Kitabı oku: «Gesang der Lerchen», sayfa 8

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11

Am Mittag des folgenden Tages saß Philipp schon im Zug und fuhr in den Westen. Gleich morgens war er mit Sophie in die Parteizen-trale gegangen. Er musste im Vorzimmer eines Parteisekretärs warten, während Sophie mit dem Sekretär sprach. Sie bekam ein Schreiben, das Philipp als Kurier auswies, der auf dem Wege nach Düsseldorf in die KPD-Zentrale war.

»In Marienborn musst du umsteigen und mit der Kleinbahn bis zu einem Ort fahren, der Hötensleben heißt«, instruierte sie Philipp. »Dort fragst du nach dem Genossen Wendt, der bringt dich morgen vor Tagesanbruch über die Grenze und holt dich bei deiner Rückkehr auch wieder ab. Und vergiss nicht, du reist als Genosse, sag Genosse Wendt zu ihm!«

Werde ich es schaffen?, fragte Philipp sich. Es blieben ihm genau genommen nur zwei Tage für diese Reise. In Gedanken malte er sich den Ablauf der Trauerfeier aus: Sicher werden sie eine katholische Beerdigung ausrichten, dafür wird schon Oma Josepha sorgen. Auf diese Weise wird sie einen späten Sieg über ihren evangelischen und in seinem Leben in religiösen Dingen gleichgültigen Schwiegersohn erringen wollen. Der dicke Schreinermeister Heinkes wird ins Haus kommen, sie werden den Sarg aussuchen und die Ausstattung besprechen. So war es auch, als der bei ihnen lebende kranke Onkel Simon und ein Jahr danach Philipps Schwester Guste gestorben waren, beide an Schwindsucht. Nur zehn Jahre alt ist Guste geworden, und der Vater hat gemeint, Simon habe sie angesteckt. Der dicke Heinkes wird wieder klagen, dass im Bestattungsgeschäft nichts zu verdienen sei, und schon gar nichts bei Kinderbestattungen. »Du weißt schon, die kleinen Särge und so«, hatte er bei der Vorbereitung der Beerdigung von Philipps Schwester geklagt. Und dann hat er sich lange darüber ausgelassen, dass es bei den vielen geschäftlichen Sorgen mit ihm auch nicht mehr zum Besten stände. »Weißt du, Paul, ich krieg verdammt keinen mehr hoch; meine Alte beschwert sich schon.«

Philipp, der am Stuhl seines Vaters lehnte und mithörte, verstand das nicht, hatte er doch bei der Beerdigung von Onkel Simon gesehen, wie sechs Träger den großen Sarg hochgehoben und getragen haben.Das war nun über fünfzehn Jahre her, der dicke Heinkes verkaufte immer noch Särge, hat seine Werkstatt vergrößert, einen Ausstellungsraum gebaut, in dem die schönsten Särge mit wunderbaren Ausstattungen und Beschlägen zu bewundern sind, hat das Haus aufgestockt und die Geschäftsräume modernisiert.

Opa Ferdinand wird da sein. Beim Streuselkuchenessen nach der Bestattung wird er tüchtig zugreifen und seinen Kaffee schlürfen, wobei die braunen Spitzen seines sonst weißen Schnurrbartes tief in die Tasse hineinreichen. »Du geihst bi die Kommunisten?«, hatte er in breitem Dialekt, einem Gemisch aus Ostpreußisch und westfälischem Platt, Philipp beim Abschied gefragt. Das Hochdeutsche hat er im Alter verlernt. »Dei wollen allet updeelen, dei Kommunisten. Wenn de eenen Sack Kartüffel geernt hes un et kömmt en Kommunist vorbie, dann will hei de Hälft abhebben. De Hälft gehört mie, sägt de Kommunist. Nu dann pass ma gut op die op«, hat er noch gesagt, hat sich seine Joppe angezogen, ist in die Holzschuhe geschlüpft und in den Hühnerstall gegangen, um die Eier aus den Nestern zu nehmen.

Die Tanten Johanna und Emma werden auch mit ihren Männern kommen. Emma war schon früh aus der Scheune ausgezogen. Sie heiratete einen Versicherungsvertreter, der eine Hasenscharte hat. Schon als junge Frau wurde sie schwerhörig. Onkel Ditz, der eigentlich Dieter hieß, hatte sich daher angewöhnt, laut zu sprechen, und brachte bald nur noch Laute hervor, die zwar von seiner Frau, aber nicht mehr von den anderen Menschen als eine menschliche Sprache verstanden wurden.

Als junger Ehemann wurde Ditz bald arbeitslos, so dass Emma durch Nähen und gelegentliche Aushilfe in einem Schlachterladen für ein einigermaßen ausreichendes Einkommen sorgen musste. Ihr Mann bezeichnete und betätigte sich seitdem als Erfinder. Er bastelte und tüftelte an einer Konstruktion aus leeren Garnrollen und Gummibändern und versicherte allen, dass, wenn diese Erfindung einmal fertig sei, sie ohne Motor und immerzu laufen würde, sozusagen als ein perpetuum mobile.

Johanna hatte nach Emmas Auszug bald das Regiment in der Scheune übernommen, diese weiter ausbauen lassen und zu einer gemütlichen Wohnung eingerichtet. Ferdinand bekam eine auf dem Heuboden ausgebaute Kammer. Nach der Vergrößerung der Hühnerfarm übernahm Johanna den für die gewachsene Anzahl der Hühner zu klein gewordenen Schuppen als Waschküche, stellte einen Herd und einen Tisch hinein, so dass sie dort auch ihre Mahlzeiten einnehmen konnten. Bald wohnten sie nur noch in dem Schuppen. An Sonntagen aber und wenn sich Besuch angekündigte, benutzten sie die Wohnung, zogen sich aber vor dem Betreten die Schuhe aus.

Als nicht mehr ganz junges Mädchen war Johanna manchmal mit ihrem Vater mitgegangen, wenn er im angrenzenden Dorf bei einem Bauern aushalf. Dort lernte sie den Sohn des Hofbesitzers kennen. Als sie ein Kind von ihm erwartete, wollten die jungen Leute heiraten. Aber der Hofbesitzer hatte für seinen Sohn die Tochter eines Nachbarhofes vorgesehen, und Ferdinand bangte um das Wohnrecht für die Scheune, nachdem Paul ausgezogen war. Er bedrängte seine Tochter, doch einen Bergmann zu heiraten. Johanna war aber inzwischen Mutter von einem Sohn, und für eine Frau mit einem Kind war die Auswahl selbst unter Bergleuten nicht sehr groß. Schließlich heiratete sie einen verwachsenen Waschkauenwärter, der wesentlich kleiner war als sie und, durch seinen Buckel behindert, nur Putz- und Reinigungsarbeiten auf der Zeche verrichten konnte. Onkel Hugo besaß Bücher, war ein belesener Mann und erzählte wunderbare Geschichten. In der Familie hieß es, er habe diese Geschichten alle in seinem Buckel gespeichert.

Johanna war seit ihrer Heirat mit »dem Buckligen« verbittert und hat es Lisa nie verziehen, dass diese ihren Bruder Paul aus der Scheune rausgeheiratet hat und dass ihnen dadurch das Wohnrecht verloren gegangen war. Sie sprach mit Lisa nur das Notwendigste, sagte, wenn sie von ihr sprach, immer nur »die Frau« und hielt sich selbst vor Philipp mit der Verachtung für dessen Mutter nicht zurück. Lisa wiederum sprach von Johanna nur als der »Rothaarigen«, die ebenso falsch sei wie alle anderen Rothaarigen auch.

Mutters Schwestern, deren Männer und der Onkel Hännes werden auch kommen. Den Onkel Jupp, den in Frankreich gefallenen Helden der Familie, von dem Oma Josepha oft schwärmte als dem besten ihrer Kinder, hat Philipp nie kennen lernen können.

Auch Tante Grete lebte nicht mehr. Nachdem Onkel Simon die Schwindsucht bekommen hatte, nicht mehr arbeiten konnte und sie aus der Werkswohnung ausziehen mussten, hat Josepha die Familie vorübergehend bei sich aufgenommen.

Nach dem Tod ihres Mannes war Grete mit ihren zwei Töchtern nicht lange Witwe. Sie heiratete einen Werkmeister der Metallhütte. Josepha meinte, Grete habe als einzige ihrer Töchter »eine gute Partie« gemacht. Philipp erinnerte sich, dass es in der Wohnung von Tante Grete zusätzlich zur Küche ein richtiges Wohnzimmer gab, in dem auf einem kleinen, auf Rollen laufenden Tisch eine Kristallschale stand mit den schönsten Südfrüchten, bunt und wunderbar anzuschauen − und aus Wachs.

Als Grete im April 45 die Amerikaner ins Ruhrgebiet einmarschieren sah, war sie glücklich über das Ende des Krieges, öffnete das zur Straße gehende Fenster ihrer Wohnung und winkte ihnen freudig zu. Ein amerikanischer Soldat schoss ihr in die Brust; sie war sofort tot. Ihre beiden Töchter, vierzehn und sechzehn Jahre alt und mit ihren blauen Augen und blonden Locken richtige Schönheiten, hatten von ihrem Vater die Schwindsucht geerbt und starben beide im ersten Hungerwinter nach dem Krieg.

Onkel Hännes, der nach der Lehre als Bäcker und Konditor noch einige Jahre im Haus des Meisters wohnte, musste dort schließlich ausziehen, weil er die einzige Tochter des Meisters verschmähte, eine dickliche Jungfrau, welche eine Reihe von Jahren älter war als Hännes. Er nahm eine Arbeit in der neben der Teerdestillation neu gebauten Chemiefabrik an und backte nur noch zu besonderen Anlässen. So brachte er zu Josephas Geburtstagen jedes Mal eine wunderschöne Torte mit, auf der die herrlichsten Rosen, Elfen und Nixen, bunt und aus Marzipan, zu bestaunen waren. Josepha machte allerdings dem Staunen immer ein schnelles Ende, indem sie mit einem großen Küchenmesser ungerührt das Wunderwerk zerschnitt und die Kuchenstücke verteilte.

Hännes heiratete eine kinderlose Parteifunktionärs-Witwe, die für die Nazis schwärmte und ihn dazu brachte, in die Partei einzutreten. Als der Russlandfeldzug begann, wurde Hännes eingezogen, geriet bald in Gefangenschaft und kam erst vier Jahre nach Ende des Krieges aus Russland zurück. Seine Frau, die als Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft gearbeitet hatte, nahm gleich nach dem Krieg den ausgebombten Geschäftsinhaber bei sich auf. Für Hännes war nach seiner Rückkehr kein Platz mehr in der Wohnung. Er nahm sich ein Zimmer, arbeitete wieder in der chemischen Fabrik und war in seiner freien Zeit meist betrunken.

Als Philipp ihn in den Sommerferien besuchte, erzählte Onkel Hännes von seiner Zeit in Russland. Sie sollten im ganzen Land die von der Demontage in Ostdeutschland stammenden Maschinen auspacken und aufstellen. Aber meist waren die Teile nicht vollständig, die Kisten standen im Freien, waren vorher schon aufgebrochen worden, die Maschinenteile, dem Regen und dem Schnee ausgesetzt, waren verrostet. Wenn die Kriegsgefangenen den russischen Bewachern dann erklärten, dass es unmöglich sei, aus den unvollständigen und verrosteten Teilen ganze Maschinen zu bauen, schimpften und fluchten die Russen, drohten mit Erschießung und brachten die Gefangenen zum nächsten Ort, wo sich das gleiche Spiel wiederholte. »Und wo wir auch hinkamen, Philipp, überall gab es russische Straflager. Wenn wir fragten, sagte man uns, ausgerechnet hier sei ein Zentrum für Strafgefangene. Ich glaube, ganz Russland besteht nur aus Straflagern.«

Opa Jacob wird still den Trubel der Beerdigung und die vielen Besuche über sich ergehen lassen. Man wird ihn kaum wahrnehmen und wenig beachten. Er war alt geworden und bekam schlecht Luft. Die Steinstaublunge machte ihm zu schaffen. In seiner besten Zeit war er Schießmeister auf der Zeche. Der Steiger hatte ihn als einen tüchtigen und zuverlässigen Arbeiter für diesen Vertrauensposten vorgeschlagen. Jacob musste beim Vortrieb neuer Strecken die Bohrungen im Stein überwachen, anschließend das Dynamit einfüllen, die Zündschnur legen und dafür sorgen, dass vor jeder Sprengung die Strecke geräumt wurde. Dann musste er dreimal ins Horn blasen und durfte endlich die Zündung betätigen. Wenn sich nach der Sprengung der Steinstaub gelegt hatte, musste er den Streckenabschnitt inspizieren und freigeben für das Wegräumen der Steine. Als bei ihm die erste Atemnot auftrat, war er schon Invalide. Er ließ sich untersuchen.

»Ihre Lungen sind versteinert, Krüger, Sie haben zu viel Quarz eingeatmet mit dem Steinstaub«, hatte der Arzt gesagt. Jacob stellte einen Antrag auf Anerkennung als Berufskrankheit und erhoffte sich dadurch eine höhere Rente. Aber der Vertrauensarzt der Bergbaugenossenschaft stellte nur altersbedingte Atembeschwerden fest. Der Antrag wurde abgelehnt.

Philipp sah vor sich ein Bild aus seiner Kindheit. Es zeigte einen Besuch bei Opa Jacob in der Schusterkammer: Sonntagmorgen. Der Vater sitzt am Fenster und liest. Philipp klettert hinter seinem Rücken den Sessel hoch, schaut ihm über die Schulter und betrachtet eine Zeichnung in seinem Buch.

»Was machen die Männer da?«

»Sie reiten.«

»Wohin reiten sie?«

»In die Sierra Morena.«

»Was ist eine Sierra Morena?«

Keine Antwort.

»Warum ist der große Mann so dünn?«

»Er hat wenig gegessen.«

»Hat sein Pferd auch wenig gegessen?«

»Ja, gefressen heißt das.«

»Der kleine Mann ist sehr dick, hat der dem großen alles weggefressen?«

Statt zu antworten, ruft der Vater nach der Mutter.

»Nimm mir den Jungen aus dem Nacken!«

»Sofort«, sagt sie, »gib mir das Buch, mach den Sessel frei und stell dich hier an den Herd.« Und zu Philipp: »Hör mal! Ich glaube, Opa ist in der Schusterkammer.«

Im Nu ist Philipp vom Sessel heruntergesprungen, die Treppe hochgeflitzt und öffnet nun vorsichtig die Tür zur Schusterkammer.

»Opa, soll ich Kautabak holen?«

»Ich hab noch welchen.«

Behutsam schließt Philipp die Tür und setzt sich auf den alten, wackligen Schemel. Mit einem Blick übersieht er die Lage. Ein Paar Schuhe der Großmutter bekommen neue Ledersohlen. Die neuen Sohlen sind schon vorgeschnitten. Sie liegen in der braunen Brühe in einer Schüssel, die als Spucknapf für Opas Kautabaksud und zum Wässern der Sohlen dient. Der Opa rückt den Dreifuß zurecht, entnimmt der Schüssel eine neue Sohle, legt sie auf den Dreifuß und beginnt sie mit dem Schusterhammer zu klopfen. Von Zeit zu Zeit hält er inne, und Philipp darf die wieder feucht gewordene Sohle mit einem Tuch abtupfen. Dann nimmt Opa Jacob einen Schuh, der schon auf einen Holzleisten gespannt ist, legt die neue Sohle darauf, gibt einen geschlossenen Riemen darüber, legt den Schuh quer über seine Knie und tritt mit dem Fuß in die herunterhängende Riemenschlinge. Jetzt können sie beginnen. Opa nimmt den Pinnort und den Schusterhammer und macht ein kleines Loch in die Sohle, Philipp reicht ihm aus einer Schachtel einen Holzpinn, den Jacob vorsichtig einschlägt. Schon ist die erste Verbindung zwischen Schuh und neuer Sohle hergestellt. So arbeiten sie, bis zwei Reihen eingeschlagene Holzpinne die Sohle nahe am Rand zieren. Jetzt müssen die Enden der Pinne und die Sohle mit einer Raspel und anschließend mit einer Glasscherbe geglättet werden. Aber dazu kommt es nicht.

Onkel Gorski besucht Opa Jacob. Er lässt sich schwer auf den einzigen Stuhl in der Kammer nieder, zieht eine volle Schnapsflasche aus seiner Jackentasche, stellt sie auf den Schustertisch und sagt zu Philipp: »Geh, Jungchen, hol Gläser!«

Philipp beeilt sich. Wieder unten, sieht er, dass die Großmutter schon von dem Kirchenbesuch zurück ist und den zu zwei großen Lappen ausgerollten und zum Trocknen aufgehängten Nudelteig von der Herdstange nimmt, um ihn in lange Streifen zu schneiden. Sie bietet Philipp an, aus den Rändern, die für die Streifen nicht reichen, Figuren für sich zu formen und diese im Herd zu backen. Aber heute verzichtet Philipp darauf.

Zurück in der Schusterkammer, sieht er, dass Onkel Gorski schon abgeschnallt hat. Das Holzbein lehnt mit dem nach oben gekehrten Knüppelende am Schustertisch, während an Onkel Gorskis Stuhl ein leeres Hosenbein herunterhängt. Philipp stellt die Gläser auf den Tisch, Onkel Gorski schenkt ein.

»Na, Jacob, dann wollen wir erst einmal!«

Schon sind die Gläser leer. Opa Jacob schüttelt sich und streift mit dem Handrücken nach links und rechts über seinen Schnurrbart.

»Teufelszeug!«

»Ja«, sagt Onkel Gorski, »aber auf einem Bein kann man nicht stehen.«

Er füllt erneut die Gläser. Dann folgt noch einige Male die gleiche Zeremonie, wobei Onkel Gorski vor dem dritten Einschenken noch »Alle guten Dinge sind drei« sagt, danach aber ohne weitere Sprüche einfüllt. Opa Jacob hat das Holzbein zwischen seine Knie geklemmt und mit einer Zange die abgelaufene Gummiplatte heruntergerissen. Philipp reicht ihm aus der Vorratskiste ein Stück Gummi, das der Opa passend schneidet und das sie unternageln, wobei der Junge ihm die Nägel reicht. Onkel Gorski schimpft auf die Kapitalisten, auf die Militaristen, auf die Freikorpsleute, die einem Bergmann schon bei der kleinsten Revolution die Beine abschießen, besonders aber schimpft er auf einen Militaristen, der Hindenburg heißt und den Jacob ja nicht wählen dürfe.

»Du musst Thälmann wählen!«, sagt er erregt und schlägt mit der Faust auf den Schustertisch, so dass die Gläser und die leere Schnapsflasche hochspringen.

»Mit deinem Thälmann bringst du uns diesen Spinner Hitler«, sagt Jacob ruhig, und dann lauter: »Wer Thälmann wählt, wählt Hitler!«

Dabei schlägt er kräftig mit dem Hammer auf die Gummiplatte.

»Gib mir sofort mein Bein zurück!«, ruft Onkel Gorski. »Mit einem Verräter rede ich nicht!«

Er ist ganz rot im Gesicht, springt auf und versucht stehend das Holzbein in die leere Hose zu schieben. Jacob steht auch auf und will helfen. Onkel Gorski verliert das Gleichgewicht, wirft den Stuhl um, versucht sich an Jacob festzuhalten, stürzt und streckt »alle dreie« von sich. Jacob versucht noch, sich am Tisch zu halten, greift aber in die Luft und stürzt auch. Dann ist es lange still. In die Stille hinein hören sie unter sich drei Klopfer. Die Großmutter hat mit dem Besenstiel gegen die Decke gestoßen und damit ein Zeichen gegeben, dass das Mittagessen fertig sei. Da dreht sich Opa Jacob zu dem neben ihm liegenden Onkel Gorski.

»Du bleibst doch zum Essen?!«

12

Am späten Abend erreichte Philipp Hötensleben. Genosse Wendt schlief schon; er war ungehalten über die späte Störung und schimpfte: »Was denken die sich denn eigentlich in Berlin! Ich möchte auch mal meine Ruhe haben.«

Philipp erzählte ihm, dass er besonders wichtige Akten überbringen müsse und dass er erst heute früh vom Parteivorstand ausgewählt worden sei. Dabei klemmte er seine Schultasche fest unter den Arm, als wollte er die drei trockenen Schrippen, das zweite Paar Socken sowie das frische Unterhemd darin gegen alle Parteifeinde verteidigen.

»Du bist noch sehr jung, Genosse, bist du zum ersten Mal unterwegs?«

»Ja, aber der Genosse Ulbricht hat mich persönlich ausgewählt.«

Das muss wohl reichen, dachte Philipp. Und er behielt Recht; der Genosse Wendt stellte keine weiteren Fragen, sondern weckte seine Frau. Gemeinsam bereiteten sie ein üppiges Abendbrot für den Gast: Brot, Käse, Wurst, Butter, Kaffee mit Milch und anschließend Obst. Philipp langte tüchtig zu und bedankte sich anschließend artig.

»Was soll das, machst du dich lustig über uns?«, fragte der Genosse Wendt. »Die Sachen sind doch von der Partei geliefert worden. Wenn du mit dem Parteivorstand zu tun hast, dann kennst du das ja. Die sollten sich allerdings auch mal was anderes einfallen lassen als immer nur die gleiche Dauerwurst. Meine Frau macht dir noch das Paket fertig für die Weiterreise.«

Philipp bekam eine ganze Dauerwurst, dazu Brot und Butter.

»Wenn du die Sachen in die Tasche steckst, Genosse, pass auf, dass die Akten nicht fettig werden«, ermahnte ihn die Frau.

»Ja, Genossin.«

Um vier Uhr am nächsten Morgen wurde Philipp geweckt. Wieder gab es einen reichhaltig gedeckten Tisch zum Frühstück, und wieder mit richtigem Kaffee. Danach brachte ihn der Genosse Wendt zur Grenze. Es war kühl und feucht, und es ging ein leichter Wind. Ab und zu kam das Mondlicht durch die Wolken.

»Wenn du zurückkommst, Genosse, nicht vor zehn Uhr abends, nur der Nachtposten ist eingeweiht, mach dich bei dem Posten bemerkbar, er bringt dich zu mir.«

»Gibt es auf der Westseite keine Kontrollposten?«

»Ach was! Denen ist das doch egal.«

Philipp fröstelte; er hörte vor sich schon das Rauschen des Wassers. Eine Taschenlampe leuchtete auf, der Lichtstrahl tastete sie ab und verweilte einen Moment auf Philipps Gesicht. Aus der Dunkelheit kam eine Stimme.

»Charascho!«

»Dobroje utro!«, sagte der Genosse Wendt.

»Utro!«, antwortete die Stimme aus der Dunkelheit.

Auf einmal sah Philipp im Mondlicht einen schmalen Holzsteg und darunter das Wasser fließen.

»Wenn du drüben bist, gehst du durch die Felder einfach geradeaus bis zur Asphaltstraße, dann rechts weiter bis Schöningen. Von dort fährt wochentags um kurz vor sechs ein Bus nach Helmstedt. Wie du allerdings heute weiterkommst, das musst du sehen. Gute Reise, Genosse!«

»Danke Genosse!«

Philipp überquerte den Bach und war im Westen.

An der Haustür hing ein mit einer Heftzwecke befestigter schwarzer Flor. Die Leiche ist also im Hause, dachte Philipp. Er klopfte, die Mutter öffnete und begann leise zu weinen. Philipp umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Er war selber erstaunt über seine Regung.

»Wo liegt Papa?«, fragte er.

»Im Schlafzimmer«, antwortete die Mutter und nahm ihm die Tasche und seine Jacke ab. »Wir haben wieder die Betten abgebaut.«

Wieder, dachte Philipp, das heißt, wie bei Onkel Simon und bei der kleinen Guste. Er öffnete die Tür und sah den Vater. Der offene Sarg stand leicht nach vorn geneigt auf einem mit schwarzem Tuch behängten Gestell. Rechts und links vom Sarg standen je zwei Kandelaber mit brennenden Kerzen, dahinter Lebensbäume, deren süßlicher Duft den Leichengeruch überlagern sollte. Das Fenster war mit einem Tuch verhängt, so dass die Nachmittagssonne nicht eindringen konnte.

Der Vater sah gut aus, unnatürlich gut, mit vollen roten Wangen und vollem Haar. Die verschränkten Hände schauten aus, als hätten sie nie schwere Arbeit verrichten müssen. Sicher haben sie ihm mit Watte die eingefallenen Wangen aufgepolstert, dachte Philipp.

»Er sieht so gut aus«, jammerte die Mutter.

»Ja, er sieht sehr gut aus«, heuchelte Philipp.

Er wusste, dass der Heinkes immer übertreiben musste. Ein Frisör verdiente sich bei ihm nach Feierabend etwas dazu und richtete die Leichen her. Von Heinkes ständig bedrängt, musste der Haar- und Kosmetikkünstler mit seinem großen Kosmetikkoffer aus Leichen alter oder durch Unfälle entstellter Menschen jung aussehende, heile, hübsche Puppen machen. So also sieht das Ende eines Menschenlebens aus − ein Witz, dachte Philipp. Er erinnerte sich an eine Auseinandersetzung mit dem Vater kurz vor seinem Weggang nach Berlin: Die Mutter hatte vergessen, die wöchentliche Tabakration zu besorgen. Der Vater, über den Umweg Kneipe von der Arbeit kommend, tobte, weil er nichts zu rauchen vorfand. »Ein Päckchen Tabak in der Woche, mehr verlange ich ja nicht; aber nein, auch das ist schon zu viel! Soll ich denn nur noch malochen gehen und sonst nichts mehr vom Leben haben? Da kann ich ja gleich verrecken!«

Die Mutter schwieg und stellte ihm das Essen auf den Tisch. Der Vater nahm den mit Suppe gefüllten Teller und warf ihn auf den Boden. Der Teller zersprang, die Suppe verteilte sich in der Wohnküche. Der Vater sprang herum, stampfte mit den Füßen auf das Durcheinander von Suppe und Scherben, schimpfte weiter und bedrohte die Mutter. Da stand Philipp auf, umklammerte seinen Vater mit beiden Armen, hob ihn hoch, trug ihn zum Stuhl, setzte ihn heftig ab, nahm einen neuen Teller aus dem Schrank, füllte ihn mit Suppe, setzte den vollen Teller vor den Vater auf den Tisch und sagte mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ: »Jetzt isst du und rührst dich nicht eher vom Fleck, bis du aufgegessen hast!«

Wie leicht er doch ist, dachte Philipp und merkte sofort, dass er als Kind manchmal vom Vater mit genau den gleichen Worten zum Essen gezwungen worden war. Der Vater saß einen Moment wie versteinert, nahm dann aber den Löffel und aß.

Die Mutter weinte, beseitigte die Scherben und die Essensreste vom Boden, wischte sich mit den Händen die Tränen ab und dabei Suppe ins Gesicht.

Philipp schaute den beiden zu, und ein seltsames Gefühl nahm von ihm Besitz. Er konnte es nicht deuten, wusste aber, dass es weder Triumph noch Wut war.

Die Wohnküche war voll mit Menschen, es waren die Tanten und Frauen aus der Nachbarschaft. Sie tranken Kaffee und aßen Streuselkuchen. Onkel Hännes war der einzige Mann im Raum. Vor ihm stand eine Schnapsflasche und ein leeres Glas.

»Da kommt ja unser Studierter«, begrüßte er Philipp. »Komm her, iss Kuchen! Bei den Russen kriegst du ja doch nicht genug zu essen.«

Philipp begrüßte alle und setzte sich zur Großmutter. Die Mutter schenkte ihm Kaffee ein und stellte den Kuchenteller näher zu ihm hin.

»Wo ist Opa?«, fragte Philipp.

»In der Schusterkammer, der kriegt hier keine Luft«, antwortete die Großmutter.

Eine Nachbarin wollte wissen, ob Philipp denn keine Angst habe vor den Russen, man wisse doch, und so stände es ja auch in den Zeitungen, wie schrecklich diese Menschen seien. Sie würden Uhren stehlen und die Frauen vergewaltigen. Philipp wurde ärgerlich.

»Ich habe mehr Angst vor den Deutschen, sie vertreiben oder vergasen die Menschen.«

Hännes sprang auf.

»Ein Russe! Ein Russe! Du redest schon genau wie die Polit-Kommissare. Alles müsst ihr verdrehen. Seht ihn euch an! Halb verhungert ist er schon. Sie haben nichts zu essen, aber dafür haben sie ihren Stalin und ihre Dialektik, so nennen sie das, wenn sie einem einreden wollen, dass Hungern und Gefängnisse gut sind für den Sieg des Kommunismus.«

»Kinder, seid ruhig, vertragt euch, nebenan liegt Paul«, versuchte Oma Josepha zu schlichten und zog Hännes wieder auf seinen Platz zurück.

Philipp fiel ein, dass er in der Schultasche noch gut die Hälfte der Dauerwurst hatte. Er holte die Wurst, schnitt dicke Scheiben davon ab und verteilte diese.

»Probiert mal! Wurst aus Ostdeutschland. Ich habe sie auf der Reise nicht ganz geschafft.«

Die Frauen kosteten schmatzend die Wurst und lobten ihre gute Qualität, Onkel Hännes weigerte sich zu probieren.

»Aber in der Zeitung stand, bei euch gibt es immer noch Lebensmittelkarten«, bemerkte eine Nachbarin.

»Das stimmt«, erwiderte Philipp, »aber es gibt schon viel ohne Marken zu kaufen. Wir haben Läden, dort kann man von der Schokolade bis zum Kaviar alles bekommen, natürlich ein bisschen teurer.«

»Das finde ich richtig«, sagte eine andere Nachbarin und langte nach einem neuen Stück Streuselkuchen. »Wer Kaviar essen will, der soll auch dafür bezahlen. Ich selber mag gar keinen Kaviar.«

»Hast du schon mal welchen probiert?«, fragte Hännes und schüttete sich den nächsten Schnaps ein.

»Nee, woher denn«, gab die Nachbarin kauend zu.

»Dann red auch nicht so daher«, sagte Hännes und trank das Glas in einem Zug leer.

Philipp übernachtete auf dem Sofa in der Wohnküche und schlief lange nicht ein. Er musste an den Vater denken, der nebenan im Sarg lag.

Am nächsten Morgen war es trübe und regnerisch. Zuerst kamen Heinkes und sein ältester Sohn ins Haus, um mit Lisa noch einmal alles zu besprechen. Heinkes trug einen Zylinder auf dem Kopf. Als er Philipp sah, unterbrach er die Besprechung, setzte kurz sein Trauergesicht auf und drückte ihm stumm die Hand. Dann wurde er wieder geschäftig.

»Na, Junge, haben wir den Vater nicht gut hingekriegt? Das war gar nicht so einfach; der Stein muss ein Riesenbrocken gewesen sein. Der Vater war ganz eingedrückt. Aber der Heinkes macht das schon.«

Nach und nach traf die Verwandtschaft ein und füllte das Haus. Alle traten noch einmal an den offenen Sarg und nahmen Abschied von Paul. Dann kam die Kutsche.

»Für die Fußkranken«, sagte Heinkes. »Bis zum evangelischen Friedhof ist es doch ein ganz schönes Stück Weg.«

Josepha war mit ihrem Versuch, für Paul eine katholische Totenmesse und eine Beerdigung auf dem katholischen Friedhof zu bekommen, an der Weigerung des Pfarrers gescheitert.

Ferdinand saß schon in der Kutsche. Als Josepha ihn bat auszusteigen und noch einen Moment ins Haus zu kommen, weigerte er sich. Auf der Straße vor dem Haus sammelten sich die Nachbarn. Die Männer trugen Zylinder, viele Frauen hatten schwarze Hüte mit Gesichtsschleiern aufgesetzt.

Die Musiker vom Knappenverein in ihren schwarzen Uniformen mit den großen Messingknöpfen versammelten sich auf dem Hof und stellten ihre Blasinstrumente neben sich auf den Boden.

Zuletzt kam der Leichenwagen, gezogen von zwei mit schwarzen Tüchern bedeckten Pferden. Die Pferde trugen schwarze Masken und zwischen den Ohren schwarze Federbüsche. Durch die Glasscheiben des Leichenwagens sah man im Innern auf allen Seiten blütenweiße Spitzengardinen.

Sechs Knappen mit schwarzen Federbüschen an den Hüten und weißen Handschuhen kamen ins Haus. Josepha bat sie noch einen Moment zu warten, holte eine mit Weihwasser gefüllte Weinflasche und besprenkelte die Leiche und den Sarg. Die Knappen schlossen den Sarg, trugen ihn auf die Straße und schoben ihn in den Leichenwagen. Dann holten sie die Kränze, von denen sie einige außen an die Seitenlaternen des Wagens hängten, andere in den Wagen neben den Sarg legten. Zuletzt stellten sie einen großen Kranz mit langen weißen Schleifen hinter den Sarg und schlossen den Leichenwagen. Der große Kranz war durch die Scheiben für alle sichtbar. Die Schleifen waren so geordnet, dass man die Beschriftung gut lesen konnte: Ein letzter Gruß von Deiner Dich liebenden Frau und von Deinem Sohn.

Philipp führte Jacob zu der Kutsche, in der gegenüber Ferdinand schon zwei dicke Frauen aus der Nachbarschaft Platz genommen hatten. Die Knappenkapelle formierte sich, setzte sich auf ein Zeichen von Heinkes’ Sohn in Bewegung und spielte einen Trauermarsch. Ihr folgte der Leichenwagen, begleitet von drei Trägern auf jeder Seite. Dahinter Lisa, Josepha und Philipp, der in der Mitte ging und den beiden Frauen den Arm reichte. Ihnen folgte die Familie, dann kamen die Nachbarn und die Kumpel. Den Abschluss bildete die Kutsche. Als der Zug in die Hauptstraße nach Hamborn einbog, trat ein Polizist an die Spitze und schritt im Takt der getragenen Musik vor der Musikkapelle her. Passanten blieben am Straßenrand stehen und lauschten der Musik, Männer lüfteten ihre Hüte, Autos hielten an, Radfahrer stiegen ab, Kinder liefen nebenher, aus den Häusern am Wege traten Frauen vor die Tür, banden ihre Schürzen ab und bekreuzigten sich.

Vor der evangelischen Kirche hielt der Zug kurz an. Ein junger Pastor kam, trat an den Leichenwagen, sprach ein Gebet, begab sich hinter den Wagen, und der Zug ging weiter. Nach einer halben Stunde Weg erreichte der Zug den Friedhof und hielt. Die Träger öffneten den Wagen, legten die Kränze zur Seite und übernahmen den Sarg. Der Zug folgte ihnen auf den Friedhof. Ferdinand, Jacob und die beiden dicken Nachbarinnen stiegen aus der Kutsche und gingen hinter den anderen her. Der Leichenwagen fuhr heim.

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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
790 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783927708464
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