Kitabı oku: «Moloch Unsterblich», sayfa 5

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12 Beuel

Swetlana hatte die Sekretärin angerufen und sich auch für den Rest des Tages abgemeldet. Der Arzt habe ihr Ruhe verordnet. Etwas Besseres war ihr in der Aufregung nicht eingefallen. Doch sie kam damit durch.

Dann war sie auf direktem Weg nach Hause gefahren und hatte sich in ihr Zimmer verzogen. Die Eltern waren Arbeiten, sie hatte sturmfreie Bude bis zum frühen Abend.

Bäuchlings warf sie sich aufs Bett, zündete sich eine Zigarette an und nahm sich den Schatz vor, ihr Ticket in ein besseres Leben.

Samstag, 15 Uhr

2 Baldrian in einer Tasse Kakao / Junge schläft

Vom Nachttisch angelte sie sich die geöffnete Colaflasche, trank einen Schluck und blätterte weiter durch das Heft.

Samstag, 19 Uhr

Psycho war da, um nach dem Jungen zu sehen / spielt sich auf wie ein Arschloch, aber ich habe gehört, was er gemacht hat / hat Medikamente für den Jungen dagelassen und ein Tütchen für mich – geiziger Wichser

Sonntag, 3 Uhr morgens

Junge hat geschrien und herumgetrampelt / 2 Baldrian in einer Tasse Kakao / scheiße – Psycho, Tom und Prof angerufen, aber sie nehmen den Jungen nicht, lassen mir die Arschkarte

Sie las jede Notiz, jeden Eintrag. Betrachtete ausgiebig die eingeklebten Zeitungsfotos und Artikel. Zwischendurch stützte sie das Kinn auf die verschränkten Hände, blies Rauchwölkchen in die Luft und starrte aus dem Fenster in den grauen Himmel. Sie musste sich genau überlegen, wie sie vorgehen wollte. Durfte keinen Fehler machen. Jetzt, wo der Reichtum zum Greifen nahe war.

Leider gab es keinen Hinweis darauf, wer dieses Tagebuch des Grauens geschrieben hatte. Die alte Frau war es jedenfalls nicht. Hatte sie einen Sohn? Aber der hätte das Heft entfernt, bevor er den Entrümpelungsdienst bestellte. So etwas vergaß man nicht. Vielleicht war es jemand, der vor der Alten die Wohnung gemietet hatte? Doch warum hatte der die Aufzeichnungen bei seinem Auszug nicht mitgenommen? Oder war der Verfasser tot?

Dann ging ihr auf, dass es keine Rolle spielte zu wissen, wer er war. Er hatte Namen genannt.

Und einige davon kannte sie.

13 Detektei

Zurück in der Detektei begaben sich die drei Frauen in Lauras Büro. Gilda holte aus dem Bad ein Handtuch, kniete sich auf den Teppich und frottierte den nassen Dackel trocken, der sich das gerne gefallen ließ. Die beiden anderen hatten es sich in den Sesseln gemütlich gemacht.

„Wenn es tagsüber so kalt und dunkel ist, werde ich immer total müde.“ Barbara unterdrückte ein Gähnen.

„Das geht mir auch so“, stimmte Laura zu. „Dagegen hilft nur eins: sich in die Arbeit stürzen. Was müssen wir heute erledigen?“

„Ich nehme das Video unter die Lupe. Vielleicht kann ich die Gesichter der Täter so klar abfotografieren, dass wir sie damit finden können. Und natürlich möchte ich sichergehen, dass das Video überhaupt echt ist.“

„Hoffentlich ist es nicht echt.“ Barbara schlang die Arme um den Körper. „Dadurch, dass man jederzeit alles filmen und im Internet für ein Millionenpublikum einstellen kann, scheinen sich solche Verbrechen in ihrer Brutalität zu potenzieren. Da kann einem übel werden.“

„Aber dass die Polizei nichts unternimmt, wundert mich.“ Laura schüttelte den Kopf. „Sie haben den Beweis auf Video und die Mörder laufen frei durch Bonn und attackieren junge Frauen, da können sie doch nicht untätig bleiben.“

Gilda zuckte die Achseln und verzog einen Mundwinkel. „Das Verbrechen an Kitty gehört in die Zuständigkeit der Behörden von Südafrika. Und Mara glauben sie nicht, weil für die deutsche Polizei vermutlich alle Schwarzen gleich aussehen.“ Sie verdrehte die Augen. „Da kann sich ein Mädchen in der Hysterie nach einem Überfall schnell einbilden, es wären dieselben Täter. Immerhin haben sie Mara angeboten, mit einer Psychologin über ihre Ängste zu sprechen. Super, oder?“

„Zu freundlich. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, finde ich Maras Geschichte auch ziemlich abgedreht. Zu viele Fragezeichen. Ist das Video überhaupt echt? Handelt es sich wirklich um ihre Freundin? Sind die Mörder wirklich die Täter, die sie auf der Hofgartenwiese attackiert haben? Im Dunkeln zwei schwarze Männer aus einem Video wiederzuerkennen, ist schon eine Kunst. Ich gebe zu, ich bin auch nicht überzeugt.“

Im Vorraum klingelte ein Handy.

Gilda sprang auf und die beiden Freundinnen hörten sie durch die geöffnete Tür telefonieren.

„Wo bist du jetzt?“

„...“

„Alles klar. Bleib in der Nähe von Leuten. Sprich vielleicht einfach jemanden an.“

„...“

„Niemand? Scheiße. Ich komme.“

„...“

„Ich beeile mich, ok?“

Sie erschien in der Tür, einen Arm bereits in der Jacke. „Ich muss sofort los. Mara hat angerufen, sie hat die beiden Männer wieder gesehen.“

Barbara sprang auf. „Ich fahr dich hin. Es wird eh Zeit für mich. Kommst du mit, Laura? Und sollen wir Friedi mitnehmen?“

„Nein, danke. Ich möchte bei dem Tierarzt noch ein paar Fragen zu der Familie Anton stellen und ob es früher schon solche Unfälle“, sie zeichnete Gänsefüßchen mit den Fingern in die Luft, „gegeben hat. Da ist Friedi die beste Tarnung.“

„Das stimmt.“ Barbara verabschiedete sich von Laura mit einer Umarmung. „Wer hält die Stellung? Soll ich zurückkommen und warten, bis ihr wieder da seid?“

In diesem Augenblick klingelte es an der Tür.

Die drei grinsten sich an und Laura hob den Daumen:

„Justin!“

14 Kirche St. Evergislus

Barbara brauchte mehrere Züge, bis sie den Wagen, der zwischen einem Baum und einem Handwerkerauto eingezwängt war, aus der Parklücke manövriert hatte. Gilda hatte sich auf dem Beifahrersitz zurückgelehnt und betrachtete sie von der Seite: „Hast du mal was von Heinolf gehört? Wie weit ist eure Trennung?“

Barbara zuckte die Schultern. „Gemeldet hat er sich schon lange nicht mehr. Aber es scheint ihm in Amerika gut zu gehen. Und die Scheidung ist eingereicht. Zu regeln gibt es ja nichts mehr. Wenn man keine gemeinsamen Kinder hat und sich nicht gegenseitig übers Ohr hauen möchte, ist das keine große Sache. Jetzt muss das Gericht nur noch einen Termin finden, dann ist Heinolf nur noch eine Erinnerung in meinem Leben.“ Sie entkuppelte und rollte auf eine rote Ampel zu.

„Bist du traurig?“, nahm Gilda den Faden wieder auf.

„Nein. Sollte ich vielleicht, aber eigentlich nicht. Du weißt ja, dass wir schon lange vor der Trennung nur noch ein eher freundschaftliches Verhältnis hatten. Wir passten einfach nicht zusammen. Es ist gut für uns beide, separate Wege zu gehen.“

„Und das mit seiner neuen Freundin macht dir nichts aus?“

„Beach Barbie?“ Barbara lachte hart auf. „Sie ist mir egal. Wenn Heinolf mit ihr glücklich ist, dann ist doch alles bestens.“

„Und du? Bist du auch glücklich?“

„Ach ja, klar. Alles im grünen Bereich.“ Die Pianistin lächelte unverbindlich, jetzt war der falsche Moment, um über ihr Privatleben zu sprechen.

Bis zu der Adresse, die Mara genannt hatte, war es mit Barbaras Flitzer ein Katzensprung. Sie hielt den Wagen vor einem schäbigen Mietshaus und starrte durch das schlechte Wetter auf die Straße. „Willst du das wirklich allein durchziehen? Soll ich nicht besser mitkommen?“

„Nein, danke. Ich bin Detektivin und an solche Situationen gewöhnt.“ Gilda verstellte die Stimme und sprach betont tief, was sie bei ihrer von Natur aus schon recht dunkel-heiseren Tonlage klingen ließ wie ein Detektiv aus einem Film Noir, der zu viele Whiskys gehabt hatte. „Ich hole Mara allein. Sie muss hier irgendwo sein. Ich rufe sie an, damit sie weiß, dass ich da bin.“

Barbara lächelte. „Ich warte auf dich. Falls etwas passiert, kann ich dich retten. Und ansonsten bringe ich euch nach Hause. Oder ins Büro.“

Gilda stieg aus dem Auto und lief mit Handy am Ohr die Straße entlang. Barbara sah ihr hinterher, dann schaltete sie das Radio an und suchte nach einem passenden Sender. Kurz darauf tönte „Can’t stop the feeling“ von Justin Timberlake durch den Innenraum. Die Beats hellten die triste Schlechtwetter-Atmosphäre auf und rissen Barbara mit. Zuerst wippte sie verhalten, dann bewegte sie die Schultern im Takt und schließlich wurde es eine ausgefeilte Choreografie, soweit es der beengte Platz auf dem Fahrersitz zuließ. In dem Augenblick, als sie mit Schmollmund den Kopf zur Seite warf und mit ausgestrecktem Arm rhythmisch auf das Mietshaus zeigte, öffnete sich die Haustür.

Zwei Männer sprinteten auf die Straße.

Beide schwarz.

Barbara erstarrte in der Bewegung und riss die Augen auf. Ein älterer Mann im dunklen Mantel folgte ihnen und schrie etwas, das sie nicht verstehen konnte. Dann bückte er sich, nahm einen Stein und schleuderte ihn den Flüchtigen hinterher. Die drehten sich johlend um und zeigten ihm den Mittelfinger, bevor sie um die nächste Ecke verschwanden. Barbara überlegte, ob sie den Motor anlassen und die beiden verfolgen sollte. Aber sie hatte Gilda versprochen zu warten. Der Alte war jetzt direkt neben ihr, im Vorbeigehen warf er einen kurzen Blick auf sie, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Barbara drehte das Radio leiser.

Plötzlich wurde die Beifahrertür aufgerissen.

„Hast du die beiden Männer gesehen? Der mit dem gelben Schal und sein Kumpel? Das waren die Angreifer aus dem Hofgarten. Mara ist sich sicher. Scheiße. Diesmal haben sie den alten Mann da hinten belästigt. Los, wir verfolgen sie. Das ist übrigens Mara.“ Gilda klappte den Beifahrersitz nach vorne und eine schmale Braunhaarige quetschte sich mit eingezogenem Kopf auf den Rücksitz. Gilda hüpfte ins Auto und schnallte sich hastig an.

Barbara ließ den Motor aufheulen und brauste los. „Sie sind da drüben um die Ecke gerannt. Seht ihr sie irgendwo?“

Sie fuhren die Straßen ab, doch die Männer waren wie vom Erdboden verschwunden.

„So ein Mist!“ Gilda hieb mit der Faust in die Luft. „Wir haben sie verloren. Was jetzt?“

„Keine Ahnung. Soll ich euch in die Detektei fahren?“

„Nein. Ich habe eine bessere Idee: Wir verfolgen den Opa, auf den sie es abgesehen hatten. Vielleicht ist es kein Zufall, sondern etwas Persönliches, und sie haben ihn genauso im Visier wie Mara. Möglicherweise kommen wir so doch noch an sie ran.“

Barbara nickte, wendete und fuhr zum Ausgangspunkt zurück. Hundert Meter vor sich sahen sie den Alten durch den Nieselregen schlurfen.

„Ok. Wie stellst du dir das vor? Der Mann ist zu Fuß, wir im Auto. Soll ich im Schritttempo hinter ihm herschleichen? Das merkt er doch. Und wir sitzen in einem Jaguar Sportwagen, nicht gerade unauffällig. Dieses Baby fällt jedem auf.“ Barbara streichelte liebevoll über das hellbraune Leder des Lenkrads. Eine ältere Dame, die ein großer Fan von ihr war und fast alle ihre Konzerte besuchte, hatte ihn ihr günstig überlassen. Sie hatte den Wagen geliebt, wollte ihn aus Altersgründen aber nicht mehr fahren. Da war es ein schöner Gedanke für sie gewesen zu wissen, dass Barbara genauso viel Freude daran hatte wie sie. Manchmal hat man Glück.

„Wir gehen zu Fuß. So schlimm ist das Wetter nicht.“ Gilda ließ sich durch nichts aufhalten.

Barbara beugte sich vor und starrte zweifelnd in den düsteren Himmel. „Nein. Wir bleiben im Auto. Warten wir, bis er irgendwo abbiegt, und fahren dann hinterher. Es ist sonst kaum jemand unterwegs, da werden wir ihn schon nicht verlieren. So schnell wie die beiden Sprinter ist er weiß Gott nicht.“

Langsam fuhr sie die Straße hinunter und hielt an der Ecke, an der der Alte abgebogen war. Sie beobachteten ihn, wie er in mäßigem Tempo durch das Wohngebiet trottete.

„Mara“, nutzt Gilda die Gelegenheit. „Das ist übrigens Barbara. Sie gehört auch zur Detektei Peters.“

„So kann man mich natürlich auch vorstellen. Aber eigentlich bin ich Pianistin und helfe nur manchmal aus. Freut mich.“ Barbara winkte im Rückspiegel in Richtung Rückbank, auf der Gildas Klientin mit angespanntem Gesichtsausdruck kauerte. „Was hast du eigentlich hier gemacht? Wohnst du hier?“

„Nein. Ich war auf dem Rückweg von einem Termin. Ich schreibe meine Bachelorarbeit über Kinderheime, die von der katholischen Kirche geleitet werden. Mein Prof hat mir einen Psychologen als Kontakt vermittelt, der Heimkinder betreut und mich bei der Interpretation von Studien unterstützt. Echt nett. Als ich in den Bus eingestiegen bin, habe ich plötzlich gemerkt, dass meine Verfolger auch darin saßen. Hinten auf der letzten Bank. Ich habe die totale Panik geschoben und wusste nicht, was ich tun sollte. Deshalb bin ich an der nächsten Haltestelle raus und habe mich in einem Hauseingang versteckt. Die beiden sind an derselben Station ausgestiegen. Aber ich war mir sicher, dass sie mich nicht entdeckt hatten, und ich bin ihnen gefolgt. Ich dachte, das wäre unsere Chance herauszufinden, wer sie sind und habe Gilda angerufen.“

„Es geht mich nichts an, aber das war nicht sehr klug von dir. Die Kerle sind gefährlich. Du solltest vorsichtiger sein.“ Barbara starrte durch die Windschutzscheibe.

„Ich weiß“, Mara klang kleinlaut. „Aber niemand glaubt mir. Was soll ich machen? Zu Hause sitzen und warten, bis sie mir auch den Kopf abhacken? Wie Kitty? Ich hatte die Hoffnung, dass sie vielleicht hier wohnen und ich ihre Namen herausfinden könnte.“

Gilda drehte sich zu ihr um. „Ich verstehe dich gut. Es ist schrecklich, wenn einem niemand glaubt. Trotzdem übernehmen wir ab jetzt. Wir sind solche Situationen gewöhnt, aber für Zivilisten ist das zu gefährlich.“

Barbara warf einen amüsierten Seitenblick auf die junge Assistentin, sagte aber nichts. Sie ließ den Motor an und kroch durch die Seitenstraße bis zur nächsten Abzweigung. Das Manöver veranstalteten sie noch einige Male, bis der Mann auf einen Kirchhof einbog. Die Glocken läuteten, aus verschiedenen Richtungen kamen dunkel gekleidete Menschen herbeigeeilt und verschwanden in der Kirche. Barbara parkte den Wagen vor der Einfahrt des Pfarrheims.

„Eine ungewöhnliche Zeit für eine Messe. Und ziemlich viele Leute. Lass uns kurz einen Blick hineinwerfen. Wir müssen ja nicht lange bleiben.“ Gilda zog die Mütze tiefer, sprang aus dem Auto und rannte über die Straße.

Barbara ließ Mara aussteigen und die beiden folgten in gemäßigterem Tempo. Der Parkplatz neben der Basilika mit der schmucklosen Backsteinfassade war gesteckt voll. Dicke SUVs von Mercedes, BMW und Porsche, dazwischen ein Maserati. Vor ihnen ragte der mächtige Glockenturm in den tristen Dezemberhimmel. Als sie das Portal öffneten, drang ihnen tosende Orgelmusik entgegen. Gemessenen Schrittes und mit züchtig gesenkten Blicken betraten sie den Kirchraum. Gilda schob sich in eine Bank, Barbara und Mara ließen sich neben ihr nieder. Die Kirche lag im Halbdunkel, Kerzen am Altar und in den Nischen an den Seitenwänden zauberten eine feierliche Atmosphäre. Ein Gesteck aus roten Weihnachtssternblüten und Tannenzweigen kündete von den kommenden Feiertagen, Messdiener knieten mit gefalteten Händen auf den Stufen zum Chor. Der Priester kam aus der Sakristei, wartete, bis die Orgel verstummte und begrüßte die Anwesenden.

„Wir sind heute hier zusammengekommen ...“ Barbaras Aufmerksamkeit verpuffte. Bei solch monotonem Singsang setzte bei ihr sofort ADS ein. Gekoppelt mit schlagartiger Müdigkeit. „Einer unserer demütigsten und bescheidensten Brüder ist von uns gegangen ...“

Eine Trauerfeier.

Sie sah sich um. In den vorderen Bänken hockten Kinder und Jugendliche, scharrten mit den Füßen oder flüsterten. Trotzdem zogen sie es vor, hier zu sitzen und nicht in der Schule. Dahinter Erwachsene, gekleidet in Schwarz. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie viele kannte. Jedenfalls vom Sehen. Auch Isabel Anton war da. Und daneben der Ehemann, der so großkotzig und breitbeinig da hockte, dass kaum noch jemand neben ihn in die Bank passte.

In Bad Godesberg war die Welt klein.

Leider hatte sie den Namen des Betrauerten verpasst. Sie reckte den Hals, konnte aber kein Foto des Verstorbenen entdecken. Vielleicht hatte sie ihn gekannt? Sie versuchte, sich zu erinnern, wer in letzter Zeit das Zeitliche gesegnet hatte, es fiel ihr jedoch niemand ein. Erst recht niemand, auf den die Beschreibung ‚demütig und bescheiden‘ passte. Vielleicht war ein Priester gestorben. Mit der Kirche hatte sie nicht viel am Hut, auch wenn sie den örtlichen Pfarrer von ihren Auftritten bei Wohltätigkeitsveranstaltungen kannte.

„... sein Leben gewidmet und war nie müde geworden, sich für die Interessen der Schwachen und Bedürftigen, der Kinder und Jugendlichen in unserer Gemeinde einzusetzen.“

Ein Schnauben hallte durch das Gewölbe. Alle drehten die Köpfe, auch Barbara. Es war der alte Mann, den sie verfolgt hatten. Er stand aufrecht im hinteren Bereich der Kirche und trotzte den tadelnden Blicken hocherhobenen Hauptes. Der Priester räusperte sich, dann fuhr er fort. Lauter als vorher. „Bad Godesberg hat unserem Bruder viel zu verdanken. Sein unermüdlicher, selbstloser Einsatz für die Jugend ...“

„Ein Arschloch war er! Ein dreckiges, perverses Schwein!“

Die Worte hallten durch die alten Mauern wie ein Fluch.

Jetzt starrten alle nach hinten, einige waren aufgesprungen. Gemurmel entstand, wurde lauter, bedrohlich.

„Ich glaube, wir haben hier jemanden, den die Trauer so übermannt hat, dass er nicht mehr weiß, was er sagt.“ Der Priester hob die Hände, versuchte, den Lärmpegel zu dämpfen. „Vielleicht helfen ihm ein paar Brüder und Schwestern nach draußen, damit er frische Luft schnappen und sich sammeln kann?“

Ein paar handfeste Gemeindemitglieder erhoben sich und näherten sich dem Alten.

„Fasst mich nicht an“, schrie der. „Ihr seid Heuchler. Scheinheilig seid ihr! Und steckt alle unter einer Decke. Aber ich werde euch ausräuchern und aus euren Löchern treiben. Ich kriege euch! Jeden Einzelnen. Und dann fahrt zur Hölle!“

Bevor ihn die Männer ergreifen konnten, drehte er sich um und verließ erhobenen Hauptes die Kirche.

Die mächtige Holztür knallte hinter ihm zu mit Donnerhall.

Barbara, Gilda und Mara sahen sich an. Hinterher? Oder bleiben? Wortlos einigten sie sich auf bleiben.

„Liebe Brüder und Schwestern, die Trauer um geliebte und geachtete Menschen hat viele Gesichter und äußert sich auf mannigfaltige Weisen.“ Der Priester versuchte, die Situation zu retten. „Manche geraten so in Verwirrung, dass sie irregeleitet werden und Dinge sagen, die sie nicht meinen. Wir wollen ein Gebet sprechen, damit dieses verirrte Schäfchen seinen Frieden findet und den Weg zurück zu Gott einschlägt. Und wir beten für unseren Bruder, den der Herr zu sich geholt hat. Vater unser ...“ Die Anwesenden sammelten sich, einer nach dem anderen stimmte in das Gebet ein.

Schließlich spendete der Priester den Segen und entließ die Gemeinde mit dem Hinweis, dass geladene Gäste sich gleich im Pfarrheim treffen würden.

Der eisige Nieselregen hatte aufgehört, die dichten Wolken ließen jedoch immer noch keine Sonnenstrahlen durch.

„Was war denn das?“ Barbara knöpfte den Mantel zu und schüttelte ungläubig den Kopf, dann konnte sie ein Glucksen nicht mehr unterdrücken. „Jemand, der von seiner Trauer übermannt wurde ... Der Priester hat Humor!“ Sie legte die Hand vor den Mund, um nicht laut zu lachen. Missbilligende Blicke erntete sie trotzdem.

Gilda, die von Hause aus katholisch erzogen worden war und an Feiertagen zur Messe ging, zwinkerte, schaffte es jedoch, ernst zu bleiben. „Ja, da war richtig was los. So etwas erlebt man nicht oft. Aber wer geht denn zu einer Trauerfeier, um zu randalieren? Das macht man nicht. Das ist Stören der Totenruhe. Warum war der Alte so wütend? Kennst du ihn wirklich nicht, Mara?“

Die Klientin zog den Parka enger um den Körper, schob die dunkle Brille hoch und schüttelte den Kopf. „Ich habe den Mann noch nie gesehen. Vielleicht ist es Zufall, dass meine Verfolger es auch auf ihn abgesehen haben.“

„Wartet mal, da ist jemand, den ich kenne.“ Barbara ließ die beiden stehen und steuerte auf eine Person zu, die gerade aus der Kirche trat. „Andrea, hallo! Wir haben uns ja ewig nicht gesehen. Was machst du denn hier? Wie geht es dir?“

Die Frau sah überrascht auf, ein Lächeln hatte sie nicht für Barbara übrig. „Hallo Barbara. Was soll ich schon hier machen. Das, was alle anderen auch hier tun, schätze ich. Du etwa nicht?“

„Ähm, ja, natürlich.“ Barbara bemühte sich um einen angemessenen Gesichtsausdruck. Schließlich war eine Trauerfeier ein Ereignis, an dem man für gewöhnlich mit voller Absicht teilnahm und nicht zufällig hereinschneite. Deshalb verzichtete sie vorerst darauf zu fragen, wer der Tote war. Das hätte noch merkwürdiger gewirkt.

„Ich freue mich, dich zu sehen. Möchtest du mit uns einen Kaffee trinken? Gleich um die Ecke ist ein nettes Café. Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Sie wandte sich zu Gilda und Mara um und erklärte: „Andrea und ich haben zusammen an der Musikhochschule studiert. Jedenfalls am Anfang. Dann haben sich unsere Wege getrennt.“ Sie drehte sich wieder zu ihrer früheren Kommilitonin und musterte sie. „Hast du den Studienort gewechselt? Irgendwann warst du plötzlich verschwunden. Ich erinnere mich, dass das bei einigen die Fantasie ganz schön in Gang gesetzt hat. Aber das sollten wir alles bei einem Kaffee besprechen. Hast du Lust?“

Erst schien Andrea zu zögern, doch dann ließ sie sich von Barbara mitziehen.

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