angriff auf »Charlie Hebdo« war die Sicherheitslage angespannt. Iska, der Sonnenschein aus Bonn, fand kaum noch Zeit, um mit Michael Fett durch die Eifel zu wandern, ins Kino oder Theater zu gehen. Die Einsätze im Hambacher Forst gingen ihr nicht aus dem Kopf. Selten hatte sie so radikale Demonstranten erlebt. Im Grunde waren es keine Demonstranten. Sie verklärten ihre kriminellen Ausschreitungen mit einem höheren Ziel und instrumentalisierten die friedlichen Protestierer für ihren Hass auf das Gesellschaftssystem. Baumfallen, mit Fäkalien beschmierte Pfeile, Bitumenbomben, Steinschleudern, Zwillen mit Stahlkugeln – das ganze Arsenal. Der Zweck heiligte für sie die Mittel. Die Gleichsetzung von Braunkohletagebau mit Nationalsozialismus war die verquere Spitze dieser ideologischen Verblendung und beschädigte die friedvollen Massenproteste der bürgerlichen Umwelt- und Klimaschützer. Iska trennte Müll, fuhr Rad, nahm den Zug, kaufte in den Supermärkten unverpackte Ware. Natürlich musste sich was verändern. Das war ihr so klar wie vielen Kollegen. Der Hass des harten Kerns im Wald ängstigte sie. Hier ging es nicht um den Wald. Hier ging es um das System, um die Demokratie.
Iska und ihr Team mussten die Einsatzhundertschaft aus Aachen unterstützen, wenn die gewalttätigen Umweltterroristen mit ihren verklebten Fingerkuppen auf die Polizei losstürmten. Die Rädelsführer wurden identifiziert und von ihrem SEK-Team festgenommen. Meist nur für kurze Zeit. Sie zweifelte am Rechtsstaat, an seiner Wehrhaftigkeit. Immer mehr Frust baute sich auf und schwappte in ihre Beziehung zu Michael Fett, der in Aachen Mordfälle aufklärte. Fett beruhigte mit seinem Interesse an Literatur, Film und Theater, seinen manchmal irritierenden Ansichten zum Lauf der Zeit. Immer wieder kamen ihnen die Einsätze dazwischen. Nicht viele Polizistinnen leiteten in Nordrhein-Westfalen ein Spezialeinsatzkommando. Sie spürte den Druck. Er beflügelte sie. Sie war ein Vorbild für viele andere SEK-Leiter und hielt Vorträge an der Führungsakademie. Fett kam abhanden. Sie sahen sich kaum noch. Jetzt lief Iska den Rhein entlang. Acht Kilometer, wie jeden Tag.
Kriminalhauptkommissar Michael Fett, Ende 50, kleiner Bauchansatz, volles dunkelbraunes Haar, blaue Augen, zumeist in Jeans und Lederjacke, zog sich mehr und mehr zurück. Seine Liebe zu Iska dämmerte dahin. Wenn man nichts zusammen unternimmt, nur noch über SMS und App kommuniziert, dann wird das Zusammensein steril. Sein Beziehungschaos der letzten Jahre setzte er fort. Statt Stetigkeit wieder nur hin und her. Wollte er das so? War er zufrieden mit seinem Leben? Er, das Einzelkind, der seine Wünsche nur sehr spät äußerte, gerne charmierte, flirtete und doch Angst vor Nähe hatte. Er wischte seine Selbstreflexionen beiseite. Spaghetti Bolo, der Krimi »Matto regiert« von Glauser und danach »Aspekte« im ZDF. Sein Abendprogramm stand. Oder doch ein rascher Kontrollgang durch die Innenstadt? Besuch bei seinen griechischen Freunden. Es regnete ununterbrochen. Fett blieb zu Hause. Das Fernsehen ödete ihn an, Zwangsabgabe für niveaulose Berieselung. Früher, ja früher war alles besser. Er lachte über sich und seine Gedanken. Dachte an Werner Herzog und Fassbinder, an das aktuelle Fernsehspiel. Gebannt war er damals von »Aguirre, der Zorn Gottes« und »Berlin Alexanderplatz«. Jetzt: alberne Talkshows mit ewig gleichen Fernsehgesichtern, Dokumentationen mit schnellen Schnitten, blödsinniger Hintergrundmusik, die dem Zuschauer sofort signalisierte, was er fühlen und denken soll. Kein kantiger Scholl-Latour, kein trinkfester Werner Höfer, kein Helmut Lange mit intelligenten Fragen zu »Kennen Sie Kino?«. Stattdessen Kochsendungen rund um die Uhr und irgendwelche Schmonzetten mit Altstars, die nach Gruft oder Wiederbelebung aussahen. Die Selbstfeier der B-Promis auf der Mattscheibe nahm kein Ende. Zum Glück hatte ihm Kollege Schmelzer gezeigt, wie er mit seinem PC in die Mediathek von ARTE und der ARD reinkam. Heute keine Glotze. Keine bewegten Bilder. Und der Facebookscheiß konnte ihm auch gestohlen bleiben. Schmelzer zeigte ihm diese Tierbilder, Aufnahmen vom Frühstück, Mittag- und Abendessen, diese grottenschlechten Kommentare, dieses »Hallo, ich bin in Malle« oder »Hallo, Ihr Lieben, gehe gerade Gassi«. Mit dem Krimi von Glauser machte er es sich auf dem Sofa bequem und tauchte in die Welt dieser mörderischen Irrenanstalt ein. Kurz vor dem Kapitelende fielen ihm die Augen zu. Das Buch sank zu Boden. Auflösung folgt.
Fett träumte, er träumte im Alter immer intensiver. Von den Sommerferien auf dem Bauernhof in Langerwehe. Vom Kuhstall, dem Geruch von Stroh, Mais, Zuckerrüben, Gras, dem frisch gebackenen Kuchen am Freitag aus dem Kohleherd. Der kleine Fett mümmelte den Marmorkuchen, die Erwachsenen kamen mit kotigen Stiefeln in die Küche, wo der Fliegenfänger von der Decke hing. Er fuhr mit dem kleinen roten Massey Ferguson durch die Felder, den Wehebach, mähte Mais und roch das Maschinenfett, den Diesel. Kuhstallmist, frische Milch, Gülle – alles vermischte sich in den Träumen von der Kindheit, vom langen Sommer auf dem Bauernhof. Die Strohballen waren noch rechteckig und konnten von einem Mann geworfen werden. Nicht diese Riesenrollen, die sofort in Plastik eingeschweißt und am nächsten Tag von niederländischen Sattelschleppern abgeholt wurden.
Keine Angst vorm Fliegen
Schnitt. Er flog in seinem Traum. Mit 14 Jahren im Segelflugzeug in Bergstein. »Ka 8 startklar. Brandenbergseil anziehen.« Fett schoss damals in den Himmel, gezogen von der Winde, angetrieben von einem V8-Zylinder-Motor. Herbstflug. Rauschen. Blick auf Obermaubach, den Qualm der Kühltürme in Weisweiler, auf Vossenack, Nideggen, das Tal der Rur. Ruhiges Gleiten. Manchmal ein Lupfer. Thermik. Jetzt scharf links reinhängen. Mitnehmen. Höher, immer höher. Nicht in die Wolken. Verboten. Kein Blindflug in den Wolken. Fett, bis zum 17. Geburtstag immer der kleinste Pilot, glitt auf seinem mit Blei beschwerten Sitzkissen im Traum über die Eifel. »Ka 8, langsam mal runterkommen. Wir machen Schluss.« »Verstanden, komme. Ende.« Schräger Landeanflug, Klappen raus, das Rauschen über dem Kalltal, nachjustieren, Schnauze nach vorne, langsam abfangen. Punktlandung. Die Kameradschaft, das Lachen, Fett und sein Malzbier. Er schlief mit den anderen unter der Tragfläche. Im Sommer, wenn die Maschinen aufgebaut auf dem Platz stehen blieben. Im Kalltal morgens Katzenwäsche. Dann den ganzen Tag an der frischen Luft, am Himmel, im Schleppauto für die Windenseile, im Gras. Eine unbeschwerte Jugend, eine Sommerjugend. Von Ostern bis Anfang Oktober an jedem Wochenende in Bergstein auf dem Segelflugplatz. Der erste Alleinflug. Ohne Vorwarnung kam die Ansage seines geschätzten Fluglehrers. »Du bist so weit. Dreimal hintereinander. Okay für dich?« Selbstverständlich. Dann brach der Schweiß aus. Er war 14. Erster Flug. Uff. Zweiter Flug. Alles ging glatt. Dritter Flug. Sanft setzte er den Doppelsitzer, die gutmütige ASK 13 mit der Werbung für ein Küchenstudio auf die Landebahn. Alle Mitglieder kamen. Er legte sich über die Tragfläche. Dann schlug jeder zu. Auf den Hintern. Ein Ritual. Erleichterung, Glück, riesengroße Freude. Auch sein Freund Norbert war dran. Auch drei Alleinflüge. Was für ein Tag im August 1974. Malzbier, hart gekochte Eier, Stullen und manchmal ein Schweineschnitzel. So verbrachte er die Wochenenden seiner Jugend ab Ostern auf dem Flugplatz. Der Wecker beendete den Traum.