Kitabı oku: «Moloch Unsterblich», sayfa 4
7 Rheinallee, Bad Godesberg
Je weniger man zu verlieren hat, umso mehr wächst die Macht über das eigene Schicksal.
Manfred Herder schlurfte die Rheinallee entlang. Den Kopf hatte er zum Schutz gegen den Graupelschauer tief in den Kragen gezogen. Er hatte am Kiosk eine Zeitung und eine Flasche Bier gekauft und sich nach kurzer Überlegung noch ein Käsebrötchen einpacken lassen. Geiz brachte ihm in seinem Zustand nichts mehr. Das letzte Hemd hatte keine Taschen. Und einen Erben, für den sich das Sparen lohnte, hatte er auch nicht. Nicht mehr. Der Gedanke an seinen Sohn, der so früh gestorben war, schmerzte wie am ersten Tag und stach wie ein glühender Dolch in sein Herz. Zeit heilte Wunden. Aber nicht alle.
Diese nicht.
Eigentlich hätte er längst tot sein müssen. Aus Kummer. Und wegen seiner ungesunden und auszehrenden Lebensweise. Doch der Wille, herauszufinden, warum und vor allem durch wen sein Sohn in den Selbstmord getrieben worden war, hatte ihn am Leben gehalten. Er hatte sich geschworen, nicht eher zu sterben als bis der Tod gesühnt war. Es war schwer gewesen, an Hinweise zu gelangen. Überall war er auf eine Mauer des Schweigens gestoßen, auf den unheiligen Zusammenhalt von Komplizen, alten Seilschaften und einer jahrhundertealten Tradition des Vertuschens. Doch jetzt spürte er die Ratten in ihrem Nest auf und räucherte sie rigoros aus. Je weniger man zu verlieren hatte, umso mehr wuchs die Macht über das eigene Schicksal.
Hinter ihm näherten sich rasche Schritte, jemand bemühte sich aufzuholen. Aus dem Augenwinkel erkannte er sie. Die alte Hexe von gegenüber. Die hatte es auf ihn abgesehen.
„Nur damit Sie es wissen“, japste sie. „Ich werde Ihrem Treiben nicht länger tatenlos zusehen. Am besten packen Sie ihre Sachen und verschwinden. Sonst können Sie was erleben.“
Er gönnte ihr keine Reaktion, nicht mal einen Blick.
„Sie müssen mir nicht antworten. Ich weiß, dass Sie mich verstanden haben. Packen Sie am besten gleich, oder es wird verdammt ungemütlich für Sie!“
Stoisch setzte er seinen Weg fort. Wenn sie wüsste, dass er gar nicht die Absicht hatte, noch lange dortzubleiben. Doch das ging sie nichts an. Wenn er seine Mission erfüllt hatte, würde er sich verabschieden. Endgültig. Aber den Zeitpunkt bestimmte er selbst.
Sollte sie ihn allerdings bei seinen Plänen behindern, würde er Mittel und Wege finden, sie auszuschalten.
Notfalls auch für immer.
8 Schweinheim
Alex Starck warf einen Blick in den Taschenkalender, obwohl er die Termine für den Tag genau kannte. Den letzten Patienten, einen Jungen aus dem Kinderheim, der, laut seiner Betreuerin, zu zappelig und unkonzentriert war, hatte er einige Minuten früher aus der Therapiestunde geschickt, um ein paar Augenblicke für sich zu haben, bevor die Studentin kam.
Abwesend starrte er auf die eng beschriebenen Seiten, bis er merkte, dass seine Hände zitterten. Er warf das Büchlein auf die Schreibtischplatte, verschränkte die Arme und klemmte die Hände unter den Achseln ein.
Sein Blick wanderte zur Schreibtischschublade. Er beugte sich zur Seite, machte Anstalten, sie zu öffnen. Dann besann er sich eines Besseren, sprang auf und ging mit großen Schritten ans Fenster. Der Ausblick in den Hinterhof mit dem Mülltonnenkasten und dem rostigen Fahrradständer war trostlos. Er drehte sich um und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Rückte ein paar Stifte gerade. Betrachtete das Foto von seiner Ehefrau und den beiden strahlenden Kindern. Seinen Kindern.
Das perfekte Leben.
Er schnappte sich das Bild und legte es unter die Schreibtischplatte auf die Ablage. Zur Zeit konnte er den Anblick nicht ertragen. Hatte er es eigentlich jemals gekonnt? Warum hatte er sich überreden lassen, diese Frau zu heiraten? Sie kam aus gutem Hause, hatte man ihm erzählt. Das war aber alles, was es Positives über sie zu sagen gab. Und so gut war das Haus auch nicht. Weder finanziell noch vom sozialen Status her. Nur gläubig. Sehr gläubig. Ihr praktischer Kurzhaarschnitt war das Einzige, was ihm an ihr gefallen hatte. Und dass sie sich nicht schminkte oder auftakelte. Die eher unförmige, aber halbwegs schlanke Figur war durch die Schwangerschaften zerstört worden. Sie nannte die Rundungen Kurven. Aber wenn man ihren Leib entlang fahren müsste, hatte man es mit einer einzigen, lang gestreckten Außenkurve zu tun. Vielleicht lag es auch an ihm, dass sie so dick geworden war. Er wusste, dass sie ihn liebte. Sie war dankbar wie ein Hündchen, wenn er ihr ein Lächeln schenkte. Wahrscheinlich rannte sie jeden Tag in die Kirche und betete, dass der Herrgott ihm den Weg zu ihr weisen möge. Aber da konnte sie lange warten. Tief im Inneren hasste er sie. Machte sie für seine Misere verantwortlich. Dabei konnte sie nichts dafür. Er musste aufpassen, dass er sich nicht hinreißen ließ und sie quälte. Mit grausamen Spielchen, die in ihr Hoffnungen aufsteigen ließen wie Seifenblasen, die er dann mit diabolischer Freude platzen ließ.
Es war nicht ihre Schuld.
Er hätte sie nicht heiraten dürfen.
Heutzutage konnte ein Mann sehr gut allein leben, ohne dass sich die Nachbarn das Maul über ihn zerrissen. Man konnte sogar offen homosexuell sein und keiner nahm daran Anstoß. Jedenfalls in den Städten. Und erst Recht im Umkreis von Köln. Trotzdem hatten sie ihn gedrängt, den klassischen Weg einzuschlagen, sich zu vermählen, wie der Pastor es ausdrückte. Und er hatte getan, was von ihm gefordert wurde. Die gemeinsame Vergangenheit und das schreckliche Geheimnis funktionierten wie eine eiserne Fessel, die ihn auf ewig an die anderen kettete. Und ihn zwang zu tun, was sie von ihm erwarteten.
Bis in den Tod.
Aber warum hatte er zu allem Überfluss Kinder in die Welt gesetzt? Er hatte es einfach nicht geschafft, ihr das abzuschlagen. Ständig hatte sie ihm damit in den Ohren gelegen. Irgendwann war es leichter gewesen, dem Drängen nachzugeben, als ihr die Wahrheit zu sagen. Wenn man einmal mit dem Lügen begonnen hatte, konnte man nicht mehr aufhören. Ein Teufelskreis. Er hasste sich für seine Schwäche. Und jetzt wartete jeden Abend eine Familie auf ihn, bei der er sich regelmäßig fragte, wer diese Menschen überhaupt waren.
Wessen Leben lebte er eigentlich?
Das Klingeln an der Haustür riss ihn aus seinen Gedanken. Wieder so ein Gefallen, um den die anderen ihn gebeten hatten. Verdrießlich warf er einen Blick auf die Uhr, verließ das Sprechzimmer und durchquerte den breiten Flur, der als Warteraum fungierte. Sie war fünf Minuten zu früh. Wie immer. Er setzte ein Lächeln auf und öffnete die Haustür.
„Kommen Sie rein, Frau Domberger, ich habe Sie schon erwartet.“
9 Detektei
Laura hatte sich tief in die Recherchen um die Familie Anton eingegraben, deren Wohnort herausgefunden - sie bewohnten gleich zwei Häuser, eines in Bad Godesberg und eines in Villip - und die Tierärzte der Umgebung angerufen. Sie hatte sich als Isabel Anton ausgegeben und behauptet, dass sie eine Frage zu der Rechnung hätte. Die Geschichte war dünn, aber sie hatte ihren Zweck erfüllt. Eine Sprechstundenhilfe hatte ihre Befürchtung bestätigt: Der Dackel war am Sonntag eingeschläfert worden. Und hätte es sich nicht um eine so furchtbare Angelegenheit gehandelt, wäre die Tierarzthelferin vermutlich misstrauisch geworden. Aber so hatte die Abscheu ihre Wachsamkeit vernebelt. Ihr Ton war eisig, die Worte gerade noch in den Bereich des Höflichen einzusortieren gewesen. Welche Erklärung Isabel Anton auch immer gegeben haben mochte, sie hatte sie ihr nicht abgenommen. Das spürte Laura deutlich. Ärzte hatten einen Blick für Gewalttaten, egal ob sie Menschen oder Tiere behandelten. Und Sprechstundenhilfen auch.
Es klopfte sachte an der Terrassentür, Laura schreckte aus ihren Gedanken hoch. Auf der Veranda stand ihre Freundin Barbara und winkte ihr zu. Erfreut sprang sie auf und öffnete.
„Hallo, meine Liebe. Du kommst mir gerade recht!“
„Das hört man gern“, lachte Barbara und umarmte sie. Dann zog sie sich die schwarze Mütze mit dem Fellbommel von den blonden Locken und knöpfte den Mantel auf. Darunter kam ein eng anliegendes, dunkelgraues Kaschmirkleid zum Vorschein.
„Warum so schick?“
„Ich hatte einen Termin. Die Zeitung bringt einen Bericht über mich, weil nächste Woche meine Konzerttournee startet. Wir haben die Fotos in der Kunsthalle gemacht. Eigentlich wollten wir das Shooting draußen machen, aber bei dem Mistwetter ist das ja unmöglich.“
„Das ist ja toll! Wann bringen sie den Bericht?“
„Vermutlich nächstes Wochenende. Im Feuilleton. Falls nichts Wichtigeres dazwischen kommt.“ Barbara zwinkerte.
„Was sollte im Kulturteil so wichtig sein, dass man spontan dafür einen vorbereiteten Artikel sausenlässt?“
„Keine Ahnung. Vielleicht wenn ein berühmter Künstler stirbt? Irgendsowas. Warum komme ich dir gerade recht?“
„Ach, ich war ein bisschen depri. Aufmunterung kann ich jetzt gut gebrauchen.“
„Was ist passiert?“ Barbara ließ sich auf einem Sessel nieder und schlug die Beine in den schmalen, hochhackigen Wildlederstiefeln übereinander.
Doch bevor Laura den Mund öffnen konnte, wurde die Tür aufgerissen und Friedi flitzte ins Zimmer, dicht gefolgt von Gilda. Begeistert stürzte sich der Hund auf Laura und ließ sich von ihr begrüßen. Danach warf er einen langen Blick auf Barbara und drehte ihr dann langsam und unmissverständlich den Rücken zu.
„Ja, wer ist das denn?“ Barbara musste über den kleinen Kerl lachen. „Ich glaube, er mag mich nicht.“
„Unsinn. Ich hole dir ein Stückchen Wurst, dann schließt er dich direkt in sein Herz.“ Die praktisch veranlagte Gilda hatte immer eine Lösung parat.
Doch so schnell ließ sich der Dackel nicht überzeugen. Zwar nahm er mit in Falten gelegter Stirn das Salamirädchen an, streicheln ließ er sich von Lauras Freundin trotzdem nicht.
„Warum hast du plötzlich einen Hund?“ Barbara wischte sich die Finger an einem Taschentuch ab.
„Meine Nachbarin, wurde am Samstag überraschend ins Krankenhaus eingeliefert. Verdacht auf Herzinfarkt. Ein Sanitäter hat mich gefragt, ob ich mich um Friedi kümmern könnte. Ich konnte schlecht Nein sagen. Außerdem möchte ich nicht, dass sein Frauchen sich um ihn Sorgen macht.“
„Ich verstehe. Dann weißt du wohl auch noch nicht, wie lange dein Mitbewohner bleiben wird. Aber er wirkt ganz verträglich. Wenn man von seiner Abneigung gegen mich absieht.“
„Ach komm, ihr werdet schon Freunde werden. Deinem Charme kann keiner widerstehen. Leider ist er ein Frühaufsteher. Ich hoffe, ich kann ihm das noch abgewöhnen.“
„Und er mag keine anderen Rüden“, warf Gilda ein. „Auf unserer Runde durch den Park hat er jedes Mal ein Höllenspektakel veranstaltet, wenn wir einen getroffen haben. Zum Glück ist das Wetter so schlecht, dass kaum jemand unterwegs ist. Sonst hätte es anstrengend werden können.“
Barbara sah auf die Uhr und wechselte das Thema. „Ich bin eigentlich vorbeigekommen, um euch zu einem frühen Mittagessen zu überreden. Habt ihr Zeit? Oder steckt ihr tief in der Arbeit? Was wolltest du mir überhaupt erzählen, Laura?“
„Mittagessen klingt gut. Was meinst du, Gilda? Dann kannst du uns von deinem neuen Fall berichten.“
Gilda nickte heftig. „Nach dem Schock mit dem Video habe ich plötzlich einen Bärenhunger. Friedi nehmen wir mit. Er freut sich immer über Abwechslung.“
„Und erzählen wollte ich dir, Barbara, was mir Sonntagmorgen passiert ist. Ich mache das aber besser jetzt und nicht beim Essen, sonst habt ihr keinen Appetit mehr.“ In knappen Worten beschrieb sie ihre Begegnung mit Leo im Panoramapark und was er über seinen Freund und dessen Hund erzählt hatte. „Und ich habe vorhin herausgefunden, dass das arme Tier gestern aufgrund der Verletzung eingeschläfert werden musste.“ Laura presste die Lippen zusammen, um sich nicht von ihren Gefühlen hinreißen zu lassen. Die beiden Frauen sahen sie fassungslos an.
„Das darf doch nicht wahr sein!“ Barbara fand als Erste die Sprache wieder. „Die kleine Ratte knöpfe ich mir vor. Das kann man nicht ungestraft hinnehmen. Wer ist das Bürschchen?“
„Genau“, stimmte Gilda mit vor Wut zitternder Stimme zu. „Wir schnappen ihn uns. Und dann kann er was erleben. ... und wir informieren die Polizei“, fügte sie nach kurzem Nachdenken hinzu.
Laura nickte zustimmend. „Ihr habt ja recht. Aber so einfach ist das nicht. Ich habe Leo versprochen, diskret zu sein und ihn nicht zu verraten. Und ich möchte mein Wort halten. Aber wenn ihr trotz der abscheulichen Story noch Appetit habt, dann können wir beim Essen Pläne schmieden.“
„Lasst uns gehen“, stimmte Gilda zu. „Allerdings wird euch meine Geschichte auch nicht besser gefallen.“
10 Turnhalle, Bad Godesberg
Der Blick auf das Display seines Smartphones ließ Timo zusammenschrecken. Sechzehn Nachrichten. Er wusste, was das bedeutete. Am liebsten hätte er sie gar nicht geöffnet. Aber nicht zu wissen, was sie über ihn hetzten, war noch schlimmer, als es zu lesen. Er rief die App auf und scrollte durch die Texte im Klassenchat. Zuerst drehte es sich nicht um ihn. Nur um die Hausaufgaben in Mathe für diejenigen, die nicht selbst rechnen wollten, und dass morgen die erste Stunde frei war. Doch dann ging es wieder los.
Clara-Anna: Habt ihr gesehen, wie der Schwuli heute am Berger geklebt hat? Ekelhaft! Wahrscheinlich hat er ihm einmal von hinten angeboten, um eine bessere Sportnote zu kriegen.
Sanni: Ist ja auch Sport hahaha
Luca X: Quatsch keine Scheiße, der Berger ist kein Arschficker.
Sanni: Woher weißt du das? Bist du auch schwul?
Luca X: Hahaha kannste ja mal abchecken
WoBi: Hab den Schwuli gestern bei den Pfadfindern gesehen. Als wenn der im Wald auch nur 5 min überleben könnte.
Clara-Anna: ... aber er kann die Schlafsäcke schön anwärmen ... hahaha
WoBi: Hoffentlich fressen ihm die Ameisen im Wald seinen winzigen Pimmel auf.
Sanni: Schwuli, du liest doch mit? Tu uns einen Gefallen und geh sterben.
Am liebsten hätte Timo das Handy im hohen Bogen gegen die Wand gefeuert. So ging das die ganze Zeit. Lange würde er es nicht mehr aushalten. Wann hatte es eigentlich angefangen? Oder war es schon immer so gewesen, dass sie ihn gepiesackt hatten? Es kam ihm wenigstens so vor.
Dabei hatte er niemandem etwas getan. Und schwul war er auch nicht. Glaubte er jedenfalls. Denn mit einem Jungen hatte er nie etwas gehabt. Mit einem Mädchen allerdings bisher auch nicht. Wie auch? Sie verspotteten ihn nur. Keine wollte etwas mit ihm zu tun haben. Am liebsten hätte er ihnen mal so richtig gezeigt, wie wenig schwul er war. Dann würden sie staunen. Und endlich Respekt vor ihm haben. Aber das ging natürlich nicht.
Was konnte er nur tun?
Er hatte schon so viel probiert. Versucht, sich mit den coolsten Jungs aus der Klasse anzufreunden. Er hatte ihnen Süßigkeiten mitgebracht. Die hatten sie natürlich genommen und ihn dann noch mehr verspottet. Auch seine Kleidung hatte er versucht zu ändern. Möglichst männlich mit Biker-Boots und Lederarmband. Aber der Schuss war auch nach hinten losgegangen. Lederschwuli hatten sie ihn genannt und noch mehr gelacht. Die Boots hatte er im Rhein versenkt. Als Höhepunkt eines wirklich schlimmen Abends.
Sanni hatte ihm geschrieben ‚geh sterben‘. Am liebsten würde er ihr antworten ‚ok, mache ich‘. Und das wäre gar nicht mal gelogen. Denn irgendwann würde er es tun. Was hielt ihn schon hier? Seit seine Mutter tot war, hatte er eigentlich jeden Tag daran gedacht, allem ein Ende zu setzten. Endlich Ruhe zu haben. Nicht mehr in die Schule zu müssen. Ob Sanni und die anderen dann schockiert wären? Vermutlich nicht. Im Gegenteil, sie würden sich feiern, dass es ihnen gelungen war, ihn für immer loszuwerden.
Er schluckte die Tränen hinunter und stemmte die Hände gegen den eisigen Niesel tief in die Taschen. Selbstmitleid war was für Weicheier, sagte sein Vater immer. Mit diesem Spruch hatte er ihn abgespeist, wenn er aus der Schule erzählen wollte. Hör auf mit deinem weinerlichen Scheiß. Mein Sohn ist keine Memme. Timo zog die Schultern hoch und sah auf die Armbanduhr. Er musste sich beeilen, sonst kam er zu spät. Gleich war das Training zu Ende und er hatte dem Coach versprochen, beim Aufräumen zu helfen. Die Halle sollte repariert werden und dafür musste der Geräteraum ausgeräumt werden. Natürlich hatte er seine Hilfe zugesagt. Der Coach war immer so nett zu ihm, da war es klar, dass er sein Bestes gab. Manchmal hatte er das Gefühl, dass der Coach wusste, wie Scheiße sein Leben war. Obwohl er nie davon erzählt hatte. Es tat gut, verstanden zu werden. Und gemocht. Ja, der Coach mochte ihn. Er wählte immer ihn, wenn etwas vorgemacht werden sollte. Und er lobte ihn am meisten. Allerdings lobte er Chrissie auch. Dabei war der eine Vollpflaume.
Timo trat heftig gegen einen Stein, der hüpfend im Gebüsch landete.
Aber der Coach hatte den Blödmann nicht gebeten, den Geräteraum mit auszuräumen, sondern nur ihn. Bei dem Gedanken fühlte sich er wieder besser.
Er betrat die Halle, in der es nach stinkenden Socken und verschwitzten Leibchen roch, und sah, dass das Team schon in den Umkleiden war. Der Coach stand an dem Schwingtor des Geräteraums und winkte ihn zu sich.
Es war nicht alles Scheiße in seinem Leben.
Lächelnd nahm er, obwohl er Straßenschuhe trug, die Abkürzung über das Spielfeld. Er wollte den Coach nicht warten lassen, wollte ihn nicht enttäuschen.
„Hi, Coach.“
„Hallo, Timo.“
Der Coach legte Timo die Hand auf die Schulter, drückte sie kurz, ließ die Hand liegen und zog ihn mit sich in das Dunkel des Geräteraums. Timo kämpfte ein vages Gefühl des Unbehagens nieder.
Es war nicht alles Scheiße im Leben. Und für manche Dinge musste man Opfer bringen.
11 Café Negro
Die drei Frauen drängten sich fröstelnd durch die Glastür in die bullernde Wärme des gesteckt vollen Cafés am Römerplatz, in dem es einladend nach Kaffee und frischem Gebäck roch. Gilda ging vor und ergatterte im Hinterzimmer einen Tisch, der gerade frei wurde. Fröhlich winkte sie den anderen, ihr zu folgen.
„Das war Glück“, freute sich Laura und zog Friedi, der interessiert nach den Düften am Nachbartisch schnupperte, zwischen ihre Beine.
Sie bestellten Flammkuchen und Ingwertee und sprachen über Belangloses. Erst als das Essen vor ihnen stand, griff Barbara das Thema mit dem Dackel wieder auf. „Ich kenne die Familie Anton. Jedenfalls die Eltern, den Sohn habe ich nie getroffen. Sie sind sehr zugänglich und kontaktfreudig. Und sehr großzügig. Ich spiele gern auf ihren Wohltätigkeitsveranstaltungen, die Gage ist immer Bombe.“
„Dachte ich mir, dass du sie kennst, du kennst ja jeden in Bonn und Bad Godesberg. Jedenfalls jeden, der wichtig ist.“ Laura biss von dem knusprigen Flammkuchen ab und Friedi kratzte an ihrem Schienbein, um ihr zu signalisieren, dass er auch noch da war. Sie brach ein Stückchen vom Teig ab und fütterte ihn unter dem Tisch.
„Gibt es denn Skandale? Bei dem Sohn kann der Vater doch kein Lämmchen sein. Im Internet habe ich nichts gefunden.“
„Doch, gibt es.“ Barbara beugte sich verschwörerisch vor. „Vor ein paar Jahren ging das Gerücht um, dass er gemeinsame Sache mit einem Clan in Leverkusen macht. Das ist eine Sinti oder Roma Familie, keine Ahnung, was der Unterschied ist, die durch den Enkeltrick und ähnliche Betrügereien reich geworden ist.“
„What the ...“ Gilda pfiff durch die Zähne.
„Du willst mir nicht erzählen, dass Anton hilflose Senioren übers Ohr haut und ausnimmt? Er hat ein Bau-Imperium.“ Laura war skeptisch.
Barbara verdrehte die Augen und gluckste. „Natürlich nicht. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass der berühmte Baulöwe von Tür zu Tür geht, um ein Glas Wasser bittet und alte Damen beklaut. Es geht um Geldwäsche. Der Clan erbeutet mit kriminellen Machenschaften Schwarzgeld, das er angeblich in Antons Unternehmen waschen lässt. In der Baubranche läuft viel Bares durch viele Kanäle, da kann man eine Menge Schwarzgeld unterbringen.“
„Ich verstehe. Wurde er dafür belangt?“
„Nein. Man konnte ihm nichts nachweisen. Oder wollte nicht. Er ist ja sehr gut verdrahtet. Außerdem hat er die Diskriminierungs- und Rassismus-Karte gezogen. Hat behauptet, dass man ihnen kriminelle Handlungen unterstellte, nur weil der Clan eine Roma oder Sinti Familie ist. Dabei seien es alles ehrbare Leute, die hart arbeiten und wirtschaftlichen Erfolg haben, den man ihnen neidet.“
„Und den Clan hat man auch nicht drangekriegt? Für die Betrügereien meine ich?“ Gilda leckte ihren Zeigefinger ab.
Barbara zuckte die Schultern. „Ich glaube, es hat eine Razzia gegeben und ein paar protzige Autos wurden beschlagnahmt. Wenn ich mich recht erinnere, wurde ihnen Steuerhinterziehung vorgeworfen. Was eine gewisse Komik hat. Denn so wurde ja auch Al Capone zu Fall gebracht. Der Staat sieht über vieles hinweg, aber bei Steuerhinterziehung gibts kein Pardon. Ob man die Familie eingebuchtet hat? Keine Ahnung. Dabei soll ein Mitglied der Sippe in Facebook sogar ein Foto mit einer Omi im Arm und einem Bündel Geld gepostet haben. Untertitel ‚meine liebste Kundschaft‘. Der blanke Hohn.“
„Unglaublich, dass die Polizei da nicht einschreitet.“ Gilda schüttelte den Kopf.
„Na ja, es läuft eben alles korrekt“, warf Laura ein. „Der winzigste Vorwurf von Diskriminierung oder Rassismus macht jeden Ermittlungserfolg kaputt. Das nutzen manche Kriminelle schamlos aus. Erinnert ihr euch an den Fall in England? Dort hat eine organisierte Bande von Pakistanis sehr junge, weiße Mädchen über Jahre hinweg missbraucht und zur Prostitution gezwungen. Ich glaube, Rotherham hieß der Ort, aber es gab auch andere Städte, in denen das passiert ist. Sie haben sich die Kinder von der Straße geangelt. Ich habe damals, als es bekannt wurde, viel darüber gelesen, weil es mich einfach entsetzt hat. Angeblich gab es, konservativ geschätzt, weit über tausend minderjährige Opfer. Kleine Mädchen, elf, zwölf Jahre alt. Und viele wussten Bescheid: Sozialarbeiter, Politiker, Apotheker, Ärzte, Lehrer. Auch die Polizei. Aber weil sie sich dem Vorwurf des Rassismus nicht aussetzen wollten oder durften, haben sie stillgehalten und jahrelang nichts unternommen. Es soll Polizisten gegeben haben, die auf die Missstände aufmerksam gemacht haben und deswegen vom Dienst suspendiert wurden.“
Sie zog eine Grimasse und streichelte abwesend Friedis Kopf.
„Wegen der Political Correctness wurden die missbrauchten Kinder im Stich gelassen. Da kann einem schlecht werden. Und eine Anekdote am Rande: Als die ersten Berichte über den Skandal erschienen, wurde ganz vorsichtig nur von asiatischen Tätern gesprochen, dabei waren es ausschließlich pakistanische Muslime. Andere asiatische Gruppen haben sich dann beschwert, dass sie dadurch ebenfalls unter Verdacht und in Misskredit gerieten. Womit sie vollkommen recht hatten. Die gute Absicht, Minderheiten nicht zu diskriminieren, führte dazu, dass auch andere ethnische Gruppen diskreditiert wurden. Und die Kriminellen hatten Narrenfreiheit.“ Laura hatte sich in Rage geredet.
„Das war eine tolle Rede. Aber vielleicht ab jetzt wieder ein bisschen leiser, wir haben schon jede Menge Publikum.“ Barbara wies mit dem Kopf auf die Gäste an den Nachbartischen, die zu ihnen herübersahen. „Du hast recht. Political Correctness darf nicht dazu führen, dass die Gesetze nicht mehr für alle gelten. Doch Deckmäntel gibt es viele und in unterschiedlichen Formen. Nicht nur die Gefahr des Diskriminierungs- oder Rassismusvorwurfs. Wenn ich zum Beispiel an die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche denke: Ewig hat es keiner gewagt, dagegen vorzugehen. Autorität durfte man nicht hinterfragen. Was im Namen Gottes geschah, konnte nicht falsch sein. Gleiches Thema bei Lehrern, besonders an Eliteschulen. Wenn reiche Eltern die Schule unterstützten, dann konnte da ja nichts Schlimmes vor sich gehen. Manche Berufsgruppen scheinen einen Tarnmantel zu haben, der sie vor dem Vorwurf des kriminellen Handelns schützt. Obwohl jeder weiß, was sie tun. Aber die Leute verschließen die Augen davor.“
„Genauso wie bei Moritz Anton, dem Früchtchen“, schloss Laura den Kreis wieder, „dem traut auch keiner etwas Böses zu. Jedenfalls keiner, der ihn nicht gut kennt. Was ich nicht verstehe, ist, warum die Eltern nichts dagegen unternehmen? Sie können doch nicht dabei zugucken, wie dieser kleine Psychopath die scheußlichen Taten verübt. Was geht in denen vor?“
„Ja, das fragt man sich in der Tat“, stimmte Barbara zu. „Ich hatte ja nur wenig mit meinem Stiefsohn zu tun, weil er bei seiner Mutter lebte und schon relativ groß war, als ich seinen Vater geheiratet habe. Aber ich bin mir sicher, Heinolf wäre sofort eingeschritten, wenn der Junge solche Sperenzchen gemacht hätte. Er hätte sich das nicht lange angesehen, das weiß ich genau. Was meint ihr, sollen wir der Familie einen Besuch abstatten? Oder hast du dir etwas anderes überlegt, Laura?“
„Ich habe noch keinen Plan. Zuerst musste ich doch herausfinden, ob an dieser Horrorgeschichte überhaupt etwas dran war. Leo hätte sich in seinem Drogenrausch ja alles Mögliche eingebildet haben können. Aber es ist passiert und ich bin so wütend, dass ich mir das Bürschchen am liebsten sofort vorknöpfen möchte.“
„Da komme ich mit! Wenn ich an den armen Hund denke, könnte ich sie alle erwürgen.“ Gilda war Feuer und Flamme.
„Nicht so hastig.“ Laura versuchte, die Wogen, die sie aufgepeitscht hatte, wieder zu glätten. Ihre Assistentin hatte sich Anfang des Jahres dazu hinreißen lassen, einen Mörder, der ungestraft davongekommen war, auf eigene Faust zu jagen, und hatte damit die Hölle losgetreten. „Du weißt, dass es nicht unsere Aufgabe ist, solche Menschen zu bestrafen. Mach nicht wieder so einen Fehler wie damals. Das hätte gewaltig schiefgehen können. Nein, es IST gewaltig schiefgegangen.“
„Du hast recht.“ Gilda zog den Kopf ein. „Das war falsch, was ich gemacht habe. Und es wird nicht wieder passieren. Ehrenwort. Also reite bitte nicht mehr ständig darauf herum. Aber irgendetwas müssen wir unternehmen. Wir können den Kerl nicht so weitermachen lassen.“
„Natürlich nicht. Wir legen uns nachher im Büro einen Schlachtplan zurecht. Er wird uns nicht entkommen. Jetzt erzähl erst mal von deinem neuen Auftrag.“
Gilda berichtete von Mara Domberger und dem Video, das sie gesehen hatte.
„Bist du sicher, dass der Film echt ist? Sie haben das Mädchen wirklich getötet? Es gibt viele Produktionen, die gut gemacht sind und sehr real wirken, obwohl es nur gestellt ist. Im Internet tummeln sich alle möglichen Verrückten.“ Laura schüttelte sich.
„Auf mich wirkte es echt. Aber ich werde das Video noch genauer untersuchen, um sicher zu sein.“
Barbara legte über den Tisch hinweg die Hand auf Gildas Arm. „Das war bestimmt nicht leicht für dich. Kommst du klar?“
„Natürlich. Ich bin Detektivin.“ Gilda sah der Freundin fest in die Augen.
„Und deine Klientin sagt, dass sie das Mädchen, das sie in Südafrika ermordet haben, kennt und dass die Mörder jetzt hinter ihr her sind?“
Gilda nickte. „Ja, es handelt sich um ihre Freundin, Kitty. Mara hat sie während ihres Auslandsemesters in Johannesburg kennengelernt.“
„Und die Männer sind jetzt hier in Bonn und wollen Mara töten?“
„Das behauptet sie. Ja.“
„Dann sollten wir uns darum kümmern, dass sie so schnell wie möglich aus dem Verkehr gezogen werden.“