Kitabı oku: «Tote Biber schlafen nicht», sayfa 3
Tod über der Urft
Der Anruf von Schmelzer störte ihn bei Kaffee und Marmeladenschnitte gegen sieben Uhr am Samstagmorgen. Er las gerade einen Artikel über den Contergan-Prozess und war froh, dass einige Journalisten tiefer bohrten.
»Wir müssen nach Vogelsang. An der Victor-Neels-Brücke hängt ein Toter. Die Kollegen aus Euskirchen ertrinken in Arbeit. Wir sollen übernehmen.«
»Euskirchen. Victor Neels? Vogelsang? Warum wir schon wieder?«
»Der Tote kommt aus Aachen. Geschäftsführer der Eifel-All-Inklusive GmbH, kurz EAI, Dr. Wilfried Brauers. Die Euskirchener Kollegen bearbeiten Todesfälle in Zülpich und Mechernich. Zuständigkeit zwischen Polizeipräsidium und Kreispolizeibehörde Euskirchen ist abgestimmt.«
»Super. Holen Sie mich ab. Bin in zehn Minuten fertig mit meinem gigantischen Frühstück.«
Fett legte die Aachener Zeitung beiseite. Noch ein Kaffee. Vogelsang, das bedeutete 45 Minuten Autofahrt.
Aachen schlief noch, als sie vom Templergraben aus losfuhren in Richtung Himmelsleiter. Der Schnee war geräumt, nur noch Fetzen am Straßenrand. Kaum Verkehr.
»Was wissen wir?«
»Ein Jäger namens Vogt überquerte gegen 6.50 Uhr die Victor-Neels-Brücke. Kam von seinem Hochsitz. Zuerst sah er nur das verknotete Seil. Dann schaute er runter. Da pendelte Dr. Brauers über der Urft. Geschossen hat er nichts.«
»Wer?«
»Der Jäger. Kein Rotwild, nichts.«
»Kriminaltechnik schon da?«
»Klar. Der Tote hat seine Papiere in der Tasche. Brauers, 62, geschieden, wohnte am Lousberg in Aachen. Selbstständig. Macht in Immobilien, Tourismus, Projektentwicklung. Mitglied zahlreicher Vereine. Außerplanmäßiger Professor an der Fachhochschule Aachen für Betriebswirtschaft.«
»Zeugen?«
»Keine. Mann, das sind ja Serpentinen hier in der Eifel. Zuletzt waren wir vor Jahren in Einruhr. Und all die Badewannen auf den Feldern. Sollen die Kühe darin plantschen?«
»Wieder Vogelsang. Hab keine guten Erinnerungen. Badewannen. Die Felder sind voll mit alten Badewannen. Viehtränken oder für die Bauern, können die im Sommer während der Arbeit mal ein Entspannungsbad nehmen«, Fett sprach mehr zu sich.
Über die Himmelsleiter ging es Richtung Lammersdorf, Kesternich, runter nach Einruhr, hoch zum Kreisverkehr vor Camp Vogelsang. Die Schranke war geöffnet. Sie bretterten über die breite Panzerstraße zur Ordensburg. Alle Straßen waren gut geräumt. Die Straßenmeistereien waren bereits seit vier Uhr im Einsatz. Eifel, da ist es immer einen Schlag kälter als im reflexiven Talkessel von Aachen, dachte Fett.
Malakoff
Sie steuerten auf das Wachgebäude zu. Die belgischen Streitkräfte hatten hier ihr Militärgefängnis und einen kleinen Shop eingerichtet. In großen weißen Buchstaben stand links auf dem Gebäude neben der Durchfahrt »Malakoff«. Das belgische Wappen hing noch an alter Stelle. Schritttempo.
»Was heißt denn Malakoff?«, wollte Schmelzer wissen.
»Gute Frage. Wohl kaum ein Vorort von Brüssel. Hat was mit einer Befestigungsanlage zu tun. Ich glaube auf der Krim«, Fett dachte an die belgischen Panzereinheiten, die ihm als Kind auf dem Schulweg begegnet waren. In Düren wurden sie verladen, um ins Manöver zu fahren. Er stand damals mit seinem Schulranzen auf dem Bürgersteig der Schulstraße, die heute Eisenbahnstraße heißt, und bestaunte die Stahlkolosse, die quer durch Düren von der Kaserne zur Verladerampe am Bahnhof donnerten. Amerikanische M41Walker Bulldog der belgischen Garnison. In Vogelsang trainierten sie. Manchmal winkten die Panzerkommandanten. Er winkte zurück, während der Boden von den Ketten vibrierte, die Luft nach Diesel roch. Sonntags radelte er mit seinem Vater an der Kaserne vorbei. Sie hielten an, wenn sie die Panzer sahen. Oft M113 Mannschaftstransportpanzer, die sah der kleine Fett auch abends in der Tagesschau, wenn aus Vietnam berichtet wurde. Amerikanische Soldaten mit Zigaretten im Mundwinkel winkten in die Kamera. Der Sprecher verkündete allerdings Bad News. Tet-Offensive, völlig überraschend. Am nächsten Tag tauchten B 52 Bomber auf dem Bildschirm auf. Sollte die Überlegenheit der Amerikaner zeigen. Phosphorblitze zuckten durch Reisfelder, ein nacktes Mädchen rannte schreiend auf einer Straße den Soldaten und der Kamera entgegen. Hubschrauber landeten auf dem Dach der US-Botschaft in Saigon, wurden vom Deck eines Flugzeugträgers ins Meer gekippt. »Agent Orange«, auch so ein Name. Entlaubte Wälder, verkrüppelte Kinder. Er dachte an das feurige Rauschen der Starfighter F 104, die in Nörvenich mit Nachbrenner starteten. Silberne Raketen mit Stummelflügeln am Himmel über Düren. Vier F 104 F bohrten sich im Juni 1962 in eine Braunkohlengrube bei Frechen. Zusammenstoß beim Kunstflugtraining. Kein Pilot überlebte. Geschichten, die immer wieder erzählt wurden.
Alles schoss in Sekundenschnelle durch Fetts Synapsen, als sie über Malakoff sprachen. Dunkel erinnerte sich Fett an den Krimkrieg des 19. Jahrhunderts im Geschichte-Leistungskurs. Festungsanlagen bei Sewastopol, die hatten irgendetwas mit dem Namen Malakoff zu schaffen.
Links hinter dem Wachgebäude ragten Rampen empor, auf denen zuletzt Leopard 2 aufgebockt wurden. Schmelzer steuerte in Richtung Schwimmhalle, rechts stand der kastrierte Fackelträger der Nazis, dem die Männlichkeit durch Dauerfeuer abhandengekommen war. Sie fuhren Schritttempo Richtung Brücke. Hier oben war es fünf Grad kälter als in Aachen, der Boden fast gefroren, die Kiesel knirschten, das Gras auf dem Sportplatz mit Reif überzogen. Rot ging im Osten die Sonne auf. Die Kombis der Kriminaltechnik parkten vor der Brücke, hinter ihnen ein Leichenwagen aus Gemünd. Leichter Schneeregen fiel langsam auf die grau-braune Landschaft.
Brauers lag auf der Brücke. Die Spuren des Stricks waren deutlich am Hals zu sehen.
»Morgen. Was haben wir?«, Fett wandte sich an den Kollegen Dietzel, der das Team leitete.
»Tod muss irgendwann nach Mitternacht eingetreten sein. Handelsübliches Seil, drei Meter lang. Ich vermute Genickbruch, als er fiel. Wird die Obduktion zeigen. Keine Anzeichen von Kampf. Auf der Brücke die üblichen Spuren von Wanderern, aber der Schneeregen hat viel unbrauchbar gemacht. Der Tote kann aus drei Richtungen auf die Brücke gekommen sein. Erstens der Weg, den Sie genommen haben. Zweitens aus Richtung Urfttalsperre, für Mountainbiker geeignet. Schmaler PKW schafft das auch. Drittens der Urftseerandweg aus Richtung Gemünd. Gleiche Qualität. Ein Wanderweg aus Richtung Kloster Mariawald scheidet meines Erachtens aus. Schnellster Zugang ist euer Weg. Der Jäger Klaus Vogt hat ihn entdeckt. Ihm ist nichts aufgefallen. Könnte Selbstmord sein. Dann müsste Brauers in der Nacht hierhergefahren sein. Seinen Jaguar haben wir nirgends gefunden. Er ist nicht angezogen für einen Ausflug nach Preußisch Sibirien. Eher Tanzveranstaltung oder Abendessen.«
»Selbstmord? Erfolgreicher Unternehmer hängt sich so spektakulär auf? Schon möglich.« Fett schritt über die Brücke. Eine moderne Stahlkonstruktion mit einem riesigen Pylonen.
»Das Seil werden wir genau untersuchen. Knoten sieht einfach aus. Kein Seemannsknoten.«
»Könnte irgendwas ins Wasser gefallen sein?«
»Klar. Die Strömung ist nicht stark, die Urft nicht zugefroren. Wir können da unten alles absuchen.«
»Machen Sie das. Warum so spektakulär? Sowohl Mord als auch Selbstmord. Warum diese Brücke? Wer hat sie gebaut? Wer war Victor Neels? Gibt es Überwachungskameras für das Gelände? Gibt es Frühschwimmer im NS-Hallenbad? Wann fuhr der erste Bus? Wir müssen die Ausgangspunkte der beiden Wanderwege prüfen. Hat dort jemand etwas gesehen? Wo war er gestern? Karneval tobt noch zehn Tage. War er in Aachen auf dem Bäckerball oder im Theater? Wer hat ihn zuletzt gesehen? Lassen Sie die Kollegen die Befragung hier vor Ort machen. Die sollen zum Schwimmbad gehen und fragen, ob jemand etwas bemerkt hat.«
Das Auge des Führers
Die Frühschwimmer drehten ihre Runden im Hallenbad des Führernachwuchses. Alles bestens erhalten. An der Wand die starken Germanen, im Becken eine Mischung aus durchtrainierten Körpern und den Ergebnissen ungesunder Ernährung mit Lust auf Tattoo. Niemand hatte etwas bemerkt. Die Frühschwimmer, eine eingeschworene Gemeinschaft, halfen nicht weiter.
Es war neun Uhr, und Fett nahm von der Brücke aus den steilen Weg in Richtung Ordensburg. Der Turm überragte alles. Wie ein dunkles Auge blickte er über die kahlen Hügel und auf die Urfttalsperre, in der der Wasserpegel niedrig war. Das Auge des Führers, dachte Fett. Vor über 80 Jahren erschallten hier die Morgenbefehle. Eine monströse Anlage für den Nachwuchs der NSDAP. Hitler war hier oben, Reichsarbeitsführer Robert Ley baute diese Trutzburg. Arbeit für Preußisch Sibirien, für die arme Eifel. Führernachwuchs für den Lebensraum im Osten. Aus Lebensraum wurde Totenraum. Handlanger des Todes, ideologisch fest verankert, erfüllten sie den Willen des Führers: Tod und Vernichtung für Lebensraum im Osten. Langsam schritt Fett bergan, vorbei am Schwimmbad, über den Sportplatz und an den Hundertschaftshäusern entlang in Richtung Turm. Die Anlage war nun ein Erinnerungsort mit Ausstellung, Seminarräumen, Gastronomie, Buchshop, Führungen und Akademie. Sein Handy klingelte. Schmelzer.
»Wo stecken Sie?«
»Unter dem Auge des Führers.«
»Wo?«
»Kurz vor dem Turm.«
»Ich hol Sie ab. Die sind hier fertig.«
»Kontrollieren Sie den Ticketautomaten. Wer hier rein will, muss normalerweise ein Ticket ziehen und nachher eins für die Ausfahrt. Die Schranke war zwar oben, vielleicht funktionierte sie noch in der Nacht.« Fett stand auf dem Adlerhof. Bäcker Paschorke aus Gemünd brachte frische Brötchen zum Restaurant. Personal traf ein. Putzfrauen verabschiedeten sich. Schmelzer keuchte die Stufen hoch.
»Victor Neels war ein belgischer Kommandant von Camp Vogelsang. Er hat viel für die Zusammenarbeit mit den deutschen Nachbardörfern geleistet. War sehr beliebt bei den Menschen. Das war mit seinen Vorgängern nicht immer so. Denken Sie an Major van Bellen. Deshalb wurde die moderne Stahlbrücke nach Neels benannt.«
Fett nickte gedankenverloren.
»Warum diese Mühe? Vielleicht Selbstmord? Etwas spektakulär. Wann öffnet der Shop?«
»Um zehn Uhr, Chef. Die ersten Mitarbeiter aus den umliegenden Orten treffen gerade ein.«
»Sagen Sie ihnen, dass die Brücke noch gesperrt bleibt. Und hören Sie sich mal um. Victor Neels, Brücke, Brauers. Vielleicht hat jemand etwas mitbekommen.«
Schmelzer fand nichts heraus. Das Samstagsteam des Besucherzentrums konnte nicht weiterhelfen. Sie waren schockiert über den Toten an der Brücke. Alle wussten von Victor Neels, dem letzten Kommandanten des Camps, der oft noch mit Freunden Vogelsang besuchte. Brauers, nie gehört. Bis auf den Leiter des Besucherservices. Erwin Burda hatte den Namen mal in einer Leitungsbesprechung aufgeschnappt. Konnte sich aber nicht mehr genau erinnern.
Hoboken und Alkuin
Gegen Mittag trafen Fett und Schmelzer in Aachen ein. Das Appartement von Dr. Brauers wirkte aufgeräumt. Eine Musterwohnung der gehobenen Preisklasse: Möbel aus Italien, Chuck Close und Neo Rauch an den Wänden, Toplage am Lousberg, Blick auf die Stadt. Die KTU nahm das Notebook und einige Aktenordner mit. Fett schaute die CD- und Plattensammlung durch. Brauers besaß einen exklusiven Plattenspieler für die alten Vinylscheiben. Franz Zappas »Over-Nite Sensation« lag obenauf. Nicht schlecht, dachte Fett. Lange nicht mehr gehört.
»Lebte er allein?« Fett blickte zu Schmelzer.
»Sieht so aus.« Schmelzer öffnete die Schubladen des Designerschreibtisches und wühlte in den Unterlagen.
»War geschieden. Frau und Tochter leben in einem Penthouse in Hoboken mit Blick auf Manhattan. Feine Adresse in New York.«
»Hoboken? War ich noch nie. Nachbarrevier von Popeye Doyle. French Connection.« Schmelzer schüttelte den Kopf über Fetts Assoziationen. »Brauers habe ich doch oft in der Zeitung gelesen. Immobilien, Messen, Kunst und Kultur. War er mal Karnevalsprinz?« Fett sprach mehr zu sich als zu Schmelzer.
»Kann sein. Jeder war mal Prinz. Zumindest von den ganz, ganz wichtigen Herren in der Kaiserstadt. Quasi alle Nachfolger Karls des Großen.«
»Was Sie alles wissen, Schmelzer. Fast so gut wie Einhard.«
»Besser als Einhard. Alkuin.«
»Wow. Wie der Hund vom Dompropst. Dann mal los, Alkuin. Bin auf Ihre These gespannt.«
»Alkuin – Hund vom Dompropst? Eher der Spindoctor von Karl dem Großen. Also: viele Jobs, viele Feinde. Neid, Konkurrenz, Rache, Gier, Eifersucht. Bei Brauers kommt alles zusammen. Suchen Sie sich was aus. Ein Tausendsassa, sagte man doch früher so. Der machte Geld aus allem.«
»Sehr konkret. Besten Dank, Alkuin vom Steppenberg. Fangen wir mal ganz klein an. Freitagsprogramm von Brauers. Gibt es einen Terminkalender oder steht alles im Handy? Haben wir sein Handy? Gibt es eine Chefsekretärin?«
»Marion Schnell. Sie leitet sein Büro im Kapuziner Karree. Brauers Handy haben wir nicht gefunden. Treibt vielleicht gerade in Richtung Urfttalsperre.«
»Rufen Sie Frau Schnell an. Hurtig. Um nicht zu sagen schnell.«
Fett ging durch die Zimmer. Ihm kam es so vor, als ob er in eine Musterwohnung für »Schöner Wohnen« eingedrungen sei. Nicht nur aufgeräumt, sondern steril. Er dachte an sein eigenes Arbeitszimmer. Immer kippte ein Stapel mit Büchern um. Ständig waren die alten Schallplatten in falschen Hüllen. Irgendwo lagen seine Socken verstreut. Hier nicht. Alles an seinem Platz. Vielleicht ist das das Geheimnis des Erfolgs. Alles an seinem Platz. Ordnung als oberstes Prinzip. Auch am Bücherregal. Klassiker des ökonomischen Denkens. »Feuchtgebiete« neben dem Krimi »Allerseelenschlacht«. Managerbücher wie »Heute arm, morgen reich. Karriere ohne Kurven« und Alltagsweisheit wie »Glücklichsein mit ernster Heiterkeit«, mehrere Exemplare seiner Doktorarbeit im Fach Wirtschaftsgeografie zum Thema »Landschaftsraum, Ökologie und Tourismus. Eine Symbiose.« Kein großer Leser, der große Macher. Die DVD-Sammlung bestand aus Arthaus-Klassikern von der ZEIT. Manche noch verschweißt. Woran hatte Dr. Brauers Freude? Am Kontostand? An Zeitungsartikeln? An VIP-Einladungen? An einer Jacht, an Häusern? War er ein Wohltäter? Sammelte er Orden? Oder alles zusammen?
»Mit wem haben wir es zu tun, Schmelzer? Wer war der Mann, was trieb ihn an?«
Schmelzer staunte im Bad über die Pflegeserie für Männer, während er seit Jahren zum Schrecken seiner Ehefrau Anne immer noch Old Spice benutzte.
»Ich tippe auf Macht. Macht macht mächtig und sexy. Da gehen alle Türen schnell auf. Keine Wartezeiten. Sofort Termine. VIP-Lounge am Airport. Businessclass bei der Lufthansa. Premierenabo im Stadttheater. Eigene Lounge am Tivoli, na, darauf kann man ja jetzt verzichten. Vielleicht steht auf dem Flugfeld von Merzbrück eine Cessna. Wer weiß? Antrieb? Gestalten, machen, bewegen, schaffen, nicht vergessen werden. Etwas hinterlassen. Was treibt die Menschen an? Ruhm, Ehre, Geld, Ansehen.«
»Nicht schlecht, mein lieber Alkuin. Wie kam er so weit? Hochgearbeitet? Schauen Sie sich seinen Lebenslauf an. Hier finden wir nichts mehr. Eher noch die KTU auf seinen Computern und dem technischen Gedöns. Auf zu seiner Sekretärin. Die wissen alles, auch das, was nicht in der Zeitung steht.«
Die bitteren Tränen der
Marion Schnell
Der Brunch nach dem Bäckerball war ihre Rettung. Die Nacht zu kurz, der Morgen verschattet. Ihr Chef irgendwann verschwunden. Sie tanzte bis um fünf Uhr. Die »Vier Amigos« rockten den Eurogress – wie jedes Jahr, wie immer. Die Hälfte des Lebens kam auf Marion Schnell zu. Im Sportstudio hielt sie sich topfit. Marion war immer dabei. Sie lachte gerne und laut. Sie tanzte die Konkurrentinnen an die Wand, und als Schatten von Dr. Wilfried Brauers, Karnevalsprinz a. D., gelangte sie manchmal auf die Einladungsliste für Feste und Feiern. Sie war mehr als seine Sekretärin, mehr als seine Büroleiterin. Damals war sie noch mehr. Bis in die Nacht im Büro, zum Abschluss Champagner aus dem Bürokühlschrank, die Freude über den Erfolg, all die Stunden, all die Tage, all die Wochen. Sie lebte den Job, sie liebte ihren Chef. Die coole Eleganz, Überblick, Kreativität, sein Gespür für Chancen, Entwicklungen. Wilfried wusste, wie die Welt funktioniert. In ihren Augen. Sie spürte, dass es nicht lange halten würde. Brauers war Trophäenjäger. Aber bei ihr war es anders. Hatte er ihr gesagt, der blonden Marion Schnell, mit den blauen Augen, der engen Jeans, den endlosen Beinen, nach denen sich trotz Me-Too-Debatte die Männer auf der Straße umschauten. Außerdem lächelte sie gerne, und das Wort »Flirt« stand nicht auf ihrem Index der verbotenen Wörter und Taten.
Der letzte Apérol war einer zu viel. Samstagsbrunch im Hause Paffenhoven. Ihr Chef wollte auch kommen. Das Tattoo am Fußgelenk juckte. Kaum zu sehen. Rouge, Designerjeans, Lederjacke. Wird schon. Ihr knatschgelber VW Beetle parkte in der Tiefgarage vom Eurogress. Sie bestellte ein Taxi für die Fahrt zum Brunch. Das Handy klingelte.
Verweint saß sie wenig später auf ihrem Sofa und hielt einen Teddy im Arm. Das Rouge war mit den Tränen auf die Lederjacke gelaufen. Von dort auf die hellblaue Jeans. Fett und Schmelzer trafen kurz nach ihrem Anruf ein und kondolierten zum Tod von Dr. Wilfried Brauers.
Schmelzer schaute sich um. Seilgraben, Innenstadtlage, Mietwohnung. Marion Schnell war Stammkundin der großen Möbelhäuser in der Region. Hier und da ein Accessoire aus einem Designerladen. Krimis von Martin Suter. BRIGITTE woman, »Landlust«, eine CD von »AnnenMayKantereit«, Einladung zum Bäckerball. Eine alleinstehende Frau, attraktiv, bei einem der Macher der Stadt beschäftigt.
»Wann haben Sie Ihren Chef zuletzt gesehen?« Fett sprach sie mit ruhiger Stimme an.
»Gestern. Auf dem Bäckerball. Er saß vorne. An der Bühne. Bei den wichtigen Leuten.«
»Wo saßen Sie?«
»Hinten. Mit meinen Freunden.«
»Haben Sie eine Uhrzeit für uns, wann Sie ihn zuletzt gesehen haben?«
»Nach den ›Vier Amigos‹. Das war gegen 23 Uhr. Er ging raus, winkte mir zu. Ich blieb an meinem Tisch. Sie können ja meine Freunde fragen.«
»War er alleine?«
»Ja.« Sie wischte sich die Tränen ab. Fett reichte ihr ein neues Papiertaschentuch.
»Scheiße. Wie ist das passiert?« Marion Schnell pendelte zwischen Wut und Trauer.
»Darüber können wir noch nichts sagen.«
»Sie sind doch von der Mordkommission. Wie ist er ermordet worden? Wer tut so etwas?«
»Frau Schnell, auch Selbstmord kommt in Betracht. Sie kennen doch den Satz aus jedem ›Tatort‹: Wir stehen am Anfang der Ermittlungen.«
»Quatsch. Wilfried Brauers hätte nie Selbstmord begangen. Auch wenn er in letzter Zeit etwas nachdenklicher war, weil er so viele Bälle in der Luft hatte.« Marion Schnell blickte ernst und bestimmt. »Das Einkaufszentrum ›Karls-Quartier‹ ist doch gerade fertig. Die Kaufverträge für Objekte in Bonn, Neuwied, das neue Schwimmbad in Düren sind unterschriftsreif. Bei Heimbach an der Rur der Ferienpark für die Niederländer. Sogar irgendwo in Polen bei Salino oder Solina plante er ein riesiges Objekt. Nächstes Jahr sollte er den Vorsitz des Lions Club Salvator übernehmen. Wilfried hat sich nicht umgebracht.«
»Hatte er Feinde? Ist Ihnen etwas aufgefallen?« Schmelzer schaltete sich ein.
»Neid, Konkurrenz. Die großen Macher können Sie an einer Hand abzählen. Wilfried war einer von ihnen. Immer im Wettbewerb. Das war Alltag.«
»Geht es etwas konkreter?«
»Nein. Wilfried war korrekt. Konkurrenz ja, keine Drohungen.«
»Seine Frau?«
»Kein Kontakt. Seit der Trennung vor 15 Jahren. Sie bekommt sein Geld. Macht sich ein schönes Leben in New York.«
»Hatte er keine Freundin?«
»Dr. Wilfried Brauers war mit seinem Job liiert. Ansonsten Affären. Nichts Bedeutendes.«
»Und aktuell?«
»Keine Ahnung. Irgendwas lief immer. Wir haben das Thema ausgeklammert.«
»Warum?«
»Weil wir selbst mal kurz zusammen waren. Damit kamen wir klar. War alles erledigt. Trauerarbeit. Wenn Sie verstehen. Sie erfahren es ja sowieso.«
»Trauerarbeit? Dann können Sie ja jetzt weitermachen.«
»Find ich geschmacklos von Ihnen.«
»Frau Schnell, wir ermitteln. Ihr Chef hing heute Morgen an einer Brücke in der Eifel. Alles sehr unangenehm. Vor allem für ihn. Wir ziehen Ihnen alles aus der Nase.«
»Hören Sie! Vor wenigen Stunden habe ich Wilfried noch lebendig gesehen. Jetzt kommen Sie rein, quatschen von Mord oder Selbstmord und wollen von mir wissen, wer ihn umgebracht haben könnte. Meine Existenz ist am Arsch! Seine Alte in Hoboken erbt alles. Ich steh auf der Straße und kann bei irgendeinem Bürofuzzi Exceldateien für Mindestlohn tippen. Soll ich jetzt Hurra rufen und Ihnen eine Mörderliste geben?«
»Frau Schnell, so haben wir das nicht gemeint. Je mehr Sie uns sagen, umso schneller können wir den Fall aufklären.«
»Dann klären Sie mal auf. Und lassen Sie mich in Ruhe. Man verliert nicht einen Menschen wie ein altes Portemonnaie. Wir kannten uns über 20 Jahre.«
»Rufen Sie uns bitte an, wenn Ihnen etwas einfällt. Sie erreichen uns immer.«
»Den Terminkalender von Dr. Brauers. Wo finden wir den?«
»War in seinem Handy und die geschäftlichen Termine auf meinem PC im Büro. Passwort ›Wilfried2003‹.«
Fett betrachtete ihre lackierten Fingernägel, die verweinten Augen, die blonden Strähnen. Wenigstens kein Nagelstudio, dachte er. Ob sie viele Tattoos hat? Er sah nur am linken Fußgelenk einen Buchstaben. Sah nach einem W aus. Für Wilfried? Die einsamen Abende im Büro konnte er sich gut vorstellen. Von ihr ging eine durchdringende erotische Ausstrahlung aus. Es knisterte. Ob Schmelzer das auch spürte? Der Kollege schaute interessiert die Inneneinrichtung an. Wahrscheinlich holte er sich Ideen für sein Fertighaus am Steppenberg. Er reichte Marion Schnell die Hand. Selbst da noch spürte er das Kribbeln, die Ausstrahlung einer lebensfrohen und verdammt attraktiven Frau Ende 30, Anfang 40.