Kitabı oku: «Das Lager», sayfa 4

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2

Marek hatte sich beim Bäcker mit belegten Brötchen und Eistee eingedeckt und sich dann auf seinen Posten vor Koscewskijs Haus begeben. Bisher hatte er noch nichts von ihm gesehen. Kein Wunder, Koscewskij war letzte Nacht bis in die frühen Morgenstunden unterwegs gewesen, der schlief sich bestimmt erst mal aus.

Marek biss in ein Sandwich mit Remoulade, Ei und Käse und checkte mit gerunzelter Stirn seine Nachrichten auf dem Smartphone. Eine sprang ihm direkt ins Auge. Sie war bereits gestern Abend um kurz nach neun Uhr eingegangen:

Kontakt zu Maria abgebrochen / letzte Info: Übergabe der Mädchen 23:00 Parkplatz Dornheckensee bei Bonn / bitte unbedingt eingreifen!

Ihm war, als hätte er einen Knüppel über den Kopf bekommen. Wie hatte er die Nachricht übersehen können? Er hatte gestern Abend sein Handy leise gestellt, um sich bei der Überwachungstour nicht durch ein Klingeln zu verraten. Und jetzt war alles zu spät. Was sollte er tun? Auch wenn es keinen Sinn mehr machte, er musste sofort los. Vielleicht konnte er auf dem Parkplatz wenigstens noch einen Hinweis finden.

Eilig steckte er sein Brot zurück in die Tüte. Als er das Auto anlassen wollte, sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung hinter den Büschen. Der neugierige Junge von gestern, der kam ihm wie gerufen. Marek sprang aus dem Wagen und lief auf das Gebüsch zu.

„Hallo, du, komm mal her. Ich sehe dich, komm da raus.“

Vorsichtig lugte das schmale Gesicht hinter den Blättern hervor.

Marek fiel auf, wie blass der kleine Kerl war. Und wie mager. Aber vielleicht war das normal in dem Alter.

„Jetzt komm schon. Ich tu dir nichts. Es ist mir auch egal, dass du die Schule schwänzt. Geht mich nichts an.“

„Was wollen Sie?“ Der Junge näherte sich misstrauisch, ständig auf der Hut davonzulaufen.

„Du kannst mir einen Gefallen tun. Ich brauche deine Hilfe.“ Gestern war der Junge doch so zutraulich gewesen? Marek versuchte, seine Gereiztheit zu unterdrücken.

„Was soll ich denn machen?“

„Du hast dir bestimmt schon gedacht, dass ich ein Detektiv bin. Ich brauche jetzt jemanden, der mich unterstützt und ein bisschen die Augen aufhält. Und da hatte ich an dich gedacht. Kannst du das für mich tun?“

Der Junge nickte eifrig, sein Gesicht rötete sich vor Aufregung. „Ich bin super als Detektiv. Das will ich nämlich später auch mal werden. Total cool. Was soll ich tun?“

Marek beugte sich zu ihm herunter und sprach in vertraulichem Ton weiter. „Das ist absolut geheim. Du darfst keinem verraten, dass du für mich arbeitest, in Ordnung? Kannst du das?“

„Klar.“ Der Junge setzte eine ernste Miene auf, konnte aber seine Neugier und seinen Stolz nicht ganz verbergen.

„Könntest du ein Auge auf deinen Nachbarn Koscewskij haben? Sag mir bitte sofort Bescheid, wenn er seine Wohnung verlässt. Dann rufst du mich an, ok? Warte, ich schreibe dir meine Nummer auf. So, hier, aber nicht verlieren. Wie heißt du überhaupt?“

„Justin.“

Natürlich. „Ok, Justin, ich bin Marek. Also, du rufst mich sofort an, wenn Koscewskij aus seiner Wohnung kommt oder wenn er Besuch bekommt. Alles klar?“

Diesmal schüttelte Justin den Kopf. „Ich hab' kein Handy“, murmelte er verschämt.

Marek war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass heutzutage jedes Kind mit einem Handy herumlief. Selbst in dieser Gegend.

„Hast du einen Freund, der eines hat und es dir leihen kann?“

Justin schüttelte wieder den Kopf, dann hellte sich seine Miene auf. „Ich rufe Dich von der Telefonzelle aus an. Da hinten ist eine.“

Marek blickte in die gezeigte Richtung und entdeckte neben einer Bushaltestelle eines der Häuschen, die im Handyzeitalter zu einem seltenen Anblick geworden waren.

„Gute Idee. Hier ist ein Vorschuss für dich. Für deine Arbeit oder wenn dir irgendwelche Kosten entstehen, zum Beispiel fürs Telefonieren.“ Er drückte dem Jungen einen Zehneuroschein in die Hand, den der Kleine ehrfürchtig betrachtete. „Ich verlasse mich auf dich, Justin. Ich muss jetzt los. Ruf an, wenn sich etwas tut, ok?“

3

Punkt zwei Uhr schleppte Gilda Lambi drei riesige Plastiktaschen in den Vorraum der Agentur. Trotz der Hitze trug sie immer noch ihre Sweatshirt-Jacke und sah darin aus wie eine kühle Brise. Laura beneidete sie. Ihr war schrecklich heiß, ihre Bluse klebte wie eine zweite Haut an ihrem Rücken und sie spürte die Röte in ihrem Gesicht.

„Was hast du da alles mitgebracht?“

„Nur ein paar Sachen. Equipment, das ich für den Computer brauche, wenn ich recherchiere. Ich habe uns auch eine Caffèttiera Napoletana mitgebracht. Damit kann ich uns richtigen Caffè machen, nicht so eine Brühe, wie ihr sie in Deutschland trinkt.“

„Richtigen Kaffee? Meinst du so eine Metall-Kaffeekanne, die man auf den Herd stellt? Für Espresso?“

„Kein Espresso, ein Caffè. Schön stark und schwarz. Davon wirst du morgens richtig wach.“ Lächelnd zog Gilda die kleine Kanne und ein eingeschweißtes Päckchen Kaffee aus einer großen Tasche. „Das können wir gleich in die Küche stellen. Möchtest du vielleicht jetzt schon einen probieren?“

Laura betrachtete skeptisch das verbeulte Ungetüm aus Blech mit den zwei Henkeln, die in entgegengesetzte Richtungen zeigten. Es sah aus wie ein Becher, auf den man eine umgedrehte Kaffeekanne montiert hatte.

„Äh, nein danke. Mir ist so heiß. Wenn ich jetzt noch einen starken Kaffee trinke, falle ich wahrscheinlich tot um.“ Laura fächelte sich Luft mit einem Fächer zu, den sie aus einem Blatt Papier gefaltet hatte.

„Ganz bestimmt nicht. Die Familie meines Vaters ist aus Neapel, da ist es noch viel heißer als hier. Sie trinken ständig Caffè. Damit kannst du die Hitze sogar besser vertragen.“

Gilda ging entschlossen in die Küche. Laura folgte ihr und sah zu, wie sie Kaffeepulver und Wasser in die kleine Blechkanne füllte und auf die Herdplatte stellte. Nach kurzer Zeit begann das Wasser zu kochen und Gilda drehte die Napoletana mit routinierter Handbewegung um.

„Ganz schön abenteuerlich, ist das nicht gefährlich?“

Gilda schüttelte lächelnd den Kopf.

Wenig später saßen sie einträchtig an dem runden Tischchen und tranken das schwarze Gebräu aus winzigen Tassen.

„Schmeckt gut“, gab Laura zu.

„Sagte ich doch. Viel besser als der Kaffee, den man sonst so bekommt. Und auch viel gesünder.“

Laura nickte, war sich allerdings nicht sicher, ob sie sich dauerhaft daran gewöhnen wollte.

„Womit soll ich jetzt anfangen?“ Tatendurstig schob sich Gilda die Ärmel ihrer Sweat-Jacke hoch.

„Verstau zuerst einmal dein ganzes Zeug, sonst stolpern uns die Kunden noch darüber.“

„Na klar. Aber das geht ruckzuck.“

„Ja? Umso besser. Ich möchte gleich auf Recherche-Tour gehen. In der Zeit werde ich das Telefon auf dich umstellen. Sollte jemand anrufen, notier dir bitte alle wichtigen Punkte.“

„Klar. No Problem.“ Gilda nickte. „Und was soll ich für dich recherchieren?“

Laura überlegt kurz. „Ich schreibe dir zwei Namen auf, dann kannst du mal zeigen, was du alles am Computer herausfindest.“

Gilda lächelte breit. „Ich finde alles heraus, was du möchtest.“

4

Im Schritttempo fuhr Laura durch das schicke Viertel von Bad Honnef, das früher als Rheinisches Nizza bekannt gewesen war. Sie war immer wieder beeindruckt von den prachtvollen Villen und den breiten Kiesauffahrten, die gut als Kulisse für Hollywood-Filme herhalten konnten. Wie reich manche Leute waren.

Aber Reichtum allein macht nicht glücklich.

Sie musste an den Sohn von Hammerstein denken, der inmitten all dieser Pracht aufgewachsen und dessen Mutter so früh gestorben war. Ob das Klischee stimmte, dass reiche, verwöhnte Kinder durch den ganzen Luxus total verkorkst wurden und tief im Inneren einsam waren?

Laura lenkte den Astra in eine schattige Parklücke. Sie wollte zu Fuß weitergehen, um ein Gefühl für die Gegend und die Leute zu entwickeln. Ein Schweißtropfen lief über ihr Gesicht, sie wischte ihn mit dem Handrücken weg. Prächtige, alte Kastanienbäume boten zwar Schutz vor der sengenden Sonne, aber die Luft war staubig und der Asphalt strahlte die Hitze ab wie eine Herdplatte. Laura hatte das Gefühl, sie würde gleich verdampfen. Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie einen Bäcker und beschloss, sich eine Flasche Wasser zu kaufen.

Der Verkaufsraum duftete wunderbar nach frischen Brötchen und Pflaumenkuchen, ein Ventilator wehte kühle Luft von der Decke. Laura bestellte ein Wasser und ein großes Stück Kuchen mit Sahne. Beim ersten Bissen schloss sie genießerisch die Augen.

„Hm, ist der lecker. Der schmeckt so gut, wie der, den meine Großtante früher immer gemacht hat. Einfach himmlisch.“

„Vielen Dank.“ Die Bäckersfrau strahlte über das ganze runde Gesicht. „Den habe ich gebacken. Alles andere macht mein Mann, aber der Prummetaat ist von mir.“

„Einfach köstlich.“, lobte Laura mit vollem Mund.

„Es ist ein altes Familienrezept von meiner Mutter. Sie war als junges Mädchen Hausgehilfin bei der Familie Hammerstein. Schon damals hat sie den Kuchen gebacken. Und stellen Sie sich vor: Noch heute bestellen die Hammersteins den Kuchen bei mir.“ Stolz sah die dralle Bäckerin auf ihr Kuchenblech.

Laura konnte ihr Glück kaum fassen. Sie merkte, wie die Detektivin in ihr erwachte.

„Hausgehilfin bei den Hammersteins? Das ist ja interessant. Zufällig habe ich erst vor Kurzem einiges über die Familie gelesen. Er ist Witwer, nicht wahr? Seine Frau ist wohl schon vor längerer Zeit gestorben. Sie haben sie bestimmt gekannt?“

„Natürlich habe ich Frau Hammerstein Wartenberg gekannt. Schließlich gehe ich seit meiner Kindheit in diesem Haus ein und aus. Also immer, wenn ich den Kuchen dahin bringe.“

„Angeblich war die Frau aus reichem Hause. Die Arme, sie soll oft krank gewesen und früh gestorben sein.“

„Ja, das stimmt. Ich weiß nicht, welche Krankheit sie hatte, sie war sehr blass und still. Eine schöne Frau. Perfekte Figur und immer elegant gekleidet. Eben aus einer erstklassigen Familie.“ Die Bäckerin lächelte versonnen.

„Ihr Mann ist wohl das Gegenteil von ihr. Blass und still ist er jedenfalls nicht. Es gibt doch kaum eine gesellschaftliche Veranstaltung ohne ihn. Waren die beiden ein glückliches Paar?“

„Glücklich? Ja, natürlich. Sie sah doch so schön aus. Und er ist ein Bild von einem Mann. Wenn es in deren Ehe gekriselt haben sollte, habe ich das jedenfalls nicht mitbekommen. Er hätte größeren Streit auch nie geduldet, das ist klar.“

„Wie meinen Sie das?“

„Sie haben Herrn Hammerstein offensichtlich noch nie persönlich getroffen.“ Die Bäckerin lächelte amüsiert. „Er und seine Familie sind seit Generationen der Mittelpunkt der hiesigen Gesellschaft. Sie sehen sich als Vorbilder. Er würde es nie zulassen, dass der gute Ruf der Familie einen Kratzer bekäme. Ehestreitigkeiten wären über kurz oder lang nach außen gedrungen, das hätte man nicht vermeiden können. Deshalb gab es so etwas bei den Hammersteins erst gar nicht. Auch früher nicht, als meine Mutter noch dort gearbeitet hat. Haltung bewahren war das Motto.“

„Da wurde bestimmt so einiges unter den Teppich gekehrt.“ Laura schob sich genussvoll ein weiteres Stück Pflaumenkuchen in den Mund.

Die Bäckerin zuckte die Achseln, es war ihr anzusehen, dass sie den Klatsch genoss. „Seine Frau hatte es nicht leicht, aber sie hat sich nie beklagt. Der Sohn hingegen war nicht ganz einfach. Er war ziemlich verstockt und hat viel Ärger in der Schule gemacht. Nach dem Tod der Mutter wurde er ins Internat gegeben. Sein Vater wollte sich wohl nicht weiter mit ihm herumärgern. Ich nehme an, dass sie ihn dort endlich zur Vernunft gebracht haben.“

Laura kratzte die letzten Krümel von ihrem Teller. Ihr Blick fiel auf die Zeitung, die als Gästelektüre zusammengefaltet auf dem Stehtisch lag. Auch am zweiten Tag nach dem Auffinden war das Mädchen aus dem Dornheckensee der Aufmacher für die Titelseite. Die Polizei wusste immer noch nicht, wer die Tote war, aber sie hatten herausgefunden, dass sie missbraucht und erwürgt worden war, bevor man sie in den See geworfen hatte.

„Ist das nicht schrecklich?“ Laura war erschüttert.

„Meinen Sie das Mädchen aus dem Dornheckensee?“

Laura nickte.

„Ja, furchtbar. Ich darf gar nicht daran denken. Das hätte auch meiner Tochter passiert sein können, wir wohnen nämlich nicht weit weg vom See. Zum Glück weiß sie, dass sie nicht allein dort hingehen soll. Alles Mögliche an Gelichter treibt sich da herum und ständig gibt es neue Zwischenfälle. Aber die Polizei hält es nicht für nötig, ein für alle Mal für Ruhe zu sorgen.“ Empört stemmte die Bäckerin ihre molligen Arme in die ausladenden Hüften.

„Welche Zwischenfälle?“

„Ach, es hat immer wieder Ärger gegeben. Zum Beispiel die Geschichte vor zwei Jahren. Da wurde ein Mann von einer Bande zu Tode gequält und die Felswand hinunter geworfen. Grauenhaft. Und einmal hat sich ein Triebtäter in den Höhlen verschanzt. Sie haben ihn ewig nicht fangen können. Das unterirdische Höhlensystem ist so weitläufig, dass er sich wochenlang versteckt halten konnte. Wir haben uns damals in den Häusern verbarrikadiert und hatten schreckliche Angst. Und wenn ich mich recht erinnere, gab es früher schon einmal ein totes Mädchen im See. Meine Mutter hat mir das erzählt. Aber das ist ewig her.“

„Es gab schon mal eine Leiche im See? So wie dieses arme Ding?“ Laura deutete auf ein grobkörniges Bild in der Zeitung, das den Fundort aus großer Entfernung zeigte. „Vielleicht besteht da ein Zusammenhang?“

„Ach, das glaube ich nicht. Die andere Geschichte ist Ewigkeiten her. Vielleicht irre ich mich, es geht mich ja auch gar nichts an.“ Die Verkäuferin schien plötzlich Angst vor ihrer eigenen Courage zu bekommen und ihre Mitteilungsfreudigkeit zu bereuen. „Wenn Sie fertig sind, möchte ich Sie bitten, zu zahlen. Ich habe noch sehr viel zu tun.“

5

Marek fuhr deutlich schneller als erlaubt über die Autobahnbrücke und wechselte mehrmals die Spur. Natürlich machte es wenig Sinn, jetzt noch zum Treffpunkt zu fahren. Die Übergabe hatte bereits am Abend zuvor stattgefunden. Doch er konnte nicht anders. Er bog auf die Schnellstraße ab, nahm die Abzweigung in die bewaldeten Anhöhen und erreichte fünf Minuten später den Parkplatz des Dornheckensees. Wie erwartet war keine Menschenseele weit und breit zu sehen. Marek sprang fluchend aus dem Auto, sah sich um und suchte in konzentrischen Kreisen den Boden ab. Zigarettenstummel, Kaugummipapierchen, Verpackungen von Süßigkeiten. Müll, Müll, Müll.

Nichts, was ihm weiterhelfen konnte.

Frustration und das Gefühl von Ohnmacht wollten von ihm Besitz ergreifen. Wütend straffte er seine Schultern, fokussierte sich auf die Aufgabe und versuchte, alle störenden Befindlichkeiten auszublenden. Es war keinem geholfen, wenn er jetzt die Nerven verlor.

Langsam ging er zurück zum Rand des Parkplatzes. Die Hitze hatte den Boden völlig ausgetrocknet. Auf dem staubigen Untergrund ließen sich keine Reifen- oder Fußspuren des gestrigen Treffens erkennen. Er konnte nichts weiter tun. Aber er wollte nicht aufgeben. Auf keinen Fall.

Plötzlich sah er im Augenwinkel auf dem Weg, der in den Wald führte, etwas in der Sonne aufblitzen. Eilig ging er zu der Stelle, bückte sich und hob vorsichtig eine filigrane Haarklammer auf. Es handelte sich um ein altes Stück, hatte die Form einer Krone und war mit funkelnden, dunkelroten Granatsteinen verziert. Als ihm klar wurde, was er in der Hand hielt, setzte sein Herz für einen Moment aus, dann schoss Adrenalin durch seinen Körper. Er kannte diese Haarspange. Sie gehörte Maria. Er würde sie finden. Es durfte noch nicht zu spät sein.

Eilig lief er den Weg in den Wald hinein.

6

Gilda hatte sich häuslich eingerichtet und rückte den Bilderrahmen neben dem Computer zurecht. Das Foto war letzten Sommer in Sizilien bei der goldenen Hochzeit ihrer Großeltern aufgenommen worden. Gilda hatte das Fest besonders genossen, denn, anders als ihre Eltern, fuhr sie nicht mehr jedes Jahr in die alte Heimat, um die Familie zu sehen. Zufrieden setzte sie sich in den Bürosessel, um mit den Recherchen zu beginnen. Sie wusste, dass Laura am ersten Tag keine Wunder erwartete, aber sie wollte sie wenigstens mit ein paar guten Arbeitsergebnissen überraschen.

Nach einer Stunde konzentrierter Suche hatte sie drei Blätter mit Notizen bekritzelt und beinahe das Gefühl, Wilhelm Hammerstein persönlich zu kennen. Als Geschäftsmann schien er ein harter Brocken gewesen zu sein. Einer seiner Betriebsräte hatte ihn als ‚Eisernen Lord‘ bezeichnet, der sich ohne Rücksicht auf die Mitarbeiter nur am Profit orientierte. Damals waren viele Leute entlassen worden, es hatte Demonstrationen und Proteste gegeben.

Doch spektakulärer fand Gilda, dass eine Prostituierte ihn vor zehn Jahren beschuldigt hatte, sie brutal misshandelt zu haben. Allerdings war es nicht zu einer Gerichtsverhandlung gekommen, da die Frau nach einer Gegenüberstellung ihre Anklage zurückgezogen hatte mit der Begründung, Hammerstein verwechselt zu haben. Gilda schüttelte den Kopf und nagte grübelnd an ihrer Unterlippe. Merkwürdige Geschichte. Oder steckte etwas anderes dahinter? Hatte die Frau ihn nur erpressen wollen? Oder war Hammerstein schuldig und hatte sie mit Geld zum Schweigen gebracht?

An eine Verwechslung glaubte Gilda jedenfalls nicht.

7

Auf der Straße stand die Hitze wie in einem Backofen und ließ die Luft flimmern. Laura war es zu heiß, um zu Fuß bis zum Hammerstein'schen Anwesen zu laufen, sie ging zum Parkplatz zurück, um das Auto zu nehmen. Auf dem Weg ließ sie sich das Gespräch mit der Bäckerin durch den Kopf gehen. Ob es stimmte, dass es früher schon eine Mädchenleiche im See gegeben hatte? Steckte womöglich derselbe Mörder dahinter? Seit Jahren unentdeckt? Aber solche Morde wurden doch nicht ignoriert und vergessen. Die Polizei hätte längst eine Verbindung hergestellt. Sie wohnten schließlich nicht in Juárez an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, wo seit Jahrzehnten fast täglich junge Frauen verschwanden. Dort war ein Mädchenmord nur eine kurze Notiz im Lokalteil der Zeitung, wenn überhaupt. Doch in Bonn konnte ein Serienmörder nicht lange verborgen bleiben. Für einen Augenblick gab sie sich der angenehmen Vorstellung hin, was es für eine Sensation wäre, wenn sie den Mord aufklärte. Ihre Detektei wäre schlagartig berühmt. Dann schob sie den Gedanken energisch zur Seite. Sie übernahmen keine Kapitalverbrechen. Schon gar nicht einen Mord.

Sie würden schön bei den Scheidungsstreitigkeiten bleiben.

Laura stellte das Auto in der Nähe von Hammersteins Villa am Straßenrand ab und ging den Weg bis zum Eingang zurück. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei, ansonsten war es ruhig. Noch nicht einmal die Vögel zwitscherten, vermutlich war es ihnen auch zu heiß.

Im Haus gegenüber öffnete sich die Haustür, eine elegant gekleidete Frau trat in den Vorgarten. Ihr Gesicht wurde zum größten Teil von einer Sonnenbrille verdeckt. Sie hielt eine rote Leine in der Hand, doch was sich am anderen Ende befand, war nicht zu sehen. Die Frau redete eine Weile in das Haus hinein, dann ging sie ungeduldig zurück und kam mit einem weißen Fellknäuel auf dem Arm heraus. Laura zog ihr Handy aus der Tasche und tat, als müsse sie eine Nachricht lesen. Der kleine Hund fegte schwanzwedelnd auf sie zu und sprang begeistert an ihr hoch.

„Ach, bist du aber ein süßes Hündchen.“ Sie bückte sich und versuchte, das flauschige Etwas, das vor Begeisterung Purzelbäume schlug, zu streicheln.

„Jacky, lass das.“ Genervt strich sich die Frau das salongepflegte Haar hinters Ohr. „Bitte entschuldigen Sie. Er ist noch klein und weiß nicht, dass er Menschen nicht anspringen soll. Bitte streicheln Sie ihn nicht, sonst fühlt er sich belohnt für sein schlechtes Benehmen.“

Laura richtete sich auf und lächelte. „Das macht doch nichts. Wie alt ist er?“

Die Frau zerrte den Hund von einem Papierchen weg. „Drei Monate und bisher war es eine wirklich anstrengende Zeit. Immerhin schläft er jetzt durch, das ist schon mal was wert.“

„Da haben Sie ganz schön viel um die Ohren.“

„Das können Sie laut sagen. Jetzt hat unser Mädchen auch noch zwei Wochen Urlaub und ihre Vertretung möchte sich nicht mit Hunden abgeben. Hat man so etwas schon gehört?“

„Wie oft müssen Sie mit dem kleinen Kerl nach draußen?“, fragte Laura beiläufig, während der Welpe höchst interessiert den Weg nach Nachrichten seiner Artgenossen absuchte und die beiden Frauen mehrfach mit der Leine einwickelte.

„Andauernd. Jacky, lass das. Sonst macht er uns ins Haus. Er ist noch nicht stubenrein.“

Laura versuchte einen Schuss ins Blaue: „Dann haben sie sicher gestern Abend den Tumult auf der Straße mitbekommen? Da war ja einiges los.“

Überrascht schaute die Frau auf, wurde dann aber von ihrem Hund vorwärts gezerrt. Laura ging mit.

„Woher wissen Sie das? Sie sind nicht von hier. Jedenfalls habe ich Sie noch nie gesehen.“

Laura hielt dem misstrauischen Blick stand. „Ich war gestern in der Nähe eingeladen. Wir haben den Krach gehört, einer der Gäste hat uns erzählt, was draußen los war. Da ich eine Detektiv-Agentur leite, hat mich der Gastgeber gebeten, diskret Nachforschungen anzustellen. Es ist ihm wichtig, ein Auge darauf zu haben, wer sich hier so herumtreibt. Man weiß ja nie.“

„Das stimmt, wir sollten die Augen offen halten. Aber Diskretion ist uns auch sehr wichtig. Ich hoffe nicht, dass Sie die Nachbarschaft ausspähen wollen.“

„Natürlich nicht. Mein Bekannter ist ebenfalls sehr auf seine Privatsphäre bedacht. Aber wenn man im eigenen Wohnviertel nicht mehr sicher ist, geht das zu weit. Er meinte, dass alle davon profitieren, wenn er den Vorfall überprüfen lässt. Was war denn los?“

Die Frau schob ihre Sonnenbrille auf den Kopf und zog den kleinen Hund zum nächsten Baum. „Ich kann mir denken, wer Sie beauftragt hat. Er engagiert sich sehr für unser Viertel.“ Ein wissendes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. „Ich war mit Jacky draußen, als so ein Verrückter vor der Villa der Hammersteins herumgeschrien hat. Er hat Schimpfwörter gebrüllt und mit den Fäusten gegen das Tor gehämmert. Ich dachte, diese Gegend ist sicher, aber jetzt treibt sich das Pack auch hier herum.“

„Ist so das vorher schon einmal passiert?“

„Nein, das war das erste Mal. Ich hätte fast die Polizei gerufen, aber Hammersteins haben Security im Haus, die werden allein damit fertig.“

Laura hockte sich vor das Hündchen, das sich auf den Rücken geworfen hatte, um ausgiebig am Bauch gekrault zu werden.

„Kannten Sie den Mann, der randaliert hat?“

„Natürlich nicht.“

Laura lachte entschuldigend. „Nein, ich meine, ob Sie den Mann vorher schon einmal gesehen haben?“

Die Frau überlegte einen Augenblick. „Doch, ich habe ihn davor schon zweimal bei Hammersteins klingeln sehen. Wenn ich mich recht erinnere, hatte er eine junge Frau dabei.“

„Das ist interessant. Wurde er hereingelassen?“

„Beim ersten Mal, das war am Freitag, ja. Beim zweiten Mal nicht. Er hat dann einen Umschlag in den Briefkasten geworfen und ist wieder gegangen.“

„Wie sah die Frau aus, die ihn begleitet hat?“

„Wie sie aussah? Jung, keine zwanzig. Lange, hellblonde Haare. Sie wirkte billig. Als wäre sie aus dem Osten. Russland, Polen, die Ecke. Sie hatte weiße, hochhackige Stiefeletten mit Nieten und Fransen an. So etwas trägt man bei uns nicht. Wenn ich Hammersteins nicht besser kennen würde, hätte ich gedacht, sie ist vom Gewerbe.“ Die Hundebesitzerin verzog verächtlich den Mund. „So, ich habe jetzt keine Zeit mehr, bitte entschuldigen Sie mich.“

Laura klopfte den Staub von ihrer Hose, bedankte sich und schlenderte davon.

Koscewskij und Hammerstein kannten sich also. Wer hatte Koscewskij begleitet? Konnte es die Frau sein, die Jennifer Koscewskij für die Geliebte gehalten hatte? War sie eine Prostituierte, deren Dienste Hammerstein in Anspruch genommen hatte? Erpresste Koscewskij ihn jetzt damit, um an das große Geld zu kommen? Doch warum sollte Hammerstein sich damit erpressen lassen? Er war Witwer und konnte tun und lassen, was er wollte.

Sie sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen.

Laura umrundete den Wohnblock, um zur Rückseite von Hammersteins Anwesen zu kommen. Doch die Straße seitlich der Villa war eine Sackgasse, die an einem nicht bewirtschafteten, zugewucherten Feld endete. Von hier aus ging es nur querfeldein weiter. Seufzend schaute Laura auf ihre nackten Füße in den Riemchensandalen. Doch aufgeben wollte sie nicht. Es wurde eine mühsame Tour. Ihr Fuß knickte um, als sie mit den glatten Sohlen auf einem Stein abrutschte, und mehrfach ratschte sie sich an Brombeerranken die Arme blutig. Als sie endlich die Rückseite des Anwesens erreicht hatte, lehnte sie sich gegen einen Baumstamm, rieb ihren schmerzenden Fuß und schaute sich um. Ein Stück weiter verlief ein Schotterweg durch das Gestrüpp, der von der Villa in den Wald führte.

Plötzlich ertönte lautes Quietschen, die Flügel eines automatischen Tores öffneten sich in der Mauer. Laura suchte Deckung hinter einem Busch und beobachtete, wie ein wuchtiger Geländewagen mit hoher Geschwindigkeit aus der Einfahrt preschte. Sekunden später war er im Wald verschwunden, nur noch eine dichte Staubwolke tanzte in der Luft. Wohin führte der Weg? Laura nahm sich vor, im Büro auf der Karte nachzusehen. Humpelnd machte sie sich auf den Rückweg und es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich das Auto erreicht hatte. Erleichtert ließ sie sich auf den Fahrersitz fallen, zündete den Motor und fuhr zurück in die Agentur.

Zu ihrer nächsten Erkundungstour würde sie ihre Sneakers mitnehmen.

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