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Säkularisierungsschritte
Die Säkularisierung von Politik und Völkerrecht, das hier in erster Linie interessiert, erfolgte in Teilschritten. Oft wird übersehen, dass das Denken in theologischen Kategorien oder zumindest die Arbeit mit theologischen Hintergrundannahmen auch nach 1648 noch der Normalfall war. Im vollen Wortsinn säkularisiertes Denken gab es bei für das Völkerrecht relevanten Autoren des 17. Jahrhunderts im Grunde nur bei Thomas Hobbes (1588–1679) und Baruch Spinoza (1632–1677). Bei beiden führte es zu einem skeptischen Blick auf das Völkerrecht. Hobbes etwa betrachtete die Durchsetzung der Norm, die Sanktioniertheit in der Realität, als entscheidendes Kriterium für Recht, weshalb er dem Völkerrecht die Rechtsqualität absprach. Das Denken der meisten Völkerrechtsautoren des 17. Jahrhunderts, von denen gleich näher die Rede sein wird, war nur teilweise säkular. Unmittelbare Bezugnahmen auf theologische Fragen und direkte Ableitungen rechtlicher Regeln von Gott spielten zwar eine weit geringere Rolle als noch im 16. Jahrhundert. Fast alle arbeiteten aber weiterhin mit der Annahme, die Welt und das Recht seien göttliche Schöpfungen.9
Es können zwei Hauptvarianten dieser (teil-)säkularisierten Völkerrechtslehre unterschieden werden. Einige Autoren, die zu den Klassikern der frühen Völkerrechtswissenschaft gehören, sollen mit ihrem Hauptwerk kurz erwähnt werden. Verschiedene Autoren des 17. Jahrhunderts wandten sich zunächst den Usanzen des internationalen Verkehrs zu. Sie interessierten sich für die Praxis, wie man die sich konkret stellenden Probleme real löste, welche Normen man als verbindlich empfand. Diese Strömung wird in der Regel als früher völkerrechtlicher Positivismus bezeichnet. Er ist vom sozialwissenschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts zu unterscheiden, wobei der gemeinsame Nenner dieser Positivismen der Akzent auf dem eindeutig Vorfindlichen ist. Erwähnung verdient unter den Autoren dieses frühen völkerrechtlichen Positivismus etwa Richard Zouche (1590–1661), Professor in Oxford, dessen Hauptwerk den Titel «Iuris et iudicii fecialis, sive, iuris inter gentes» trägt und 1650 erschien. Ein anderer bedeutender Positivist war der Niederländer Cornelis van Bynkershoek (1673–1743), der mit dem 1702 veröffentlichten Werk «De dominio maris dissertatio» ein wichtiges Buch zur Praxis des Seerechts verfasste.
Ein anderer Teil der Autoren setzte, vereinfacht gesagt, die Vernunft an die Stelle Gottes.10 Die Vernunft wurde für sie zur Quelle des Völkerrechts. Rezeptionsgeschichtlich die grössten Wirkungen gingen von Hugo Grotius (1583–1645) aus, dessen Hauptwerk «De iure belli ac pacis» ist. Es ist 1625, mitten im Dreissigjährigen Krieg, erschienen und hat Völkerrecht und Völkerrechtswissenschaft über Jahrhunderte stark beeinflusst. Grotius wird manchmal, überzeichnend, als «Begründer» des säkularen Völkerrechts bezeichnet. Er befasste sich nicht nur mit grundsätzlichen Fragen, sondern auch intensiv mit Detailregeln und spurte manche Entwicklung vor. Auch er hatte aber bedeutende Vorgänger, vor allem spanische Autoren, die allerdings noch stärker im mittelalterlich-theologischen Denken verhaftet waren. Sie hatten in der Folge der Entdeckung Amerikas Fragen aufgeworfen und behandelt, die im Kern völkerrechtlicher Natur waren. Zu erwähnen ist etwa die während der nächsten Jahrhunderte wichtige Frage nach dem – in heutiger Terminologie – völkerrechtlichen Status indigener Völker. Letzter Geltungsgrund des Rechts ist aber auch bei Grotius noch Gott. Er ging allerdings in Anlehnung an den Philosophen Gregor von Rimini davon aus, dass das Naturrecht auch ohne Gott gelten würde. Säkularität ist hier zumindest angedacht.
Ein anderer bedeutender, vernunftrechtlicher Völkerrechtsautor war Christian Wolff (1679–1754). Wolff, Philosophieprofessor in Halle, veröffentlichte 1749 sein Hauptwerk «Ius gentium methodo scientifica pertractatum». Er ging davon aus, dass die vernünftige Natur die Staaten dazu verpflichtet, sich in einer universellen «civitas maxima» zu verbinden und zusammenzuarbeiten. Wolff betont die Entwicklungsfähigkeit von Menschen und Staaten und gilt als Vertreter der «idealistischen» Denkrichtung. Weiter verdient unter den Naturrechtsautoren Emer de Vattel (1714–1767) Erwähnung. Sein Hauptwerk «Droit des gens, ou principes de la loi naturelle» erschien 1758. Vattel war der Erste, der das Völkerrecht konsequent als aus der Naturvernunft folgendes Recht zwischen Staaten und nicht bloss zwischen Herrschaftsträgern beschrieb. Damit «verschwand» der einzelne Mensch gewissermassen im Staat. Vattels Denken ist wesentlich, aber nicht nur von Ideen eines «realistischen» internationalen Weltbilds geprägt. Es hatte grossen Einfluss und war etwa den «Founding Fathers» der Vereinigten Staaten gut bekannt.
Beispiel: Fall Mendoza
Viele bedeutende völkerrechtliche Institutionen sind aus der Praxis herausgewachsen. Der «Fall Bernardino de Mendoza» etwa aus dem späten 16. Jahrhundert ist anschaulich für die Entstehungsweise von Völkerrecht «von unten».11 Er war für die Herausbildung der diplomatierechtlichen Institutionen der Erklärung einer Person zur persona non grata und der Immunität von Diplomaten von grosser Bedeutung. Politisch ging es in dem Fall um die Frage, wie eine Krise zwischen Spanien und England, die sich zum Krieg hätte auswachsen können, mit möglichst wenig Gesichtsverlust auf beiden Seiten deeskaliert werden konnte.
Bernardino de Mendoza war von 1578 bis 1584 Botschafter Spaniens in England. Er pflegte als Katholik enge Kontakte zu Jesuiten und unterstützte im englischen Machtkampf die Anhänger der katholischen Königin von Schottland, Mary Stuart, gegen die protestantische Königin Elizabeth I. Tudor. Als sich herausstellte, dass Mendoza gar in ein Komplott gegen Elizabeth verwickelt war – sie sollte durch Mary Stuart ersetzt werden –, stellte sich für England die Frage, wie es mit Mendoza verfahren sollte. Man befürchtete im schlimmsten Fall einen Krieg mit Spanien und bat deshalb Alberico Gentili, Professor für Zivilrecht in Oxford, um seine Meinung. Auf dessen Anraten hin wurde Mendoza von der Königin aufgefordert, das Land binnen 15 Tagen zu verlassen. Zugleich schickte England einen Gesandten nach Spanien, der mitteilte, dass der Konflikt Englands mit Mendoza nicht Spanien als Land betreffe, sondern nur Mendoza als Person. England sei bereit, einen anderen Botschafter Spaniens zu akzeptieren. Gentili vertrat zudem die Ansicht, der Botschafter könne Immunität beanspruchen, also gerichtlich nicht belangt werden. Wir sehen an diesem Fall auch den Einfluss, den Wissenschaftler als Gutachter und Ratgeber auf die Entstehung und Entwicklung des frühen Völkerrechts hatten.
Vom Monarchen und Lehensnehmer zum Staat
Wer waren die Teilnehmer dieses frühen Völkerrechts? Das ist keine einfach zu beantwortende Frage. Die Rede vom neuzeitlichen Staatensystem, das man sich als Gesellschaft von Staaten mit eigener (Rechts-)Persönlichkeit vorstellt, vereinfacht übermässig. Im 16. Jahrhundert war das Völkerrecht noch stark von der mittelalterlich-feudalistischen Vorstellung geprägt, Beziehungen zwischen Herrschaftsträgern seien persönlicher Natur. Es handle sich um Beziehungen zwischen zwei Menschen, nicht zwischen Staaten. Das Lehenssystem war eine Ordnung zwischen Individuen und nicht zwischen als verselbstständigt gedachten politischen Einheiten gewesen. Es fusste auf persönlichen Treuebeziehungen.12 In Frankreich, Spanien und England existierten zwar Frühformen des Territorialstaats, was aber nicht bedeutete, dass international bereits «der Staat» als Träger von Rechten und Pflichten auftrat. Die Dauer der rechtlichen Beziehungen zwischen den Herrschaftsträgern begrenzte sich im Regelfall auf die Lebenszeit der beteiligten Monarchen, was einiges über das Grundverständnis dieser Beziehungen aussagt.
Der Abstraktionsprozess zum Völkerrecht als Recht eines «Staatensystems» mit den Staaten als einzigen Teilnehmern vollzog sich in mehreren Schritten. Der erste bestand darin, dass in Verträgen statt des blossen Namens des Herrschers oder der Herrscherin der Titel erwähnt wurde. Die Funktion des Herrschers rückte in den Vorder-, seine Person in den Hintergrund. Das war etwa bei einigen Verträgen des aus mehreren Teilvereinbarungen bestehenden Friedens von Utrecht von 1713 der Fall, der den Spanischen Erbfolgekrieg beendete. Der zweite Schritt war, dass man sich den Staat – wesentlich beeinflusst durch die Schriften von Thomas Hobbes – als Wesen mit spezifischen Eigenschaften vorzustellen begann. Hobbes hatte ihm Eigenschaften eines alttestamentarischen Ungeheuers zugeschrieben, des Leviathan, was die Vorstellung vom Staat als einer Einheit förderte.13
Ein letzter Schritt schliesslich war das formale Aufrücken des Gemeinwesens in die Teilnehmer- und Subjektstellung. Frühe Fälle der Erwähnung von Staaten in Verträgen betrafen stets Republiken. Hier gab es keinen Monarchen, der persönlich verpflichtet sein konnte, die Existenz von Republiken förderte vielmehr die Vorstellung vom Staat statt dem Monarchen als Souverän und Teilnehmer des Völkerrechts.14 Der Friede von Osnabrück nach dem Dreissigjährigen Krieg nannte als Staaten nur die Niederlande und die «Kantone der Schweiz». Die Frage, ob der Staat oder der Monarch Teilnehmer des völkerrechtlichen Verkehrs sei, blieb aber auch nach 1648 in der Schwebe. Noch im 18. Jahrhundert war die Situation nicht eindeutig. Zwar stellte die naturrechtliche Völkerrechtslehre das Völkerrecht mittlerweile als Recht zwischen souveränen, unabhängigen, einander rechtlich gleichgestellten Staaten dar, klassisch im erwähnten Hauptwerk von Emer de Vattel. In der Praxis aber wurden Verträge oft noch von Monarchen als Herrschaftsträgern abgeschlossen. Teilnehmer des Vertrages zwischen Grossbritannien und Frankreich im Rahmen des Friedens von Utrecht etwa waren Prinzessin Anne und Louis XIV. Erst mit der Französischen Revolution und dem Ende des Reiches 1806 sollte sich das neue Denken endgültig durchsetzen.
Souveränität, Mächtegleichgewicht, Kolonisierung
Souveränität als Angelpunkt
Das Souveränitätskonzept, Angelpunkt des neuen politischen Denkens und auch bald des Völkerrechts, verdient nähere Betrachtung. Frühere politische Gemeinwesen kannten es nicht. Der Verkehr zwischen ihnen kam ohne es aus, was zur Frage führt, weshalb genau es entstand, auf welches politische Problem es eine Antwort war. Jean Bodin suchte 1576 in «Les six livres de la République» eine Lösung für das Problem verheerender Bürgerkriege in den durch die Reformation gespaltenen Ländern. Adelsheere bekämpften sich, oft unerbittlich, weil es um nichts weniger als die religiöse Wahrheit ging. Bodin suchte deshalb nach einer Instanz, die der Gewalt wirksam ein Ende setzen konnte.15 Die Lösung war ein König, der über den Parteien stand, eine Instanz, die im Innern ein Gewaltmonopol besass. Ausserdem musste sie nach aussen unabhängig handeln können, was zur Zeit Bodins allerdings bloss ein sekundärer Aspekt der Souveränität war. Das Gewaltmonopol im Innern war das Entscheidende. Mit Blick auf das Völkerrecht verdient dies durchaus Hervorhebung, da das Souveränitätskonzept in seinen Anfängen nicht primär ein Konzept für die Aussenbeziehungen war. Jedenfalls sind dies die zwei Seiten der Souveränität, die wir heute noch prüfen, wenn wir bei einem «Staatsaspiranten» die Staatsqualität prüfen. Es braucht neben Volk und Territorium eine Staatsgewalt, das heisst ein Gewaltmonopol im Innern, und Unabhängigkeit nach aussen. Nordzypern etwa, das 1974 von der Türkei errichtet wurde, mag im Innern eine konsolidierte Staatsgewalt besitzen, es kann jedoch nach aussen nicht unabhängig handeln. Es ist kein völkerrechtlich anerkannter Staat.
Das Konzept der Souveränität wurde nach der Formulierung durch Bodin rasch populär, da es die Stellung der Herrscher und den absolutistischen Staat stärkte. Es war wichtig für die Schaffung des modernen Staats als hochleistungsfähiger Organisationsform politischer Herrschaft, und es trug dazu bei, den Staat unabhängig von der Existenz des konkreten Monarchen als Einheit zu denken. Ob Staatsbildungsprozesse glückten, Gewaltmonopol und Souveränität erlangt wurden, entschied sich wesentlich daran, ob ein Herrscher die mit der Einlösung dieser Ambition verbundenen finanziellen Lasten – für Gesandtennetz, Kriegführung mit Söldnerheeren, Hof und Schuldendienst – zu tragen vermochte.16 Das moderne Völkerrecht ruht auf diesem Denken in Kategorien souveräner Staaten. Es schuf die Grundarchitektur der neuen Ordnung: Keine Macht, kein souveräner Staat sollte über den anderen Staaten stehen. Dass es bis heute etwa keine für alle Staaten obligatorische internationale Gerichtsbarkeit gibt, steht in direktem Zusammenhang mit der damaligen Entwicklung. Staaten sind internationalen Gerichten nur dann unterworfen, wenn sie sie vorher akzeptiert haben.
Gewaltanwendung und «ius ad bellum»
Das irritierendste Merkmal des Völkerrechts nach 1648 ist zweifellos das «ius ad bellum» – das Recht zum Krieg der Staaten. Wie war es möglich, fragt man sich aus heutiger Sicht, dass eine Rechtsordnung eigenmächtige Gewaltanwendung für legal erklärte? Heute kennt die UNO-Charta in Artikel 2 Ziffer 4 ein Verbot der Gewaltanwendung. Selbst die Gewaltandrohung ist verboten, also das, was man früher als «gunboat diplomacy» bezeichnete. Man liess Kriegsschiffe auflaufen oder Armeen aufmarschieren und verlangte den Abschluss eines Vertrags. Wie aber konnte es sein, dass das Völkerrecht vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg ein Recht zum Krieg kannte, das zur Idee eines zivilisierten Verkehrs zwischen Staaten doch offensichtlich quer steht? Man muss sehr genau hinsehen, um darin einen Sinn zu erkennen. So paradox es klingt: Unter den Umständen der damaligen Zeit konnte eine Entrechtlichung und Entmoralisierung der Gewaltanwendung zur Beruhigung der Situation beitragen. Um dies zu verstehen, muss man beim mittelalterlichen Rechtsdenken beginnen. Im christlichen Universalreich und noch im 16. Jahrhundert verletzte willkürliche Gewalt gegen christliche Gemeinwesen die göttliche Ordnung. Eigenmächtige Gewaltanwendung war verboten. Es gab eine Lehre vom gerechten und rechtmässigen Krieg, die «bellum iustum»-Doktrin, die genau festlegte, unter welchen Voraussetzungen Gewalt ausnahmsweise zulässig ist.17 Vor allem brauchte es eine «iusta causa», einen Rechtfertigungstitel. Infrage kamen im Wesentlichen Selbstverteidigung und Wiederherstellung des Friedens, nicht etwa aber Eroberung. In Europa setzte diese Doktrin Expansionsgelüsten und Gewaltanwendung bis ins frühe 16. Jahrhundert einigermassen erfolgreich Grenzen. Zumindest hemmte sie die Gewalt.
Mit der Konfessionsspaltung veränderte sich die Grundkonstellation. Jede Konfession wähnte die religiöse Wahrheit auf ihrer Seite, die Bekämpfung der jeweils anderen war nun Kampf gegen Irrlehren verbreitende Häretiker. Die «bellum iustum»-Doktrin büsste unter solchen Vorzeichen ihre hemmende Rolle ein. Binnenchristliche Religions- und Bürgerkriege prägten in der Folge das 16. und 17. Jahrhundert bis 1648, und der Dreissigjährige Krieg, der wesentlich durch komplizierte Bündnisse und die Vorstellung der Unverhandelbarkeit religiöser Wahrheit verursacht wurde, war ein katastrophaler Gewaltexzess. Die «bellum iustum»-Doktrin war selbst zum Problem geworden. Jede Seite leitete aus ihr die Legitimation eigener Gewaltanwendung ab, weshalb Völkerrechtsgelehrte schon im 16. Jahrhundert versuchten, die «bellum iustum»-Doktrin zu lockern. Die Kompliziertheit der rechtlichen Verhältnisse war Teil des Gewaltproblems geworden. Der bedeutendste spanische Völkerrechtsgelehrte des 16. Jahrhunderts, Francisco de Vitoria (1483–1546), hatte die Frage aufgeworfen und teilweise auch bejaht, ob ein Krieg beiderseitig rechtmässig geführt werden könne. Jedenfalls gewann die Vorstellung immer mehr an Boden, dass der Krieg einem ritualisierten mittelalterlichen Duell ähnlich und bei Einhaltung bestimmter Formalien rechtlich beidseitig zulässig sei.
Der Dreissigjährige Krieg mit seinem Patt zwischen den Konfessionen verstärkte das Bedürfnis nach Vereinfachung der rechtlichen Verhältnisse. An seinem Ende ging man davon aus, dass alle selbstständigen Herrschaftsträger über das «ius belli ac pacis» verfügen, das Recht zur Kriegserklärung, zum Bündnis und Friedensschluss.18 Der Krieg wurde der Idee nach zu einer Angelegenheit lediglich zwischen den betroffenen Parteien. Carl von Clausewitz’ berühmte, allerdings erst später geprägte Formulierung vom Krieg als der «Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln» überzeichnete zwar, besass aber fraglos einen wahren Kern. Der Krieg wurde damit begrenzt und eingehegt. Gewalt unter anderen ging einen nicht mehr automatisch etwas an. Das wirkte neuen Flächenbränden entgegen. Im 18. Jahrhundert setzte sich schliesslich die Vorstellung durch, dass das Recht zur Kriegführung Ausfluss der Souveränität sei. Auch wenn es auf den ersten Blick schwer verständlich klingt: Die Entstehung des «ius ad bellum» war Folge des Bedürfnisses nach Eindämmung der Gewalt. Die Bedingungen seiner Entstehung allerdings sollten sich später überleben.
Mächtegleichgewicht
Wenn das Recht selbst nicht für Frieden sorgt, was dann? Man setzte auf das Gleichgewicht der Mächte. Das Denken in den Kategorien eines Machtgleichgewichts drang ab dem späten 15. Jahrhundert vom Städtesystem Oberitaliens immer mehr in die Beziehungen der europäischen Mächte ein. Grundidee war, dass kein Staat stärker werden durfte als die anderen Staaten zusammen.19 Dem Prinzip lag die Idee einer Koalitionsdrohung der übrigen zugrunde, des Zusammenschlusses gegen den Mächtigsten. Die Gleichgewichtsidee bedeutete eine fundamentale Abkehr vom Universalreichsdenken. Die Existenz eines Gleichgewichts war zudem ein wichtiger Grund, das Völkerrecht zu beachten. Es wirkte imperialen Ambitionen innerhalb Europas entgegen. Das Gleichgewichtsdenken stützte damit die Geltung des Völkerrechts. Die Bedeutung des Prinzips war zeitweise so gross, dass es selbst konfessionelle Loyalitäten zurückzudrängen vermochte. Frankreich etwa kämpfte im Dreissigjährigen Krieg nicht aufseiten der Katholischen Liga, sondern der Protestantischen Union; ein katholischer Triumph hätte dem ebenfalls katholischen Rivalen Habsburg eine zu dominierende Stellung in Europa verschafft. Das Gleichgewichtsprinzip fand im Frieden von Utrecht, der den Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) beendete, explizit Erwähnung. Ob es lediglich politischer Natur war oder ob ihm zeitweise ein rechtlicher oder rechtsähnlicher Charakter zukam, ist umstritten.20
Im 16. Jahrhundert richtete sich das Prinzip vor allem gegen Spaniens Dominanzansprüche. Dieses versuchte, mittels Kolonialhandelsmonopolen eine Weltherrschaft zu errichten, gegen die sich die anderen europäischen Mächte wehrten, vor allem Frankreich, die Niederlande und England. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann Spaniens Stellung nach dem Verlust der Niederlande 1609 sowie Portugals 1641 immer mehr zu erodieren. Das Prinzip richtete sich nun vornehmlich gegen das mächtiger gewordene Frankreich, das aus dem Dreissigjährigen Krieg gestärkt hervorgegangen war.21 Bis Mitte des 18. Jahrhunderts war Frankreichs Stellung als neue Vormacht kaum angefochten. Mit dem Verlust der amerikanischen Kolonien an Grossbritannien im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) aber änderte sich dies. Es setzte ein allmählicher Zerfall der französischen Stellung ein, wobei die letzte und folgenreiche Allianz gegen Frankreich jene in den Napoleonischen Kriegen (1792–1815) war. Der Aufstieg Grossbritanniens zur dominierenden Macht begann im 18. Jahrhundert und erreichte im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt. Das Gleichgewichtsprinzip sollte bis zum Ersten oder, je nach Lesart, gar bis zum Zweiten Weltkrieg eine zentrale Rahmenbedingung des Völkerrechts bleiben. Man kann über die Leistungsfähigkeit des Völkerrechts bei der Friedenswahrung im Grunde nur informiert sprechen, wenn man das Zusammenspiel von Völkerrecht und Gleichgewichtsdenken vor Augen hat.