Kitabı oku: «Politische Philosophie des Gemeinsinns», sayfa 6
In diesem Bereich hat sich ein substanzielles Selbstverständnis gebildet, während die Legislative, die dritte Gewalt, im gesamten Bürgertum bis heute ein Aschenputtel-Dasein fristet. Sie stand immer unter dem Druck der Erneuerung, weil sich Machtverhältnisse eingespielt hatten, die die Legislative immer auch zu einer bloß akklamativen Instanz reduziert haben. Es gibt so etwas wie eine permanente Abschaffung von Parlamenten in der bürgerlichen Geschichte, die gar nicht mehr auseinandergejagt werden müssen, weil sie längst keine Entscheidungen mehr treffen. Wie das heute noch funktioniert, beschreiben Peter Brückner und Johannes Agnoli in »Die Transformation der Demokratie« (1967). Die Autoren analysieren diesen Transformationsprozess des Parlaments zu Kernspitzen, zu Fraktionen hin, die mit der Exekutive zusammenarbeiten, sodass Parlamentsvorlagen größtenteils abgesichert sind und das Parlament nur akklamiert. Das hat damit zu tun, das werden wir in der späteren Analyse von Kant noch sehen, dass es im Bürgertum einen völlig zwiespältigen und zerfaserten Begriff des Volkes gibt. Was das Volk ist, hat das Bürgertum nie richtig definieren können und ist auch nicht einfach zu bestimmen. Dabei wäre festzulegen, erstens: wer dazu gehört, zweitens: was das Parlament macht und drittens: was es machen würde, wenn es nach eigenem Gutdünken verfahren könnte. Gleichzeitig gibt es eine Fetischisierung und eine Bedrohung durch das Volk. Diese Ambivalenz drückt sich in der Volksinstanz der Legislative aus, im legislativen Apparat, denn wer, wenn nicht das nach bestimmten Merkmalen definierte Volk, sollte darin sitzen? Wie Kant sich bemüht, festzustellen, wer eigentlich ein politischer Bürger ist, ob zum Beispiel der Friseur, der Lohnarbeiter oder ein Hausbediensteter, werden wir noch sehen. Tatsächlich hat er schon Schwierigkeiten, zu definieren, wen man eigentlich zur politischen Verantwortung zulassen kann. Das Volk in der transzendentalen Dimension ist für ihn eine feste Größe, und das kann er auch klar definieren, ob aber ein Friseur zum Volk gehört, das mitbestimmen soll, das ist für ihn ein fast unlösbares Problem. Daran, dass die Gesetzgebung vom Volke ausgehen muss, ist überhaupt nicht zu rütteln. Aber wer die Gesetze machen darf, ist nicht nur für die preußische Entwicklungsgeschichte, sondern für das Bürgertum insgesamt immer schwierig gewesen, zumal der Begriff des Volkes in bestimmten Perioden mit dem Pöbel und pauperisierenden Elementen verbunden war.
Diskussion um die RAF
Vorlesung vom 14. November 1974
Zu Beginn dieser Veranstaltung, die ursprünglich erneut vom zwiespältigen Begriff des Volkes handeln sollte, fand auf Wunsch der Hörer zunächst eine studentische Diskussion um den Tod von Holger Meins (1941–1974) und die Ermordung des Richters Günter von Drenkmann (1910–1974) statt. Negt hatte den Studierenden Raum und Zeit dafür zugebilligt und ursprünglich vorgehabt, sich nicht selbst einzubringen. Statt nach dieser knapp halbstündigen Diskussion aber seine Vorlesung fortzusetzen, entschied er sich doch für den nachfolgenden Ad-hoc-Diskussionsbeitrag.
Obwohl ich mich entschlossen hatte, mich nicht zu äußern, kann ich, was da gesagt worden ist, nicht unkommentiert lassen. Zum einen muss man zunächst einmal unterscheiden zwischen Forderungen, die die Arbeiterbewegung seit ihrer Entstehung erhoben hat, und jenen Forderungen, die im Konzept und in den Tatbeständen der RAF enthalten sind. Was die RAF will, hat für mich zunächst keinen irgendwie gearteten Traditionszusammenhang mit der europäischen Arbeiterbewegung, sondern einen ganz anderen Traditionszusammenhang, den, wie ich glaube, Rudi Dutschke (1940–1979) richtig bezeichnet hat.85 Es hat immer eine subversive Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung gegeben mit ganz bestimmten inhaltlichen Einschätzungen des Systems.
Ich glaube, man kann einfach nicht umhin, zu fragen, welche Einstellungen und welche Einschätzungen die RAF in Bezug auf das gegenwärtige kapitalistische System hat und wie sie es analysiert. Das wäre allenfalls zu ignorieren, wenn man diese Gruppe auf der Ebene der Psychologie betrachtet. Nimmt man aber ernst, was sie erklärt und analysiert, dann muss man sie an den Maßstäben messen, die sie sich selbst gesetzt hat.
Die Arbeiterbewegung, soweit sie nicht eine völlig isolierte, sektiererische Gruppe repräsentiert hat, hat immer ein spezifisches Verhältnis zu bürgerlichen und republikanischen Freiheiten gehabt. Es ist der Arbeiterbewegung nie eingefallen, zu meinen, man könnte diese Freiheiten schlicht ignorieren und zerstören, ohne an deren Stelle eine andere Gesellschaft zu setzen. Das heißt es ging immer um die Aufhebung der bürgerlichen Freiheit, Aufhebung im Sinne von Überflüssigwerden begrenzter Freiheiten, aber immer auch um das Einbringen dieser begrenzten Freiheit in ein umfassenderes System von Freiheit und Menschenwürde. Es gibt also ein spezifisches Verhältnis der Arbeiterbewegung zu den Bedingungen, unter denen sie selbst zu agieren gezwungen ist. Die Verteidigung republikanischer, demokratischer Freiheiten, soweit sie überhaupt da sind, ist einer der Grundbestandteile der Arbeiterbewegung gewesen, und es wäre niemandem, das gilt für die kommunistische Arbeiterbewegung genauso wie für die sozialdemokratische, in den Sinn gekommen, den Ast abzusägen, auf dem man sitzt. Das hat eine spezifische Folge: Nicht erst die RAF sitzt in den Gefängnissen. Es hat während der Illegalisierung der Sozialdemokratie und während der Weimarer Republik eine Vielzahl von Kommunisten in Gefängnissen gesessen, es hat auch eine Vielzahl von Kommunisten und Linkssozialisten nach 1945 in den Gefängnissen gesessen. Aber was haben die in den Gefängnissen gemacht? Die haben unter anderem versucht, aufzuarbeiten, warum diese und jene Schritte gescheitert sind und scheitern mussten. Die haben versucht, Erfahrungen aufzuarbeiten unter den Bedingungen, unter denen sie standen, und die Bedingungen in Gefängnissen der Weimarer Republik waren nicht besser, sondern wesentlich schlechter als heute. Das liegt also nicht etwa an der Qualität von Gefängnissen, ob man Erfahrungen aufarbeitet oder nicht, ob man bestimmte Strategien verarbeitet oder sie einfach ignoriert.
Zwei Leute gibt es, die – etwas hilflos zwar – versuchen, diesen Prozess in den Gefängnissen anzustoßen. Das sind Horst Mahler (1936) und Jan-Carl Raspe (1944–1977), für die immerhin die Gefängniszelle keine Monade, sondern eine eigene Erfahrung ist, eine des Scheiterns. Man macht wirkliche Erfahrungen im politischen Leben nur am Scheitern, nicht an den Erfolgen. Das bedeutet, dass diese Erfahrungen bei den RAF-Leuten zum größten Teil nicht gemacht, sondern blockiert werden.
Und zweitens, ein Protest, der sich auf eine breitere Basis innerhalb einer linken, ja sogar der liberalen Öffentlichkeit stellt gegen Zustände in Gefängnissen, dieser Protest berührt nicht eine einzelne Gruppe – das möchte ich hier festhalten –, sondern der berührt jeden, der im Gefängnis sitzt. Ein überführter Mörder hat dasselbe Recht wie jeder andere. Das gilt für die Untersuchungshaft wie für andere Haftsituationen, solange man diese Gefängnisse hat, die mal einen Fortschritt dargestellt haben gegenüber den schlichten Leibesstrafen und Verstümmelungen. Diese Gefängnisse sind vom Bürgertum erfunden worden und zwar innerhalb seiner Emanzipationsgeschichte. Das heißt, die Formen, die sich in den Gefängnissen abspielen, immer am Maßstab jener, wenn auch als illusionär sich erweisenden Freiheiten außerhalb der Gefängnisse zu messen, setzt eine Einschätzung der politischen Bedeutung liberaler Freiheitsrechte im System voraus. Wer sagt, »das ist alles Mist, das muss man zerstören, dieser liberale Staat ist ein Scheinsystem der Unterdrückung, nur auf Verschleierung beruhend«, der spricht nicht die Sprache der Arbeiterbewegung und redet darüber hinaus kompletten Unsinn. Zu behaupten, es sei gleichgültig, ob offener Terror waltet wie im Faschismus oder ob ein System existiert, das wenigstens der Form nach eine Teilung der Gewalten aufweist und damit bestimmte Rechtsweggarantien kennt, ist schlicht Unsinn. So zu tun, als sei das gegenwärtige System eine Bananenrepublik, ist eine völlig falsche Einschätzung. Das geht nicht, das ist falsch, und alle Dinge widerlegen das. Die eigenen Erfahrungen widerlegen das.
Der Protest auf dieser Ebene setzt eben voraus, dass man sagen kann, und da würde ich streng leninistisch argumentieren: Historisch mag es zwar sein, dass die Parlamente, die bürgerlichen Gerichte und meinetwegen auch die bürgerlichen Freiheiten überholt sind, sie sind aber nicht im praktischen Verständnis der davon betroffenen Menschen überholt. Deshalb ist es notwendig, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. Man kann behaupten, in hundert Jahren gebe es vielleicht keine bürgerlichen Parlamente mehr, nur nützt das den Betroffenen überhaupt nichts und erst recht nicht den Massen, die eben, wie Lenin sagt, noch nicht so weit sind, das zu begreifen. Genau diese Isolierung von den Massen, schon von den studentischen Massen, ist für mich Ausdruck einer nicht-sozialistischen Politik, wie immer man das drapieren mag. Das ist für mich keine sozialistische Politik, die sich hier ausdrückt, sondern das ist eine Politik, die fast zwanghaft auf Isolierung aus ist, und da hilft es auch gar nichts, wenn wir uns mit diesen Gruppierungen solidarisieren. Vor allem ihnen selbst hilft das nicht.
Denn das wäre ein mechanischer Solidaritätsbegriff, der überhaupt nichts mit dem politischen Solidaritätsbegriff zu tun hat, eine Art Reflex, sich, wenn die Rechten eine Sache angreifen, mit den Angegriffenen zu solidarisieren. Das ist aber für mich keine Politik, sondern eine mechanische Solidarität, die sich eingespielt hat zuungunsten aller Beteiligten. Sie vernachlässigt nämlich zweierlei: Zum einen muss ein Protest, der sich darauf richtet, dass Menschen in diesem System in Gefängnissen isoliert, drangsaliert, eventuell gefoltert, jedenfalls mit Methoden bedacht werden, die nach dem eigenen Selbstverständnis des Rechtsstaatssystems unmöglich sind, unabhängig von der RAF für alle betroffenen Personen sprechen. Einem solchen Protest schließe ich mich vollständig an. Zum anderen muss ich, wenn ich politisch argumentiere, nachweisen können, ob diese Politik, die von dieser Gruppe vertreten wird, in irgendeiner Weise politisches Potenzial zu mobilisieren vermag. Und das muss ich eindeutig verneinen. Diese Politik ist falsch, die ist so falsch, dass es im Grunde nicht möglich ist, sich ungespalten zu solidarisieren, und ich halte es für gefährlich, dass man eine Identifikation mit dieser Politik einkauft, indem man Solidarität mit den Betroffenen fordert.
Für mich steht fest, wer Solidarität mit der Baader-Meinhof-Gruppe fordert, muss gleichzeitig die Solidarisierung mit allen Gefangenen und allen Leuten fordern, die in Gefängnissen sitzen und bestimmten Methoden unterworfen sind, die mit dem Rechtsstaatssystem nicht vereinbar sind. Wer das voneinander trennt, entpolitisiert diesen Vorgang sträflicher und vor allem für die Betroffenen selbst gefährlicher Weise. Diese können nämlich keine Lernprozesse mehr machen, wenn sich bei jedem Anlass bestimmte studentische Gruppen um sie scharen. Da können sie immer die Illusion hegen, sie mobilisierten Massen. Diese Illusion muss man zerstören. Es sind nicht Massen, sondern, was sich da solidarisiert, sind Leute, die etwas wie eine Moral haben völlig unabhängig von ihrer politischen Auffassung. Das sind aber andere Gruppen, als sie ansprechen wollen, und die sind auch von jenen verschieden, die sozialistische Politik betreiben wollen. Wer das nicht erkennt und zusammendenkt, ist nach meiner Auffassung auf dem Wege, Zusammenhänge zu vernebeln und zu entpolitisieren.
Es gab anfangs einzelne politische Ansätze in der RAF. Seit der Befreiung von Andreas Baader (1944–1977) jedoch ist die Illegali-sierung zum existenziellen Zwang der Beteiligten geworden, und unter diesen Voraussetzungen ist eine sozialistische Politik nicht mehr möglich. Diese Randgruppengeschichte, die wurde ja nicht von der RAF entdeckt und auch nicht von Anfang an betrieben, sondern die RAF hat zunächst noch bestimmte Prozesse in ihre Politik eingegliedert. Aber seit der Befreiung von Baader vollzieht sich eine ganz andere politische Linie.
Es besteht doch ein qualitativer Unterschied zwischen einer Gruppe, die in ihrer Konzeption Erweiterung vorsieht und nichts unterlässt, um diese Erweiterung zu fördern, und einer Gruppe, die herumballert. Zwar kann ich Letztere psychologisch verstehen, aber das bedeutet nicht, dass ich ihre Handlungen als Politik begreife: Das sind Verzweiflungsaktionen. Zur alten sozialistischen Tradition gehört es, dass man nicht unentwegt von Waffen und bewaffnetem Kampf redet, sondern nur dann, wenn es notwendig ist. Diese Gruppe redet aber unentwegt von Waffen und Bewaffnungen und ist dabei selbst bewaffnet. Das ist keine Möglichkeit, um Zusammenhänge von Gewalt innerhalb der Gesellschaft zu analysieren und zu begreifen, sondern ist darauf abgestellt, bewaffneten Kampf zu demonstrieren. Nur stellvertretend wird der bewaffnete Kampf geführt. Das ist allerdings ein altes Syndrom des russischen Anarchismus, und dieser Traditionszusammenhang ist nicht zu leugnen, den muss man als anständiger Soziologe analysieren.
Man kann die republikanischen und liberalen Freiheiten nur einklagen, indem man gleichzeitig sagt: Eine Politik, die sich darauf stützt, republikanische Freiheiten entweder völlig zu ignorieren oder zu zerstören, ist zum Scheitern verurteilt. Nur das schafft die Möglichkeit einer ungespaltenen Solidarisierung mit denjenigen, die in Gefängnissen leiden. Das ist jedenfalls für mich die Bedingung der Möglichkeit dafür.
Wenn ihr nun zunächst Solidarisierung mit den Gefangenen fordert, weil angeblich die bürgerliche Öffentlichkeit Zusammenhänge herstelle – dabei sind die Zusammenhänge nicht konstruiert, das lasse ich mir nicht einreden –, dann ist das eine Wiederholung einer ganz fatalen Geschichte, in der sich die Protestbewegung von 1968 ihre eigenen politischen Ziele und Erfolge durch die bürgerliche spektakuläre Öffentlichkeit vortragen ließ. Dass die Protestierenden glaubten, die Resonanz in der Öffentlichkeit sei zentral, war fatal. Die haben mehr auf die Öffentlichkeit geschaut, als auf das, was sie machten, und nicht reflektiert, was sie wirklich taten. Wenn das jetzt wieder beginnt, dass die bürgerliche Öffentlichkeit, die Massenmedien, die Staatsorgane, Zusammenhänge herstellen, die erst nachgewiesen werden müssen, bedeutet das für uns die Notwendigkeit, wenn wir eine autonome sozialistische Politik betreiben wollen, diese Zusammenhänge so nüchtern zu sehen, wie sie tatsächlich sind. Sonst entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber der bürgerlichen Öffentlichkeit, dem am meisten diejenigen unterworfen sind, die gar nichts von ihr halten. Das ist ein Mechanismus und keine dialektische Verhaltensweise gegenüber bürgerlicher Öffentlichkeit. Man meint diese Öffentlichkeit, wie Brecht sagt, zur Umfunktionalisierung für sozialistische Ziele zu nutzen, doch das ist nicht der Fall. Denn was von der bürgerlichen Öffentlichkeit aufgegriffen wird, ist Reaktionsmaxime der eigenen Politik. Daraus kann nichts werden, und wenn es hundert Jahre dauert. Daraus kann immer nur dasselbe werden, nämlich eine völlige Mechanisierung dessen, was Strategie, Taktik und sozialistische Politik ist, und das führt automatisch zur Selbstisolierung.
Sich damit in irgendeiner, nicht klar definierten Form zu solidarisieren, halte ich für unmöglich. Die Solidarität mit den Gefangenen ist ein ganz anderes Problem und berührt die RAF genauso wie einen beliebigen Untersuchungshäftling, der durch Fahrlässigkeit umkommt. Ich benutze nicht den Begriff ›Mord‹ dafür, das möchte ich ganz offen sagen. Denn es gibt einen viel treffenderen juristischen Ausdruck, den ich auch damals benutzt habe, entschuldigt wenn ich daran erinnere, für die Erschießung von Benno Ohnesorg (1940–1967), nämlich diesen Begriff dolus eventualis. Der bedeutet, dass man den Tod eines Menschen aufgrund der objektiven Situation in Kauf nimmt, einkalkuliert. Der Totschlag wird dabei nicht als bewusste Zielsetzung, sondern aufgrund eines bestimmten Einsatzes in Kauf genommen. Genau das hat sich bei Benno Ohnesorg zugetragen. Karl-Heinz Kurras, der Ohnesorg umgebracht hat, war kein gedungener Mörder. Nur die Fatalität dieses Masseneinsatzes mit Waffen, die ganz klar auch zu schießen bestimmt waren, das ganze Arrangement dieser Schlacht war darauf abgestellt, dass es Tote gibt. Das bezeichnet einen ähnlichen Zusammenhang wie hier in den Gefängnissen. Ich kenne nicht im Einzelnen die Tatsachen, aber vieles deutet darauf hin, dass, ob nun durch Hungerstreik oder anderes in diese Richtung – auch psychologische Dinge können einen Menschen so kaputtmachen, dass es nur noch eine Frage ist, wann das in die physische Existenzgefährdung eingeht –, dass hier tatsächlich mit diesem dolus eventualis gearbeitet worden ist. Dies geschah aber nicht in Hinblick auf die Ermordung eines Häftlings, sondern auf die Herstellung von Bedingungen, sodass auch der Tod eines Häftlings durch Fahrlässigkeit der medizinischen Betreuung, durch Aufseher und so weiter, also durch das ganze Arrangement einer verschärften, auf reine Sicherheitsinteressen abgestellten Haft, in Kauf genommen worden ist.
Man muss darüber reflektieren: Es ist ständig von Mord die Rede, dabei ist das ein sehr gefährliches Wort, und es gehört zur Selbstaufklärung von Sozialisten, dass sie solche Begriffe nicht einfach mechanisch benutzen, weil sie für ihre Identifizierung und für plakative Momente in der Öffentlichkeit gewisse Bedeutung haben. Denn das führt langfristig zur Verschleierung der Zusammenhänge, in denen sie selbst stehen.
Ich glaube, das sind Punkte, die muss man auch mal frei von Identität und Identifizierungszwang erörtern können. Nur dann kann man dieses Phänomen RAF, da würde ich euch in der Tat Recht geben, auch in der historischen Aufarbeitung dieser Konstruktionen verstehen. Im Falle von Ulrike Meinhof (1934–1976) war nicht absehbar, welche Politik sie machen würde. Ich weiß nur, dass sie ein halbes Jahr vorher die Absicht hatte, und ich wollte ihr dabei helfen, ein Suhrkamp-Bändchen mit ihren journalistischen Arbeiten herauszugeben. Sie betrachtete ihre journalistische Arbeit als einen Beitrag für eine neue Form des mit Reportage verbundenen Journalismus. Das hat Ulrike Meinhof, ein halbes Jahr vorher, intensiv betrieben. Politisch ist auch nicht so diskutiert worden, dass man hätte sagen können, hier deutet sich eindeutig eine Tendenz der Illegalisierung an. Das ist einfach nicht wahr. Die Konstellation, auch die persönliche Konstellation dieser Leute, hat zu dem geführt, was Frantz Fanon (1925–1961) in »Die Verdammten dieser Erde« (1961) analysiert hat, nämlich die Tatsache, dass bestimmte Gruppierungen und Einzelpersonen vollendete Tatsachen schaffen wollten, auch politisch schaffen wollten, auf dass sie in die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr zurückkehren können, selbst wenn sie wollten. Es ist in der Geschichte vielfach so gewesen, dass tatsächlich Einzelne einen Mord begehen oder wenigstens derart mit dem Gesetz in Konflikt geraten mussten, dass sie keinen Verrat mehr begehen konnten und eine Form von Solidarisierung erzwungen war. Ich will das gar nicht unmittelbar übertragen. Ich meine nur, dass man einmal solche Mechanismen der Identifikation durch Illegalität erläutern muss, wo doch heute Illegalität der Tod jeder sozialistischen Bewegung ist. Denn daran halte ich steif fest: Es kann mir keiner beweisen, dass die Illegalisierung im gegenwärtigen Zeitpunkt in irgendeiner Weise nennenswerten Sinn für die Politik haben könnte. Das wäre eine Katastrophenpolitik.
Es ist auch bezeichnend, dass diejenigen Leute, die mit Entschiedenheit die RAF verteidigen, natürlich keine RAF-Politik machen. Was ich euch vorwerfe, ist viel schlimmer, dass ist die Tatsache, dass ihr überhaupt keine Ahnung von dem habt, was bürgerliche Öffentlichkeit ist, weil ihr an die bürgerliche Öffentlichkeit Ansprüche stellt, die sie von ihrer Struktur her nicht erfüllen kann. Dass die bürgerliche Öffentlichkeit das Antikommunismus-Syndrom in veränderter Gestalt fortexistieren lässt, ist mir bekannt. Da hat sich kaum etwas verändert, was mit der Struktur dieser Öffentlichkeit zusammenhängt. Meine Kritik an euch aber ist, dass ihr die undurchschauten Strukturen dieser Öffentlichkeit als ein Motiv für eure Solidarisierung nehmt. Das ist ein entscheidender Kritikpunkt von mir. Was Menschen betrifft, die unter Opfern zunächst für ihre Ideen oder Konstruktionen eintreten, auch öffentlich eintreten und damit die Repression des Staates in Kauf nehmen, gilt die Ursprungsunterscheidung von Dutschke: Gewalt gegen Sachen ja, Gewalt gegen Personen nein.86 Ob das irgendjemandem schadet, wenn ITT einen Büroraum verliert und erneuern muss? – Natürlich nicht. Erstens sind die versichert, sodass die Behebung des Schadens buchstäblich keinen Schaden darstellt. Wem schadet hier also etwas? Ich will das beantworten mit der Gegenfrage, wem der Schaden nützt. Denn, wenn man hinterher Flugblätter verteilt, die einen Zusammenhang von ITT und Chile-Aktionen des CIA skizzieren, werden diese Flugblätter als mögliche Aufklärung durch den ursprünglichen Akt schon blockiert. Ich halte es schlicht für ausgeschlossen, dass sich dadurch das Interesse auf Chile fokussiert und die Leute den Zusammenhang begreifen. Sie begreifen eher den Zusammenhang, dass Chile nicht die Bundesrepublik ist. Das bedeutet so viel, dass jede solcher Aktionen, es sei denn, es wären Notwehraktionen, insgesamt einer solchen Aufklärung und einer solchen Politik schaden. Dass das nicht weiterführt, habe ich aus der Protestbewegung gelernt.
Ich glaube auch, dass Momenterfolge irgendwelcher Art, in denen man sich sonnt, langfristig großen Schaden anrichten. Wirklich revolutionäre Gewalt ist getragen von der Arbeiterklasse. Andere revolutionäre Gewalt ist einfach nur eine Einbildung. Zudem ist die Bewunderung für existenzielle Entschlüsse mit Opfern der Person ein Stück Romantizismus, mit dem auch die RAF verknüpft ist. Für eine Reihe von Leuten erledigt die RAF das, was sie sich selbst nicht zutrauen. Diese Leute erblicken ihr eigenes Verdrängtes in der Aktivität der RAF. Das bedeutet, dass die geschichtliche Bewunderung für Rechtsbrecher, die tun, was man möchte, aber selbst nicht wagt – ob es nun Robin Hood ist oder ein anderer –, auch das Verhalten gegenüber dieser RAF prägt, nur mit einer Besonderheit: Die traditionellen Rechtsbrecher hatten eine Basis. Ob sie Lebensmittel verteilt haben, ob sie den Reichen etwas weggenommen und den Armen zugesteckt haben, sie konnten manchmal jahrzehntelang untertauchen. Manche Bauerngehöfte in den Vogesen sind Jahrzehnte besetzt gewesen von solchen Räuberhauptleuten, die den Grundbesitzern ihr Eigentum weggenommen und es verteilt haben.
Was hat in diesem Sinne die Bevölkerung von der RAF? Doch gar nichts! Ganz im Gegenteil, es werden nur Ängste und ein bestimmtes faschistisches Potenzial in der Gesellschaft dadurch mobilisiert und durch die bürgerliche Öffentlichkeit in einem ungeheuren Maße verstärkt und umstrukturiert. Auch wenn diese nicht durch die RAF selbst erzeugt werden. Potenziell halte ich zum Beispiel die CSU-Politik für viel gefährlicher, was die Verfassung anbetrifft. Der Faschismus hat sich immer im Zentrum abgespielt, nicht in den Randgruppen. Die Tatsache, dass Intellektuelle, Universitäten, Ärzte und Techniker ihrer ganzen Disposition nach faschistisch waren, einschließlich des Staatsapparats, hat die Möglichkeit des Faschismus als Massenbewegung ausgemacht. Wenn es diese Hilfsleistungen im Zentrum nicht gegeben hätte, wäre der Faschismus zusammengebrochen. Aber das war eine andere Situation, und man muss mal differenzieren, was der traditionelle Faschismus war und was faschistisches Potenzial ist, das sich in bestimmten Wahlen und anderen Zusammenhängen ausdrückt, um begreifen zu können, dass diese aktuelle Politik bereits vorhandene Ängste artikuliert und strukturiert – und ich sage ausdrücklich vorhandene Ängste, denn ich glaube nicht an das gegenseitige Aufschaukeln von Rechts und Links.
Was macht einen Streik aus? Streiks sind Massenaktionen der Arbeiter mit klar definierten Zielen zur Durchsetzung bestimmter Forderungen. Das heißt: Streiks ohne Massen gibt es eigentlich nicht. Was sollte das sein? Ohne Massen lässt sich gar keinen Druck auf die Gesellschaft ausüben. Ein Streik ohne Massen, von nur 10 oder 20 Leuten, verändert nicht die Verhandlungsbedingungen, der verändert gar nichts. Streiks sind per se Massenaktionen, in denen aber nie, selbst nicht im Mai 68, der Gewaltakt gegen Personen und Dingen Strategie ist. Ganz im Gegenteil: Jene Solidarisierungen damals haben sich erst fortgepflanzt über das ganze Land, als eine friedliche Demonstration mit Waffengewalt niedergeschlagen worden ist. Tatsächlich ist die Gewalt von der Arbeiterbewegung immer als eine Gewalt des Systems definiert worden und als Gewaltakt des Systems. Innerhalb der Logik einer Streiksituation, dafür gibt es nun in der Tat viele Beispiele, ist Gewalt als Gegengewalt, die sich ausdrückt gegen Personen, Einschüchterung von Personen, gegen Sachen, eine zufällige Sache, keine strategische Konzeption. Das ist ein entscheidender Unterschied.
Ich habe noch ein Moment vergessen, das mir für sozialistische Politik wichtig zu sein scheint. In der bestehenden Gesellschaft ist für mich sozialistische Politik unter anderem mit einer bestimmten Form der Gegenöffentlichkeit verbunden, also auch der Diskussionsmöglichkeit über bestimmte strategische und taktische Schritte. Wenn diese Diskussionsmöglichkeit abgeschnitten ist, auch aus objektiven Gründen – ich sage nicht, dass die RAF-Leute das nicht mehr wollten, die konnten es nicht mehr –, hat das schwerwiegende Folgen auch für eine Art der Selbsterfahrungskritik, die nicht mehr artikulierbar ist nach außen und damit eigentlich keine Politik mehr ist. Was Selbsterfahrung ist, ist mit Identifikationsprozessen verknüpft, ist mit Selbstbestätigung verknüpft. Ich erinnere nur an das fast zynische Argument von RAF-Angehörigen, der Tod von Petra Schelm (1950–1971) sei ein ungeheurer Sieg der RAF gewesen. Das ist für mich schlicht zynisch, und ich muss gestehen, vor solchen Argumenten habe ich Angst. Ich weiß nicht, was mit mir passieren würde, wenn sie die Macht bekommen. Sogar die russischen Anarchisten haben solche zynischen Argumente vermieden. Derselbe Zynismus liegt auch darin, dass man einfach einen Richter abknallt. Möglicherweise wollte man ihn entführen. Aber das man ihn abknallt, ist Ausdruck der Verzweiflung, und hat nichts mit irgendwelchen Zusammenhängen zu tun, für die die europäische Arbeiterbewegung einmal einstand. Ich bitte, zu entschuldigen, dass ich mich darauf immer wieder beziehe, aber das ist nun mal der Normenzusammenhang, in dem ich argumentiere. Für mich sind der Marxismus und die europäische Arbeiterbewegung nicht nur einfach eine vergangene Stufe, sondern das, was da erkämpft worden ist, selbst die Niederlagen, haben für mich eine gewisse Verbindlichkeit in der Durchsetzung humanerer Ziele.
Es gibt in der Tat Möglichkeiten, dass die Mittel die Zwecke kaputtmachen. Die Reflektion auf die Dialektik von Mittel und Zwecken ist eine wesentliche Reflexion einer sozialistischen Arbeiterbewegung. Das bedeutet gar nicht, dass die Arbeiterbewegung groß sein muss. Das Argument, dass die kleinen Gruppen nicht dieses Recht hätten, dass man sich mit denen immer nur solidarisieren könnte, wenn sie die Chance haben, sich zu erweitern, trifft nicht zu. Es haben nur diejenigen Gruppen, jedenfalls was meine Person betrifft und ich rede nur für meine Person, ein Recht auf Solidarität, einen Solidaritätsanspruch, die in ihren Aktionen, Programmen, in ihrem realen Verhalten und nicht zuletzt in ihrem Denken ein Stück von dem repräsentieren, was jahrhundertelange Kämpfe der Arbeiterbewegung und der Unterdrückten ausgezeichnet hat, und das ist immer mit einem Stück mehr an Humanität und Humanisierung verbunden gewesen. Der Begriff der Solidarität ist ein Begriff, der auf die gegenwärtigen Verhältnisse zielt. Aber der Identifikationsmechanismus, der jetzt in Gang gesetzt ist, ist ein Stück Selbstillusionierung und Verschleierung von notwendigen Diskussionen über diese Positionen und auch von notwendigen Momenten einer sozialistischen Politik, wie ich sie im Auge habe.
Mein Argument nehmen diese Leute überhaupt nicht wahr, und die Beschimpfungen, die ich von ihnen erfahren habe, will ich hier ganz beiseite lassen, weil sie mit Argumenten nichts zu tun haben. Ich beschäftige mich mit der RAF, solange irgendeiner da ist, der meint, das wäre richtige Politik. Das ist mein Motiv der Beschäftigung mit der RAF: Solange noch jemand da ist, der die Idee hat, das sei richtig, solange muss ich mich damit auseinandersetzen und alle zur Verfügung stehenden politischen Möglichkeiten nutzen, um diese Position zu bekämpfen.
Heute eine Studentenbewegung zu erzeugen unabhängig von den Fraktionen, die es gibt, wäre die Belebung eines Leichnams. Das ist Totenbeschwörung, und Aktionismus ist eine Scheindifferenzierung, als ob der Ortswechsel eine wichtige Sache wäre für den Inhalt. Es kommt vielmehr darauf an, was die Studenten bei der Artikulation ihrer Interessen und Aktionsformen innerhalb von sozialistischen Konzeptionen tun können, damit sie sich nicht weiter von anderen gesellschaftlichen Gruppen isolieren. Deshalb sind kurzfristige Aktionen nichts: Mit hängender Zunge läuft man bloß von einer Aktion zur anderen, und denkt noch das wäre Fortschritt. Das ist aber keine wirkliche, keine substanzielle Fortentwicklung der Beteiligten, weder in Hinblick auf ihr Bewusstsein noch in Hinblick auf ihre Aktionsformen, sondern es ist schlicht eine Ortsbewegung, eine Veränderung des Ortes, an dem man steht. Eine solche Mechanisierung der Bewegung halte ich nicht für vertretbar, und die Störung dieser Selbstillusionierung würde ich in jedem Zusammenhang versuchen.