Kitabı oku: «Wirtschaft im Kontext», sayfa 2

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Ökonomie – deskriptiv oder normativ?

Wir werden es zuförderst also mit der Untersuchung von Begriffen zu tun haben, wie es ja für eine wissenschaftsphilosophische Perspektive auch nicht überraschen kann. Es sollte aber gleich an dieser Stelle gesagt werden, dass es die Begriffe und Thesen der Ökonomen der philosophischen Analyse etwas schwer machen, da sie die Eigentümlichkeit haben, im Diskurs zu ›schillern‹. Man weiß nie ganz genau, ob man es mit einem deskriptiven, beschreibenden, oder normativen, politisch-fordernden Diskurs zu tun hat. Dies ist eine Folge des oben beschriebenen ›schmutzigen‹ Charakters der Ökonomie, d. h. der merkwürdigen Tatsache, dass ihre ›Atome‹, die Individuen, sich als frei verstehen und somit Gegenstand zugleich von Deskriptionen (Beschreibungen) und Präskriptionen (Vorschriften) sein können.

Wir werden sehen, dass die moderne Volkswirtschaftslehre von Anfang an mit dem Problem befasst war, den Freihandel nicht nur zu untersuchen, sondern auch zu rechtfertigen. Gleiches gilt freilich für die kritischen Stimmen. Die Schöpfer der Ökologischen Ökonomie wollten nicht nur besser verstehen, was der Mensch im Wirtschaften tut, sondern wollten die Umwelt auch wirklich schützen (Kapitel 4). Dasselbe in der Diskussion um das Gemeineigentum als Grenze des Privateigentums (Kapitel 3): für Garrett Hardin war die Grenze des Privateigentums auch die Grenze der Verantwortung, die jeder von uns übernimmt, und sollte mithin möglichst weit hinausgeschoben werden. Wenn ihm Elinor Ostrom funktionierende Modelle der selbstorganisierten Allmendebewirtschaftung als Alternative zur Dichotomie Markt-oder-Zentralgewalt entgegenhielt, so war ihr der praktische Erfolg selbstverständlich Bürge der politischen Forderung nach solchen Wirtschaftsweisen.

Diese deskriptiv-normative, theoretisch-praktische Doppelgesichtigkeit nimmt an der Grenze zwischen Wirtschaft und Kontext, für die wir uns hier interessieren, eine charakteristische Gestalt an. Zum einen beobachtet man historisch eine Ausdehnung des Markts in den Kontext hinein. Nicht nur geographisch greift der Markt immer weiter um sich, sondern auch in seinen Kernländern dringt er immer tiefer in das Leben der Menschen hinein, und immer mehr Beziehungen werden in solche zwischen Marktakteuren verwandelt. Dieses Phänomen wird oft vereinheitlichend als »Imperialismus« bezeichnet. Zum anderen beobachtet man auch, dass in den Sozialwissenschaften immer mehr Phänomene in ökonomischem Vokabular beschrieben und analysiert werden. Angesichts dieser Entwicklung wird oft – und übrigens nicht nur von Kritikern – von »ökonomischem Imperialismus« gesprochen (Economics imperialism oder Economism). Der Wirtschaftsnobelpreisträger Gary S. Becker betrachtet repräsentativ für diese Richtung die Partnerschaft als ein »effizientes Verhandeln« und fasst in seiner Preisrede zusammen:

[Wenn] ein Mann und eine Frau sich entscheiden, zu heiraten, Kinder zu haben, oder sich scheiden zu lassen, so versuchen sie damit ihren Nutzen zu maximieren, indem sie eben Kosten und Nutzen abwägen. Sie heiraten, wenn sie sich gegenüber dem Singledasein einen Gewinn versprechen, und lassen sich scheiden, wenn dies ihnen eine Steigerung ihres Wohlergehens in Aussicht stellt. […] Reiche Paare tendieren nach dieser Theorie dazu, enorm zu profitieren, indem sie ihre Ehe aufrechterhalten, was für viele arme Paare nicht der Fall ist. Eine arme Frau mag wohl Zweifel daran haben, ob es sich lohnt, mit einem Langzeitarbeitslosen verheiratet zu bleiben.6

Dieses Phänomen des ökonomischen Imperialismus verlangt freilich Fingerspitzengefühl in der Bewertung. Gewiss, Beckers Analyse ruft Befremden hervor oder empört sogar, und Becker spielt vermutlich bewusst mit dieser Reaktion. Aber ist dies wirklich einer unstatthaften Ausdehnung des ökonomischen Vokabulars geschuldet? Der französische Soziologe Pierre Bourdieu schlug 1975 im Grunde in verwandtem Sinne vor, die Wissenschaft nicht als eine uneigennützige Suche nach der Wahrheit zu beschreiben, sondern als einen Kampf um das Monopol an Autorität, welche er als eine Form »symbolischen Kapitals« begriff. Das Verhalten der Forscher wird entsprechend als »Investmentstrategie« mit »Profitabsicht« vorgestellt.7 Dies ist schon weit weniger dazu angetan, moralische Empörung hervorzurufen. Die Wissenschaftssoziologen Bruno Latour und Steve Woolgar betonten in einer späteren Studie, dass Wissenschaftler tatsächlich selbst diese ökonomische Begrifflichkeit verwenden, wenn sie über ihr Verhalten reflektieren.8

Ohne hier weiter in die Tiefe zu gehen, können wir zumindest den Vorbehalt aussprechen, dass das Problematische an Beckers Analyse nicht unbedingt in der Verwendung des ökonomischen Vokabulars liegt. Sein Ansatz krankt vielleicht nicht an einem inadäquaten Vokabular, sondern schlicht daran, dass er die Komplexität seines Gegenstandes rettungslos unterschätzt. Gleichwohl kommt gerade aufgrund des deutlich spürbaren Mangels seiner Analyse der normative Unterton deutlicher zum Vorschein: Becker legitimiert kapitalistisches Profitdenken, indem er es ›naturalisiert‹, d. h. als ein natürliches Phänomen und Naturzustand des Menschen hinstellt. Für ihn ist ohnehin das ganze Leben Markt, und die Ausdehnung des Marktvokabulars zeigt an, dass der praktischen Ausdehnung des Markts keine legitimen Grenzen gezogen werden können.

Es mag reichen, diese Doppelgesichtigkeit an dieser Stelle einmal auszusprechen. Der Leser ist damit gewappnet und muss nicht wiederholt auf diese allgegenwärtige Eigentümlichkeit aufmerksam gemacht werden.

Aufbau des Buchs

Das folgende Kapitel 2 stellt knapp die ›Orthodoxie‹ dar und erläutert, in welchem Sinne diese das Wirtschaftsgeschehen als autonomen Prozess begreift, und durch welche Gesetze dieser bestimmt werde. Auch die problematischen Punkte, wie sie in der allgemeinen Diskussion wohlbekannt sind, werden an dieser Stelle bereits benannt. In den darauf folgenden Kapiteln 3 bis 5 steht jeweils eine ›Grenze‹ im soeben spezifizierten Sinne im Zentrum: In Kapitel 3 die Grenzen des Individualismus in kollektiven Phänomenen, in Kapitel 4 die Grenzen von Privateigentum und Markt in einer gemeinsam geteilten Welt, und schließlich in Kapitel 5 die durch eine endliche Natur gesetzten Grenzen. Im sechsten Kapitel, dem Schlusskapitel, werden wir versuchen, die Quintessenz aus diesen drei Perspektiven zu gewinnen. Eine minimale gemeinsame Konsequenz besteht darin, die Wirtschaftswissenschaft um eine historische Dimension zu erweitern, die zugleich auch eine globale, nämliche weltgeschichtliche ist. Wir werden aber auch aktuelle Ansätze kennen lernen, die diesen formalen Rahmen durch eine vereinheitlichende Theorie zu füllen versuchen. Ob diese Ansätze von Erfolg gekrönt sein werden, muss noch als eine offene Frage betrachtet werden, aber sie erlauben uns in jedem Fall bereits einen neuen Blick auf die aktuelle, multisystemische Krise.

2 Die Orthodoxie der Neoklassik: Wirtschaft als autonomer Prozess

2.1 Überblick Ökonomie

Eine Einführung in die Philosophie der Wirtschaftswissenschaften ersetzt keine Einführung in die Wirtschaftswissenschaften, darf sie aber auch nicht voraussetzen. Denn dieses Buch richtet sich an ein allgemeines Publikum, welches an Ökonomie und Philosophie interessiert ist. Ohne also den verwegenen Anspruch zu erheben, in diesem Kapitel einen Einstieg in die Mikroökonomie zu ermöglichen, sollen die Grundlagen dieser Disziplin doch so dargelegt werden, dass sich der ökonomische Laie ein zur anschließenden philosophischen Reflexion hinreichend plastisches Bild von ihrem begrifflichen Räderwerk machen kann. Wer darüber hinaus einen Einstieg in die Wirtschaftswissenschaften sucht, dem stehen heute schon einige Werke bereit, die die heterodoxen Ansätze umfassend berücksichtigen.9

2.1.1 Terminologische Vorbemerkung: Ökonomie und Wirtschaft

Aus Gründen terminologischer Sorgfalt beginnen wir mit einigen Vorbemerkungen über die Begriffe der Ökonomie und der Wirtschaft. In diesem Buch geht es sowohl um Wirtschaftswissenschaft als auch um Wirtschaft. Wir werden uns dabei erlauben, zwanglos von »Ökonomie« zu sprechen, auch wenn dies eine Uneindeutigkeit mit sich bringt. Anders als in Physik oder Psychologie, in welcher begrifflich zwischen »physisch« und »physikalisch«, »psychisch« und »psychologisch« unterschieden werden kann, steht dann nämlich kein Begriffspaar zur systematischen Unterscheidung zwischen dem Gegenstand und der Lehre zur Verfügung. Das Wort »ökonomisch« steht für beides, weshalb ein Ausdruck wie »ökonomisches Problem« zweideutig ist und sowohl ein wirtschaftliches wie ein wirtschaftswissenschaftliches Problem bezeichnen kann.10 Wenn man sich dessen aber einmal bewusst ist, kann man sich diesen Wortgebrauch ohne Gefahr des Missverständnisses erlauben.

Die Wirtschaftswissenschaft oder Ökonomie als Disziplin erforscht ihrem Namen nach »die Wirtschaft«. Unter dieser Bezeichnung verstehen wir nun nicht das Gesamt der (privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich organisierten) Unternehmen, so wie dies in Politik und Tagespresse oft der Fall ist, wenn z. B. von den »Interessen der Wirtschaft« gesprochen wird. Vielmehr ist das Gesamt der wirtschaftlichen Handlungen der Menschen gemeint. Man könnte vielleicht weniger missverständlich von »dem Wirtschaften« sprechen.

Es hat sich durchgesetzt, unter den wirtschaftlichen Handlungen diejenigen zu verstehen, die der planmäßigen Bedürfnisbefriedigung unter gegebenen Ressourcen und gegebenen technischen Möglichkeiten dienen. Wenngleich diese Definition oft auch von den Kritikern der herrschenden Lehre akzeptiert wird, sollte man ihr gleichwohl misstrauen, da diese Definition nicht neutral, sondern vielmehr schon auf das Programm der Neoklassik zugeschnitten ist.11 Sie legt sich in der Rede von der Bedürfnisbefriedigung nämlich erstens einseitig auf die Perspektive des Konsumenten fest, legt es zweitens insbesondere nahe, seine Bedürfnisse als gegeben zu betrachten (als »exogene Variable«, wozu später mehr), und neigt drittens dazu, den Wirtschaftsprozess auf den Markt als Mechanismus der effizienten Ressourcenallokation zu reduzieren. Es wird zu überlegen sein, ob nicht eher der Fokus auf den gesamtgesellschaftlichen Prozess zu legen ist, wobei insbesondere die Offenheit gegenüber der Umwelt nicht verdeckt werden sollte.

Einige Autoren schlagen in diesem Sinne wieder vor, vom Wirtschaftsprozess als dem gesellschaftlichen »Metabolismus« (Stoffwechsel) zu sprechen, wie dies etwa für Karl Marx selbstverständlich war.12 Diese Redeweise beutet eine biologische Analogie aus, die es erlaubt, bestimmte Merkmale des Wirtschaftsprozesses hervorzuheben, die er mit dem Organismus teilt: in beiden Fällen hat man es mit einem offenen, dynamischen und selbstregulierenden System zu tun. Der ›Lebensprozess‹ der Gesellschaft besteht darin, unter gegebenen Ressourcen und technischen Möglichkeiten seine wesentliche Struktur im Stoffwechsel mit der Umwelt selbstorganisiert zu reproduzieren. Ein anderer Autor erwägt, von der Wirtschaft allgemeiner als einem »autopoietischen System« zu sprechen, was es erlaubt, auch die Unterschiede zu benennen, welche die Wirtschaft vom biologischen Organismus trennen. Anders als bei diesem beruht der Organisationsmodus des Wirtschaftsprozesses beispielsweise auf kommunikativen Prozessen und zweckhaften Handlungen der Individuen.13

Dieser weitere Begriff des Wirtschaftens bietet die Möglichkeit, auch eine Einwirkung der kollektiven Prozesse auf die Bedürfnisse der Individuen zu erfassen (sprich die Bedürfnisse als »endogene« Variable zu behandeln), was sich als nützlich und vielleicht sogar erforderlich erweisen wird.

Die klassisch unterschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten umfassen die Produktion, die Distribution, insbesondere den geldvermittelten Tausch, sowie die Konsumtion der Güter. Fließen die Güter und andere Faktoren wieder in die Produktion ein, statt konsumiert zu werden, spricht man von Allokation statt von Distribution. Neben diesen klassischen Aktivitäten werden heute auch der Umgang mit den Ressourcen und den Abfällen betont. Die wirtschaftlichen Akteure umfassen neben Privatpersonen oder Privathaushalten auch Unternehmen, Regierungen und Zentralbanken, aber auch die teilweise äußerst mächtigen Kapitalgesellschaften.14

2.1.2 Wirtschaftswissenschaft

Halten wir uns an das Selbstverständnis des Fachs, können wir vorab folgendes über die Wirtschaftswissenschaften sagen. Die Wirtschaftswissenschaften zerfallen in die beiden Teildisziplinen der Betriebswirtschaftslehre (business administration), welche die Entscheidungsprozesse in Unternehmen zum Gegenstand hat, und die Volkswirtschaftslehre (economics), älter Nationalökonomie oder auch Politische Ökonomie, die in der Hauptsache die Produktion und Distribution bzw. Allokation von Gütern untersucht. Wie auch der englische Name anzeigt, entspricht sie am ehesten dem, was man gemeinhin unter einer Erforschung der Wirtschaftszusammenhänge versteht. Sie ist es, die uns in diesem Buch interessieren wird.

Die Volkswirtschaftslehre zerfällt grosso modo in die beiden Teilgebiete der Mikro- und Makroökonomie (bzw. -ökonomik). Erstere setzt bei den verschiedenen Wirtschaftssubjekten an, während sich die Makroökonomie den gesamtwirtschaftlichen Prozessen widmet und dabei auf gesamtwirtschaftliche Größen wie die der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zurückgreift. Bruttonationalprodukt, Arbeitslosenrate, Inflationsrate sind typische makroökonomische Größen. Ein Teilgebiet der Mikroökonomie, welches für uns von besonderem Interesse sein wird, stellt die Wohlfahrtsökonomie (welfare economics) dar, welche die Auswirkungen der mikroökonomischen Variablen auf die ökonomische Wohlfahrt der Gesellschaft untersucht. Die Geldtheorie (monetary economics) hingegen, welche ebenfalls bisweilen die Aufmerksamkeit von Philosophen auf sich gezogen und im Zuge der Finanzkrise, beispielsweise mit David Graebers einflussreichem Buch Schulden15, auch ein allgemeineres Interesse geweckt hat, gehört in die Makroökonomie:


Mikro- und Makroökonomie untersuchen wohlgemerkt nicht im Sinne einer Arbeitsteilung unterschiedliche Gegenstände, sondern betrachten vielmehr denselben Gegenstandskreis aus unterschiedlichen Perspektiven, eben vom ›Kleinen‹ und vom ›Großen‹ her. Dies kann Spannungen erzeugen. Während die Mikroökonomie beispielsweise Arbeitslosigkeit als Folge einer Abweichung von der Norm des idealen Marktes versteht, besteht in der Makroökonomie eine viel größere Bereitschaft, dieselbe als empirisch konstatierte Normalität zu begreifen.16 Zum Konflikt kommt es dadurch, dass es dem reduktionistischen Programm der Mikroökonomie eingeschrieben ist, auch makroökonomische Phänomene auf Interaktionen auf mikroökonomischer Ebene zurückzuführen. Dieses Programm wird Mikrofundierung genannt. Auf die mit ihm einhergehenden Probleme werden wir zurückkommen.17

2.2 Allgemeine Gleichgewichtstheorie
2.2.1 Vorab: Was ist eine Erklärung?

Betrachten wir nun, wie die Mikroökonomie ökonomische Prozesse zu erklären sucht. Ohne uns vollends auf die schwierige und kontroverse philosophische Frage einlassen zu müssen, was eigentlich eine Erklärung ist, können wir zumindest festhalten, dass, sprachphilosophisch ausgedrückt, »Erklärung« ein (mindestens) zweistelliger Prädikator ist. Obgleich man oft von der »Erklärung des Phänomens y« spricht, lautet der vollständigere Ausdruck eigentlich: »x ist eine Erklärung für Phänomen y« bzw. »Phänomen y wird durch x erklärt«. In dieser Struktur stecken zwei Vorentscheidungen, die den Raum der Erklärung aufspannen: Erstens muss man sich darüber einig sein, was überhaupt einer Erklärung bedarf und was nicht (das ›y‹), und zweitens muss festgelegt sein, was als Erklärung gilt (das ›x‹). Aristoteles beispielsweise betrachtete es als natürlich und somit nicht erklärungsbedürftig, dass Dinge an ihren »natürlichen Ort« streben, also schwere Dinge zur Erde fallen, die Gestirne aber in der ihnen angestammten Sphäre verharren. In der klassischen Physik Newtons hingegen wird es als natürlich betrachtet, dass ein Körper weder die Richtung noch den Betrag seiner Geschwindigkeit »von selbst« ändert, und erst Abweichungen davon verlangen der Erklärung. Als Erklärungen, etwa wenn Planeten im Weltraum auf eine elliptische Umlaufbahn gezwungen werden, werden »Kräfte« akzeptiert, auch wenn deren Ursprung wie eben bei der Gravitation vorerst ungeklärt ist.

Wir können daraus zurückbehalten, dass immer ein Phänomen, z. B. eine Eigenschaft, durch etwas anderes erklärt wird, welches selbst zumindest zeitweilig ohne Erklärung hingenommen wird. Wie Immanuel Kant schon herausgearbeitet hat, ist es dem Projekt der wissenschaftlichen Erklärung inhärent, auf einen infiniten Regress zu führen, insofern das x, welches man zur Erklärung von y heranzog, selbst nach Erklärung verlangt. Mit diesem Problem hat jede Wissenschaft zu tun, und man darf die Wirtschaftswissenschaft selbstredend nicht an einem Maßstab messen, dem auch die Physik nicht genügt. Jede Wissenschaft muss zu jedem Zeitpunkt mit gewissen Voraussetzungen beginnen. Diese können sich freilich mit der Zeit ändern, und es bleibt in der Methodenkontroverse immer eine legitime Frage, was eigentlich wodurch erklärt werden soll, sofern nur alle Kontrahenten akzeptieren, dass es keine voraussetzungslose Erklärung gibt.

Das klassische Erklärungsmodell der Physik besteht in einem bestimmten Reduktionismus: Die Eigenschaften eines Systems werden durch die seiner Teile erklärt und in diesem Sinne auf diese zurückgeführt, niemals aber umgekehrt. Die Eigenschaften des Festkörpers und der Moleküle erklärt die Physik durch die Eigenschaften der Atome und diese durch die ihrer Bestandteile, der Elektronen und des Atomkerns. Die Elektronen gelten als Elementarteilchen, während der Atomkern wiederum eine Struktur aufweist und aus Protonen und Neutronen besteht usw.

Ein Problem war diesem ›mechanistischen‹ Denken schon früh, namentlich im 18. Jahrhundert, durch den Organismus gegeben, bei dem sich die Verhältnisse gerade umgekehrt darzustellen scheinen: Seine Organe sind für den Organismus zweckdienlich eingerichtet. Hier scheint es so, als ob durch das System, das Lebewesen, bestimmt ist, welche Eigenschaften seine Teile haben müssen und diese somit ›holistisch‹, durch das Ganze, welches die Teile bilden, erklärt werden.18 Es war die große Leistung von Darwins Evolutionstheorie, die Mechanismen zu benennen, die die Zweckmäßigkeit der Teile erklären können, ohne einen Zwecksetzter in Person des Schöpfergottes bemühen zu müssen.

In der Sozialphilosophie existieren widerstreitende Ansichten über das Verhältnis von System (Gesellschaft) und Teil (Individuum). Es steht außerfrage, dass eine Gesellschaft nur durch und mit den Individuen besteht. Man sollte sich aber klar machen, dass damit die Frage der Richtung der Erklärung noch nicht beantwortet ist. Historisch lässt sich grosso modo folgendes feststellen: In der präkapitalistischen Sozialphilosophie, z. B. bei Thomas von Aquin, herrscht eine holistische Erklärungsweise vor, wobei durchaus der Organismus als Analogie herangezogen wird: Die Menschen sind unterschiedlich, und jeder hat seinen besonderen Platz im Ganzen. Überlebensfähig ist nur der ganze Gesellschaftskörper, aber keiner seiner spezialisierten Teile außerhalb seiner. In der Epoche des Kapitalismus ändert sich dies. Die Sozialphilosophie übernimmt die reduktionistische Methode der Naturphilosophie,19 und ihr Gesellschaftsbild passt sich gut in die liberale Weltanschauung des aufstrebenden Bürgertums ein: Die Gesellschaft ist kein hierarchisch strukturiertes Geschöpf mehr mit göttlich sanktioniertem Haupt, sondern resultiert aus den Bewegungen und Wechselwirkungen der einzelnen, freien und gleichen Individuen. Spätestens mit dem 19. Jahrhundert lebt auch wieder die holistische Erklärungsweise auf, zu nennen sind vor allem Karl Marx und Émile Durkheim, die zwar weit davon entfernt sind, eine natürliche Hierarchie der Individuen zu proklamieren, aber durchaus in einem noch zu spezifizierenden Sinne von einem Eigenleben der Gesellschaft ausgehen, welches sich gegen die einzelnen Individuen durchsetzen kann. Die Sozialwissenschaften sind seitdem über diese Frage um den methodologischen Individualismus gespalten.

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