Kitabı oku: «Das Ministerium für Sprichwörter», sayfa 7

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11. Kapitel

Pizarrini fuhr in dem neuen Mordial 22, den ihm Präsident Schmidbruch anläßlich seiner Ernennung zum Oberbuchhalter geschenkt hatte, auf das Land hinaus. Neben ihm saß sein alter Chef.

„Sie wollen uns also wirklich verlassen?“ sagte sein Chef.

„Was würden Sie an meiner Stelle tun?“

„Natürlich, Sie haben ja recht, Sie müssen dieses Angebot annehmen. Es war mir auch von Anfang an bewußt, daß Sie uns eines Tages wieder verlassen werden.“

Der Chef hatte es gefaßt, aber mit einer leisen, traurigen Stimme gesagt, deren müder, resignierter Tonfall Pizarrini schmerzte und nachdenklich stimmte. Er wußte mit einem Mal, daß der Weg nach oben schwierig und schmerzhaft werden würde. Aber hatte er noch die Wahl, unten zu bleiben? Nein, die hatte er nicht mehr. Präsident Schmidbruch selbst hatte ihn berufen. Es galt, die verrottete Buchhaltung der Interkontinentalen Speisewagen AG in Ordnung zu bringen, und dann harrten schon wieder andere Aufgaben seiner, er spürte deutlich, daß er nicht mehr sich selbst gehörte.

Man hoffte auf ihn, man erwartete es von ihm, es war seine Pflicht, er konnte nicht mehr zurück.

„Es muß sein!“ stieß er zwischen seinen aufeinander gepreßten Zähnen hervor, und in seine Augen trat ein stählerner Glanz.

Sie waren angelangt. Pizarrini hielt den Wagen an und stieg mit dem Chef aus. Am Dorfeingang stand der Bürgermeister und empfing sie. Da geschah etwas Unerwartetes. Aus einem Versteck hinter dem rotweiß gestrichenen Spritzenhaus der Dorffeuerwehr stürzte eine Schar barfüßiger Kinder hervor, lief auf den Mordial 22 zu, erkletterte ihn und fuhr, ehe es Pizarrini verhindern hätte können, damit davon. Der Bürgermeister hatte sich unterdessen auf den Handgriff seines mit Mist gefüllten Schubkarrens niedergelassen und eine Pfeife angeraucht. Als er sah, mit welcher Bestürzung Pizarrini dem davonbrausenden Mordial 22 nachblickte, tröstete er ihn: „Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Das Dorf ist gut versichert.“ Dann stand er auf und fuhr mit seiner Mistkarre weiter. „Ein Grobian“, sagte der Chef und blickte ihm nach, „ein Grobian, aber sonst eine Seele von einem Menschen. Ja, ja, das sieht eben nicht jeder, was in einem Menschen alles steckt, da muß man schon eine gewisse humanistische Bildung haben. Die haben Sie, die habe ich, aber jeder, jeder hat sie nicht.“

Sie gingen weiter. Die Dorfstraße war ganz leer.

„Die Leute arbeiten auf den Feldern“, sagte Pizarrini.

„Woher wollen Sie das wissen? Sind Sie Landwirt?“ fragte ihn der Chef erstaunt.

„Nein, nein, das nicht“, antwortete Pizarrini, und wie beiläufig und nicht ohne Hochmut setzte er hinzu: „Man hat so seine Informationen, seine Leute, die einen über alles mögliche zu unterrichten haben. Vergessen Sie nicht, welche Position ich jetzt einnehme. Ach, da erfährt man oft mehr, als einem lieb ist.“

„Ja, Sie haben eine verteufelte Karriere gemacht. Ich muß Ihnen ehrlich gestehen, als einfacher Geschäftsmann könnte ich mir zum Beispiel nie einen Mordial 22 leisten. Das wissen Sie selbst ganz gut, Sie kennen ja meinen Betrieb.“

„Wenn es weiter nichts ist“, sagte Pizarrini leichthin, „den Wagen können Sie haben, ich schenke ihn Ihnen, mir ist er ohnehin zu langsam.“

„So ganz ohne Gegenleistung? Nein, nein, das kann ich nicht annehmen.“

Pizarrini zögerte einen Moment, dann sagte er langsam: „Eine kleine Gegenleistung bitte ich mir aus.“

„Die wäre?“

„Sie gestatten mir, dem Leichenbestatter Verzugszinsen zu berechnen.“

„Behalten Sie Ihren Wagen“, sagte der Chef eiskalt, „ich verkaufe Socken, Strümpfe, Bettvorleger und andere Textilien, aber keine Prinzipien. Merken Sie sich das gefälligst, junger Mann!“

Er drehte sich brüsk um und ließ Pizarrini allein stehen. Alter Dickschädel, dachte Pizarrini. Dann drehte er sich ebenfalls um und lief ihm nach. Trotz seiner langsamen Gangart hatte sich der Chef schon ein riesiges Stück von ihm entfernt und war nur noch schwer einzuholen. Pizarrini lief, was er konnte. Endlich hatte er ihn erreicht. Keuchend hielt er ihn am Arm fest: „Herr Chef!“

„Wir haben uns, denke ich, nichts mehr zu sagen.“

„Auf ein Wort, Herr Chef!“

„Meinetwegen.“

„Warum gestatten Sie es mir nicht, dem Leichenbestatter Verzugszinsen zu berechnen?“

„Weil sich kein Kaufmann sicherer ruiniert als der, welcher alte Geschäftsprinzipien bricht.“

„Es ist aber nicht in Ordnung. Er hat erst nach der dritten Mahnung bezahlt, und es gehören ihm Verzugszinsen berechnet. Warum soll es da eine Ausnahme geben? Das ist nicht in Ordnung.“

„Es gibt auch noch andere Dinge im kaufmännischen Leben wie im Leben überhaupt, die nicht in Ordnung sind. Es gibt überhaupt noch etwas anderes als Ordnung, mein lieber Herr Pizarrini, Herr Oberbuchhalter, glauben Sie mir, glauben Sie einem alten Menschen, es gibt noch etwas anderes als Ordnung. Ordnung ist nicht das Letzte.“

Da kam aus einem Feldweg hervor plötzlich der Mordial 22 herausgebraust. Pizarrini konnte gerade noch zur Seite springen. Den Chef jedoch erwischte es. Er wurde von dem Auto gestreift, fiel mit dem Kopf auf einen Randstein und war augenblicklich tot. Die wilden Kinder auf dem Mordial 22 hupten wie verrückt, als sie den Alten niederstürzen sahen, schrien: „Wieder einen, wieder einen“, und winkten Pizarrini mit bunten Fähnchen zu.

Fähnchen schwingen, Liedchen singen, dachte Pizarrini und blickte ihnen lange nach.

Podestas Erzählung
8

Die Fassade des Präsidiums der ISAG war mit rotem Marmor verkleidet. Über dem Portal stand in goldenen Lettern: Interkontinentale Speisewagen AG. Durch die goldumrandeten Fenster des Portals sah man in einen langen, breiten Gang. Unter dem roten Läufer, der den Boden dieses Ganges deckte, lugten diskret schwarze, rhombenförmige Marmorplatten hervor, deren mit eingelegtem Messing umrandete Spitzen sich zu gelben Zickzackbändern vereinigten, die in nervöser Hast auf die schwere Eichentür am Ende des Ganges zuliefen. Über dieser Eichentür stand in schlichter Goldschrift: SITZUNGSSAAL.

Die hohen Fenster zu beiden Seiten des Ganges waren mit farbenprächtigen Glasmalereien geschmückt, die in allen Sprachen des Kontinents mit den gleichbedeutenden Worten für „Guten Appetit!“ beschriftet waren und entsprechend dazu die verschiedenen Nationalspeisen darstellten. Wer könnte die prangende Pracht der Braten, die graziöse Würde der Mehlspeisen, die Sirenengesängen gleich unwiderstehlich lockenden Löffelaugen der Saucen, wer die durchscheinende Zartheit weiß schimmernder Fischlein, wer die bizarren Formen, die abenteuerlichen Farben der Salate und Zutaten beschreiben, die im Lichte dieser Gangfenster gleichsam von innen heraus erstrahlten. So mancher, der das erste Mal durch diesen Gang schritt, wurde schwermütig. Andere wieder wurden gegen sein Ende hin von einer übermächtigen Heiterkeit erfaßt. Es geschah mit solchen oft, daß sie sich knackend und schnalzend ihre falschen Gebisse zurechtrückten und mit bäuchlings verschränkten Händen hin und her zu tanzen begannen. Von einem berühmten Hungerkünstler und Meisteryogi wird berichtet, daß er noch vor der Mitte des Ganges umgekehrt ist und mit einem Ausdruck von Hochmut und Verbitterung im hocherhobenen Gesicht den Gang wieder verlassen hat. Allen aber ist noch die Affäre Mooshuber in Erinnerung. Mooshuber, einer der angesehensten Männer der Stadt, wollte die kostbaren Fenster zertrümmern und konnte gerade im letzten Augenblick noch von dem rasch herbeigeeilten Portier daran gehindert werden. Wie sich bei der daraufhin unausbleiblich gewordenen polizeilichen Untersuchung herausstellte, führte Mooshuber ein Doppelleben und war schon seit Jahren geschworener Anhänger einer berüchtigten Rohkosttheorie. Doch nun: zurück zu Podesta.

Am Abend desselben Tages, an dem Podesta jenen eingeschriebenen Brief bekommen hatte, von dem im vorigen Kapitel berichtet wurde, an diesem Abend regnete es. Es regnete in Strömen. Der Asphalt, nass und glitschig wie die Haut einer Nacktschnecke, glänzte schwarz im Schein der Laternen. In der Straßenmitte, wo der Regen frei und mit voller Heftigkeit auf ihn aufprallte, sprangen die zerschellenden Tropfen handhoch zurück, so daß es bisweilen aussah, als wäre die Straße hier mit einer Unzahl stumpfer, grauer Stacheln bewehrt.

Polizeirevierinspektor Kajetan Horninger, der – von der nahen Sebastianskirche schlug es neun Uhr – um diese Zeit gerade das zweite Mal seine Runde machte, suchte, als sich der Regen für Minuten wieder besonders verstärkte, unter dem breiten Marmorportal des Präsidiums der ISAG provisorischen Schutz vor den entfesselten Wassermassen.

Pflichtgemäß blickte er die Straße hinauf und hinunter und stellte dabei erwartungsgemäß fest, daß sie vollkommen leer war. Wer wird auch schon bei so einem Wetter auf die Straße gehen, dachte er sich, wenn er nicht muß, dachte er weiter und betrachtete sein Bild in dem stark spiegelnden Türglas.

Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr und sagte mit gewohnter, militärischer Knappheit: „Einundzwanzig Uhr.“ Die Uhr von der Sebastianskirche hatte die Stunde wieder eine Minute zu früh geschlagen. Er schüttelte mißbilligend den Kopf. Solche Ungenauigkeiten ärgerten ihn. Noch drei Stunden, dachte er. Um Mitternacht erst würde er abgelöst werden. Der Regen hatte wieder etwas nachgelassen, und er machte sich daran, seinen Rundgang fortzusetzen. Da hörte er Schritte. Er drehte sich um. Ein kleiner, dicker Mann in einem schwarzen Gummimantel und einer Baskenmütze auf dem Kopf lief um die Ecke scheinbar direkt auf ihn zu. Horninger, der erst wenige Schritte weitergegangen war, blieb stehen und wartete. Allein, der Dicke wollte nicht zu ihm, ja, es hatte den Anschein, als hätte er Horninger noch gar nicht gesehen. Mit einer Behendigkeit, die Horninger ihm nie zugetraut hätte, sprang er die paar Stufen des Portals des ISAG-Präsidiums hinauf und wollte durch die gläserne Tür in das Gebäude hinein. Die Tür war natürlich verschlossen. Horninger hatte nichts anderes erwartet, und es erschien ihm verdächtig, daß der Dicke allem Anschein nach eine offene Tür erwartet hatte. Jetzt rüttelte er sogar daran, als könne er es nicht glauben, daß die Tür verschlossen sei, und als er nun gar anfing, mit beiden Fäusten auf das Glas loszutrommeln, daß es weithin hallte, war dies für Horninger das letzte Signal einzugreifen. Er ging zurück, klopfte dem Dicken auf die Schulter und sagte zu dem sich überrascht umdrehenden und ihn anstarrenden Mann in gemessenem, leicht verweisendem Ton: „Ihren Ausweis, bitte!“ Der Dicke zuckte zusammen und begann dann umständlich und nervös in all seinen Taschen herumzukramen, bis er schließlich ein zerknülltes Papierchen herauszog und es Horninger hinreichte. Der nahm es, studierte es aufmerksam und sagte dann streng und den Dicken kritisch musternd: „Das ist ja eine Beitragsquittung der Caritas!?“

Der Dicke nickte.

„Und noch dazu vom vorigen Jahr“, setzte Horninger kopfschüttelnd hinzu. Diese Feststellung schenkte dem Dicken wieder die Sprache, dagegen war er gewappnet. Über Polizeirevierinspektor Kajetan Horninger begann sich ein Redeschwall zu ergießen: „Natürlich vom vorigen Jahr. Heuer hätte ich es selbst notwendig gehabt, von der Caritas unterstützt zu werden.

Aber wenn Sie glauben, daß ich da etwas bekommen habe, so täuschen Sie sich. Nicht das Schwarze unterm Nagel. Es gäbe dringendere Fälle als den meinen. Ob diese dringenderen Fälle auch immer ihren Beitrag geleistet hätten, frage ich. Und wissen Sie, was ich darauf zur Antwort bekomme, nein, das wissen Sie nicht, das können Sie nicht wissen, Herr Inspektor, das sei unwesentlich, schließlich sei die Caritas keine Versicherung. Da bin ich gegangen. Ich habe nichts mehr gesagt und bin einfach gegangen“, er unterbrach seinen Redefluß und schien sich wieder auf das Verlangen Horningers nach einem Ausweis zu besinnen. Er deutete auf das Papierchen hin und sagte: „Immerhin, es steht mein Name drauf.“

Horninger hielt das Papierchen ins Licht und las mühsam: „Alois Weiss“, er blickte den Dicken an, „sind Sie das?“

„Nein, ich bin der andere, der darunter unterschrieben hat, da, gleich neben dem Datum.“

„Isidor Podesta?“

„Ingenieur Isidor Podesta, jawohl, das bin ich.“

„Da ist ja die Spende gar nicht von Ihnen“, entfuhr es Horninger, „da haben Sie ja nur kassiert.“

„Nur kassiert ist gut. Man sieht, daß Ihnen die Materie fremd ist. Was ist denn schon eine Spende wie diese da gegen die Arbeit, sie einzusammeln? Mein lieber Herr Inspektor, das müßten Sie erst einmal selbst erleben, wieviel verlorene Zeit, Stiegen auf, Stiegen ab, was man sich alles gefal...“

Unbemerkt von Horninger und Podesta hatte sich eine riesige Luxuslimousine lautlos vor das Portal geschoben, erst das Zuschlagen der Wagentür ließ sie überrascht herumfahren. Ein mittelgroßer Herr in einem grauen Mantel kam auf sie zu.

„Herr Präsident!“ schrie Podesta und eilte ihm entgegen.

Horninger wundert sich nicht schlecht, als er sah, daß der mit „Präsident“ angesprochene Herr Podesta die Hand gab und ihm dabei – so kam es wenigstens Horninger vor – sogar noch freundlich zunickte. Er glaubte sich auch erinnern zu können, das faltige, magere Gesicht dieses Präsidenten schon gesehen zu haben. Auch die Luxuslimousine kam ihm bekannt vor. Er salutierte und dachte noch, hoffentlich macht mir dieser Podesta keine Scherereien, als dieser auch schon anfing: „Stellen Sie sich vor, Herr Präsident, dem Inspektor war ich so suspekt, daß er mich um meinen Ausweis gefragt hat.“

„Warum nicht?“ sagte der Präsident mit maliziösem Lächeln, das seinem Gesicht einen ungemein verkniffenen Ausdruck verlieh.

„Nur eine Routineangelegenheit, keine Verdächtigung“, beschwichtigte Horninger den aufgebrachten Podesta. „Schon gut“, sagte der Präsident und schloß die gläserne Tür auf. Horninger wußte nicht, was er tun sollte, er stand da und schaute.

„Es genügt doch, wenn ich mich für Herrn Ingenieur Podesta verbürge?“ fragte ihn Präsident Schmidbruch ironisch.

„Selbstverständlich. Danke, meine Herren, danke, wie gesagt, nur eine Routineangelegenheit.“

Podesta und der Präsident verschwanden hinter der lautlos zufallenden Tür. Horninger starrte ihnen verwirrt nach, dann wandte er sich endlich um und wollte weitergehen. Sein Blick fiel auf die mächtige, schwarze Limousine, und in seiner Verwirrung salutierte er vor dem in kalter Pracht dastehenden Fahrzeug. Das Unvernünftige dieses Tuns brachte ihn wieder zu sich.

Verlegen schaute er sich um, ob ihn jemand beobachtet hatte, und als er niemanden sah, atmete er erleichtert auf. Schnell ging er weiter.

Je weiter er sich von der Limousine entfernte, um so mehr begann es ihn zu ärgern, daß er vor ihr salutiert hatte. Er wurde auf sich selbst bitterböse und begann sich zu beschimpfen. Er machte sich die wildesten Vorwürfe, die er schließlich alle in dem einen zusammenfaßte, vor dem in dieser Limousine geoffenbarten Reichtum schmählich kapituliert zu haben. Horninger war ein Gerechtigkeitsfanatiker. Er war bei seinen Kollegen und bei seinen Vorgesetzten dafür bekannt, daß er dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz stets mit größtem Eifer zu genügen trachtete, daß er darin seine ganze Ehre einsetzte. Es schmerzte ihn daher nun wirklich, daß er diesen Grundsatz verraten zu haben glaubte. Den ärmlichen Podesta hatte er zur Ausweisleistung aufgefordert, den reichen Präsidenten mit der Luxuslimousine nicht. Wenn er daran dachte, daß er vor der Luxuslimousine sogar salutiert hatte, überfiel ihn eine ohnmächtige Wut, und er schalt sich einen erbärmlichen Speichellecker. Während solcher Überlegungen, Selbstanklagen und Beschimpfungen, seinem obersten Grundsatz untreu geworden zu sein, hatte er das Ende der Straße erreicht und bog nun in eine kleine, schlecht beleuchtete Nebenstraße ein. Der Regen hatte etwas nachgelassen. Ein leichter Wind war aufgekommen und schaukelte die wenigen, an über die Straße gespannten Drähten hängenden Laternen hin und her. Auf der linken Straßenseite stand, unvorschriftsmäßig geparkt, ein alter, schäbiger Topolino.

„Steht auf der falschen Seite“, murmelte Horninger und zückte seinen Notizblock, schrieb die Nummer des Topolino auf. Dann stockte er, blickte nach rechts, blickte nach links, riß das Blatt, auf dem er die Nummer notiert hatte, aus dem Block heraus, knüllte es zusammen und warf es weit weg. Befreit atmete er auf, salutierte vor dem Topolino wie vorhin vor der Limousine und ging mit schnellen Schritten, als flüchtete er vor sich selbst, weiter.

„Schluß jetzt mit dem Blödsinn“, sagte er zu sich selbst, „Schluß mit dem Blödsinn.“

Er sagte es mindestens noch zehnmal, bis er, keuchend und außer Atem geraten, endlich seinen Reviergang beendet hatte.

Am nächsten Morgen blickte seine Frau erstaunt vom Zeitungsroman auf, als er beim Frühstück zwischen Kaffee und Butterbrot plötzlich ganz unvermittelt sagte: „Gegen Autofahrer werde ich in Zukunft noch viel strenger vorgehen!“

„Was ist denn geschehen?“ fragte sie ihn besorgt.

„Was geschehen ist? Meine Liebe, es braucht nicht immer etwas geschehen, damit etwas geschieht.“ Nur das Knistern der ihren Händen entfallenden, sanft zu Boden gleitenden Zeitung und das leise Plätschern des Kaffees war zu hören, sonst nichts.

12. Kapitel

Der Winterhimmel spannte sich in hellem Blau voll einer unsagbar weiten und fernen Herrlichkeit über die Szene. Dem Trauerzug voran schritten Fahnenträger des Schützenvereins, des Männergesangsvereins, der Bürgermusik, dann kam der geistliche Kondukt, dann kam der Sarg, getragen von sechs Männern, die schwarze, mit gelben Tressen verzierte Uniformen und Dreispitze trugen.

Hinter dem Sarg schritten als nächste Angehörige zwei ältere Damen, Cousinen, und die einzigen noch lebenden Verwandten des als Junggeselle Verstorbenen.

Dann kamen die Angestellten der Firma, an ihrer Spitze Pizarrini mit Zylinder und schwarzem Stadtpelz.

Dann kam die Bürgermusik, deren langjähriges verdientes Mitglied der Verstorbene war.

Dann kam der Männergesangsverein, der vollzählig erschienen war, dessen langjähriges verdientes Mitglied der Verstorbene war.

Dann kam ein Wagen mit Kränzen, gezogen von zwei Rappen, die der Tierschutzverein beigestellt hatte, dessen langjähriges, verdientes, zuletzt zum Ehrenmitglied ernanntes Mitglied der Verstorbene war.

Dann kam ein langer, langer, nicht enden wollender Zug von Trauergästen, die alle den allseits beliebten Verstorbenen mehr oder weniger gut gekannt hatten und ihm nun die letzte Ehre erwiesen. Der Hornist der Schützenkompanie blies zur letzten Retraite, die schmetternden Töne stiegen wie aufflatternde Vögel in den klaren Winterhimmel und verloren sich, lang noch im Ohr nachhallend, in seiner weißblauen Unendlichkeit.

Gebete, Litaneien liefen unaufhörlich und in monotonem Rhythmus durch den sich langsam vorwärts bewegenden Leichenzug.

Podestas Erzählung
9

Präsident Schmidbruch ging mit Podesta durch den langen Gang, der zum Sitzungssaal führte. Mit gezücktem Schlüssel und starr nach vorne gerichtetem Gesicht schritt Schmidbruch, obwohl an der Seite Podestas, doch eine knappe Schrittlänge voraus. Podesta musterte ihn verstohlen von der Seite und versuchte, ein Gespräch anzufangen. Er deutete auf die bemalten Gangfenster und sagte: „Schöne Glasmalereien.“

„Hm“, antwortete Präsident Schmidbruch kühl.

„Leider verstehe ich nichts von Malerei“, setzte Podesta fort.

„Hm“, antwortete Präsident Schmidbruch merklich kühl.

Wieder einer, der mit mir nur das Notwendigste reden will, dachte sich Podesta und schwieg still. Aufpassen, aufpassen, er will sich anbiedern, dachte Präsident Schmidbruch und nahm sich vor, sollte Podesta noch etwas sagen, nicht mehr „Hm“, sondern nur noch „H“ zu antworten. Daran, so dachte Präsident Schmidbruch, an dieser Nuance müßte Podesta erkennen, daß er mit ihm kein Privatgespräch führen wolle.

„Hm.“

„Wie meinten, Herr Präsident?“

„H.“

Unter Schweigen erreichten sie das Ende des Ganges. Der Sitzungssaal war sehr groß. Ja, man kann ruhig sagen, er hatte – der Bedeutung des Unternehmens, dem er diente, gemäß – riesige Ausmaße. In seiner Mitte stand ein riesiger Marmortisch, der gut acht Meter lang war. An den hell getäfelten Wänden hingen verschiedene Wappen und Porträts bedeutender Persönlichkeiten, die sich um die ISAG verdient gemacht hatten. Podesta entdeckte auch das Bild Schmidbruchs. „Das sind ja Herr Präsident persönlich“, sagte er und deutete mit ausgestrecktem Arm auf das Bild. „Kommen wir zur Sache“, entgegnete Schmidbruch, „meine Zeit ist begrenzt.“

Er führte Podesta an das untere Ende des langen Marmortisches und hieß ihn Platz nehmen. Dann schritt er an das obere Ende und nahm dort Platz. Podesta blickte den langen Tisch hinauf und sagte dann etwas kleinlaut, mehr zu sich selbst als zu Präsident Schmidbruch: „Da sitzen wir aber ziemlich weit auseinander.“

„Das sitzen wir“, entgegnete Schmidbruch. Ihre Stimmen verhallten in dem leeren Saal.

„Sie werden“, begann Schmidbruch, während seine Blicke gelangweilt von einem Bild zum anderen wanderten, „Sie werden an Ihrem Platz unter der Tischplatte ein paar Kopfhörer finden und auf der Tischplatte, das heißt in diese eingebaut, ein Mikrophon bemerken. Bedienen Sie sich beider. Es genügt dann, wenn Sie so leise reden, daß ich Sie normalerweise gar nicht verstehen kann.“

Schmidbruch hatte während der letzten Worte ebenfalls Kopfhörer unter der Tischplatte hervorgeholt und sie aufgesetzt. Er wartete, bis Podesta ebenfalls die Kopfhörer aufhatte, und flüsterte dann ganz leise in das auch an seinem Platz in den Tisch eingebaute Mikrophon: „Es genügt, wenn Sie so leise reden.“

Podesta nickte und sagte mit halblauter Stimme: „Können Sie mich so verstehen?“

Schmidbruch dröhnten die Ohren.

„Leiser“, zischte er zornig zurück.

„Ist das leise genug?“

„Noch etwas leiser.“

„So? Geht das? Ist das recht jetzt?“

„In Ordnung.“

Die Tür ging auf, und im Türspalt erschien der Kopf des Nachtwächters. Seine flinken Mausäuglein durchmaßen den Sitzungssaal mit so schnellen Blicken, daß ihnen die Anwesenheit des Präsidenten Schmidbruch und Podestas ganz entging. Verwundert stellte der Nachtwächter bei sich fest, daß der Saalwart vergessen hatte, das Licht auszulöschen, und griff schon nach dem Schalter, als er im letzen Augenblick noch an den beiden Enden des riesenlangen Sitzungstisches Präsident Schmidbruch und Podesta gewahrte. Sie hatten Kopfhörer umgeschnallt und starrten sich über die lange Tischplatte hin in solcher Intensität mit Operngläsern an, daß sie den Nachtwächter gar nicht bemerkten.

„Verzeihung“, murmelte dieser, „ich wußte nicht, daß der Herr Präsident noch eine Sitzung haben.“ Schmidbruch schien es, als höre er von der Tür her eine Stimme. Er richtete sein Opernglas auf sie hin. Als er niemanden sah, der Nachtwächter hatte sich inzwischen schon zurückgezogen und die Tür wieder sorgfältig geschlossen, fragte er Podesta: „Haben Sie nichts gehört?“

„Nein.“

Hm, dachte Schmidbruch, der Tisch wird doch keinen Fehler haben. Es war ein ganz neuer Tisch, dessen Anschaffung sogar für ein Unternehmen wie die ISAG keine unerheblichen Kosten verursacht hatte. Dieser riesenlange Sitzungstisch war nämlich nicht deshalb so teuer, weil seine Platte aus Marmor und seine Füße aus kunstvoll zusammengekitteten Flaschenhälsen bestanden, sondern war es deshalb, weil er mit der neuesten Top-Secret-Anlage versehen war.

(Top-Secret, ein Spitzenerzeugnis elektro-akustischer Qualitätsarbeit, in Amerika zuerst entwickelt, sichert jede Konferenz vor unliebsamen Mithörern, die mit ihren raffiniertest verborgenen Abhörapparaten bisher auch das leisest geführte Gespräch zu belauschen imstande waren. Top-Secret – niemand kann mithören – stellt die durch die enorme Entwicklung der Abhörapparate tödlich bedrohte Freiheit der Geheimhaltung geschäftlicher Absprachen wieder her. Kein Konferenztisch ohne Top-Secret.)

„Kann ich beginnen?“ fragte jetzt Podesta, ohne daß ein Wort zu hören war, in das Tischmikrophon hinein.

„Beginnen Sie“, hauchte Schmidbruch zurück.

„Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, ich …“

„Was Sie mir bereits mitgeteilt haben, brauchen Sie mir nicht noch einmal erzählen. Einen weiblichen Freßrobot haben Sie bis jetzt fertiggestellt, Sie werden nun noch ein männliches Modell bauen. Wieviel Geld brauchen Sie noch, bis wann kann ich mit einer Probevorführung beider Modelle rechnen? Das ist alles, was ich von Ihnen zu erfahren wünsche.“

„Ich benötige für den Bau eines männlichen Freßrobots mindestens noch einmal zweitausend, wahrscheinlich aber dreitausend Freiheiten.“

(Eine Freiheit ist zehn Kronen; diese Obereinteilung des Geldes erregte bei ihrer Einführung manche Polemiken. Sozialistische Kreise verteidigten sie mit dem Hinweis, Geld sei Arbeit und nur der verdiene Freiheiten, der sich durch Arbeit Geld verdiene. Die Kommunisten erklärten, dieses Argument stimme nur unter den Gegebenheiten eines kommunistischen Staates, in den kapitalistischen Staaten komme eine solche Obereinteilung des Geldes einer kapitalistischen Selbstentlarvung kapitalistischer Lohnsklaverei gleich. Romantisch bestimmte Theoretiker der nationalen Partei lehnten diese Obereinteilung des Geldes auf das entschiedenste ab. Geld, so sagten sie, sei etwas schändlich Schmutziges, der Begriff der Freiheit jedoch etwas so Edles und Hehres, daß es ein Kulturgreuel ersten Ranges sei, die hehre Freiheit durch das schmutzige Geld auszudrücken. Der Finanzminister jedoch, der diese Obereinteilung einführte, ein kurz angebundener Mann, empfahl sie damit, daß man als Einheitsbezeichnung eines größeren Geldbetrages einen glanzvollen Namen wählen müsse, und da wisse er keinen, der glanzvoller sei als der der Freiheit. Ein weiterer Vorteil sei, daß die Freiheit nicht ein in den Wolken schwebendes, unerreichbares Ideal sei, sondern eine ganz konkrete Sache, die in allen Staaten der Erde gehandelt werde und daher für den internationalen Zahlungsverkehr, für den diese Obereinteilung des Geldes ja hauptsächlich eingeführt werde, besonders geeignet sei. Man hätte, so der Finanzminister, aus diesem Grunde auch Frieden als Obereinheit wählen können, auch Frieden sei eine konkrete Sache und werde international gehandelt, aber er gebe zu bedenken, daß man unausbleiblich zur Zielscheibe der Kabarettisten und ähnlich übelwollender Leute werden würde, wenn man etwa Rüstungsaufträge in der Folge mit zigtausend Frieden bezahle. Jedermann müsse eingestehen, daß sich aus all diesen Erwägungen heraus Freiheit besser als Bezeichnung der neuen Obereinheit des Geldes eigne. Im übrigen, so schloß der Finanzminister seine diesbezügliche Rede vor dem Parlament mit dem ihm eigenen sarkastischtrockenen Humor, habe Freiheit mit dem Geld eine uralte Eigenschaft gemein: non olet, woher man beide auch bekomme.)

„Ich lasse Ihnen in den nächsten Tagen dreitausend Freiheiten überweisen. Wann sind beide Modelle zur Probevorführung bereit?“

„Ich brauche zum Bau des männlichen Freßrobots mindestens noch sechs Wochen.“

„Gut“, Schmidbruch zog einen Taschenkalender heraus, „sagen wir sieben Wochen, dann würde ich für den Achtundzwanzigsten des nächsten Monats die Probevorführung ansetzen. Ist Ihnen das recht?“

„Einverstanden, Herr Präsident.“

„Gut, dann können wir gehen. Die Besprechung ist beendet.“ Sie gingen hinaus. Der Regen hatte nachgelassen.

Schmidbruch nickte Podesta kurz zu, stieg in seine Limousine und brauste davon.

Podesta duckte seinen Kopf tief in den hochgestellten Kragen seines Mantels, steckte beide Hände tief in die Manteltaschen und schlenderte langsam die im Schein der Laternen matt glänzende Straße hinab. Manchmal blieb er vor einer der hell erleuchteten Auslagen stehen, blickte gedankenlos hinein, ging wieder weiter. Aus der halboffenen Tür eines Bierlokals dröhnten die grölenden Stimmen von Betrunkenen: … und träumt von einem Mägdelein.

Podesta träumte nicht von einem Mägdelein. Was denkt wohl ein Mann wie Podesta, wenn er spätnachts allein durch eine vom Regen leergeschwemmte Straße geht?

Podesta dachte an den Flug der Tauben, der grauen Vögel, die durch die engen Gassen seiner südlichen Heimatstadt fliegen, handhoch über das bucklige Pflaster dahinsegeln und dann mit wenigen Flügelschlägen den Himmel erreichen, der sich weit und herrlich über die windschiefen Dächer wölbt.