Kitabı oku: «Almas Rom», sayfa 5

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In dieser Nacht konnte sie fast nicht schlafen.

XX

Am nächsten Tag schlich Alma um die Theke herum, an der Kasse vorbei und zum Ausgang, als sie Angela auftauchen sah. Es war nachmittags kurz vor fünf Uhr. Angela hielt ihr das Fahrrad hin.

«Halt mich fest, halt mich fest, ich weiss nicht, ob ich das noch kann.» Alma stieg auf, hielt die Beine von sich gestreckt, um das Gleichgewicht zu halten, und blickte geradeaus. Das Rad rollte langsam auf der leicht abschüssigen Strasse.

«Geht doch! Jetzt musst du mir aber erzählen, was los ist!» Angela ging in grossen Schritten neben ihr her. «Sonst wäre ich nicht gekommen!»

Alma schaute sie aus ihren graubraunen Augen an, ihre Hände hielten krampfhaft den Lenker. Angela war schon so oft von zu Hause abgehauen, hatte jede Regel gebrochen, die ihr nicht passte, und hatte dann zur Strafe tagelang das Haus nicht verlassen dürfen. Trotzdem war sie für jede Art Abenteuer zu haben, je ungehöriger desto besser.

Alma erzählte ihr von Antonio und vom Zettel, den sor Augusto ihr gegeben hatte. Am Ende der Via Mecenate stieg Alma ab, packte Angelas Arm und hielt ihr das grüne Fahrrad hin. «Bitte, kannst du hier auf mich warten? Wenn Vater das erfährt, gibt’s ein Donnerwetter!»

«Macché, lass den doch wettern!»

«Dann sterb ich! Bitte!», flehte Alma.

«Gut, ich mache ein paar Runden und komme dann hierher zurück. Und grüss mir deinen Angebeteten!»

«Danke! Danke! Danke!»

«Schon gut!»

Alma strich ihren Rock glatt und ordnete das Haar. Plötzlich fragte sie sich, was sie tat. In einem Monat würde sie Rom verlassen, das tat schon weh genug, was traf sie sich da noch mit Antonio?

«Alma, geh jetzt!»

Antonio stand an eine Ruine gelehnt, neben ihm ein altes schwarzes Herrenfahrrad. Er schob seinen Strohhut zurecht und winkte Alma schon von Weitem zu.

Alma sah nur noch seine leuchtenden Augen, und auf einmal sprudelte es aus ihr heraus, dass sie gar nicht hier sein dürfte, dass sie ja bald abreisen würde, dass es gar keinen Sinn machte. Dann brach sie in Tränen aus, und sie kam sich dämlich vor.

Antonio strich ihr über die Wange, nahm ihre Hand. «Das weiss ich ja schon!»

«Ah ja?» Alma strich sich die Tränen aus den Augen und versuchte ein Lächeln.

«Das haben Sie erzählt.»

Alma runzelte ungläubig die Stirn.

«Deshalb habe ich Sie gebeten zu kommen. Denn die Vorlesungen haben wieder begonnen, und ich wurde umgeteilt für den Zeitungsverkauf.»

Alma stand da wie gelähmt und verzweifelt.

«Ich werde nicht mehr die Via Merulana bedienen!» Antonio schaute ernst, zog sie näher zu sich und legte den Arm um ihre Schultern.

Sie erschrak, liess dann aber den Kopf an seine Schulter sinken. Da war es wieder, dieses Gefühl der Leichtigkeit. Als würde sie auf Wolken schweben.

«Was ist das?» Etwas Hartes in seiner Jacke drückte gegen ihre Brust. Sie löste sich von ihm.

«Ich hab etwas für Sie!» Aus der Innentasche seines erdbraunen Jacketts zog er ein meerblaues, in glänzendes Leinen eingefasstes Buch. «Schauen Sie, eine Frau, die schreibt!» Er hielt es ihr hin.

Grazia Deledda. Alma liebte die Fortsetzungsromane dieser Schriftstellerin, die im Giornale d’Italia abgedruckt wurden. Sie fühlte, wie sie errötete.

«Ehm, zum Abschied.» Antonio räusperte sich.

Alma nahm es mit gesenktem Blick entgegen, fühlte den Stoff des Einbandes, las den Titel: «Nostalgie». Wieder schossen Tränen in ihre Augen, sie versuchte angestrengt, sie zurückzuhalten.

«Sie ist eine berühmte sardische Dichterin, lebt aber in Rom!»

Alma nickte, drückte das Buch an ihre Brust und brachte vor Rührung kein Wort hervor.

Antonio nahm wieder ihre Hand, drückte einen Kuss auf ihren Handrücken und liess sie lange nicht los. «Sehen wir uns vor Ihrer Abreise?» Er schaute in ihre geröteten Augen und strich nochmals über ihre Wange.

«Ja!»

«Ich lasse Sie wissen, wann ich kommen kann!»

Alma nickte wieder, dann hielt sie das Buch an die Nase, roch den herben Geruch des Leinens, vermischt mit dem Duft von Papier und Druckerschwärze. Sie blickte Antonio an. «Ja, bitte! Sie wissen, wo ich bin.»

Dann schlug sie das Buch auf, blätterte zum Beginn des ersten Teils und las laut: «Sie näherten sich Rom. Der Novembermond, ein grosser perlmuttfarbener Mond, klar und melancholisch, beleuchtete die Campagna: Der wütende Wind traf heftig auf die Wucht des fahrenden Schnellzugs.»

Alma beeilte sich, Angela wartete bereits.

«Willst du fahren?», grinste sie.

«Nein! Auf keinen Fall! Mir zittern die Beine.» Alma strahlte und seufzte tief.

Angela begleitete sie an forno, Bar und sor Augusto vorbei zum Haustor. Alma dankte Angela und schaute zu, wie sie auf das Fahrrad stieg und übermütig in Slalomlinien die Strasse hinauffuhr. Obwohl Alma noch im Laden hätte helfen müssen, eilte sie die Treppen hinauf und zog die Zimmertür hinter sich zu. Ein bisschen Ungehorsam muss drin liegen, dachte sie mit schlechtem Gewissen. Sie legte sich aufs Bett und wartete, dass ihr Herz nicht mehr so heftig klopfte.

XXI

Kein Umzug in die neuen hässlichen Mietshäuser in San Saba! Gut! Cristoforo seufzte erleichtert. Kein Neubeginn in Rom zwischen Schlachthaus und Piramide! Endlich war alles klar. Entschieden. Er sass am runden Nussbaumtisch im salottino, strich sich mit der Hand übers Gesicht und schaute aus dem Fenster des Eckzimmers. Die Pendeluhr tickte. Daneben hing ein Kruzifix an der lindgrün tapezierten Wand.

Edgardo hatte geschrieben. In seinem Brief aus dem Puschlav teilte sein Bruder ihm mit, dass er für sie ein leer stehendes Haus am Dorfeingang gefunden habe. Sie sollten ihm den Tag ihrer Ankunft mitteilen. Er hoffe, es gehe ihm besser. Seine Familie freue sich, sie bald wieder in der Nähe zu haben. Und er wollte wissen, ob der neue Dampfbackofen gut funktioniere, ob sich das Brot damit tatsächlich noch luftiger und doch knusprig backen lasse. Er schloss mit den Glückwünschen für einen reibungslosen Aufbruch und eine gute Reise.

«Was schreibt er?», wollte Anna wissen. Sie räumte gerade den Sekretär auf, wischte Fingerabdrücke vom Globus und Staub von den Büchern auf der Ablage darüber. Eine Bibel, Heiligengeschichten, Gebetsbücher und Klassiker von Manzoni und Verga, Kinderbücher und Comic-Hefte.

Cristoforo schob ihr den auseinandergefalteten Brief zwischen einem Stapel Zeitungen und dem Nähzeug hindurch zu. Anna warf einen Blick aus dem Fenster.

«Die Seiltänzer sind wieder da», sagte sie beiläufig, setzte sich, nahm den Brief in die Hand und suchte ihre Brille.

Cristoforo stand schwerfällig auf, legte sich auf das Sofa und schaute aus dem Fenster hinaus zum monte. Der Wind spielte mit den Blättern der Silberpappeln. So jung waren er und Edgardo, sein älterer Bruder, gewesen, als sie im Spätsommer 1878 angekommen waren. Rom war gerade Hauptstadt von Italien geworden. Eine Stadt im Aufbruch, im Baufieber. Und sie, übermütig und blauäugig, hatten sich vorgestellt, gleich das grosse Glück zu finden. Über all ihre Zweifel und Ängste hatten sie nicht geredet, auch nicht darüber, dass nicht nur pure Abenteuerlust sie aus dem heimatlichen Tal getrieben hatte. Sie beide, die Jüngsten ihrer grossen Familie, hatten eigentlich keine andere Wahl gehabt. War da nicht doch ein leichtes Kribbeln in der Magengegend gewesen, als sie durch die Po-Ebene gerattert waren? Als sie am Bahnhof ausgestiegen waren? Der war ihnen gigantisch vorgekommen. Die Weitläufigkeit der Piazza dei Cinquecento, die damals noch Piazza di Termini geheissen hatte, die riesigen repräsentativen Palazzi, das gleissende Licht auf dem marmornen Stein. Und überall demolierte Mauerstücke, zerfallene Säulen. Was für einen gewaltigen Eindruck ihm das alles gemacht hatte, und wie klein er sich auf einmal vorgekommen war!

Und danach all die Entbehrungen! Der Hungerlohn für die Zigarettenstummel, die sie vor dem Geschäft ihres Puschlaver Bekannten eingesammelt hatten, um den Platz sauber zu halten. Das Zimmer im Dachgeschoss eines heruntergekommenen Häuserblocks hinter dem Trajansforum, eng und stickig. Lange hatte er schlecht geschlafen, auch wegen der ungewohnten Geräusche, die bis zu ihnen heraufgedrungen waren. Das laute Gegröle bis spät nachts, das rechthaberische der streitsüchtigen Römer, das Hallen der Pferdehufe, das Gemecker ganzer Ziegenherden morgens in aller Frühe. Im Wirrwarr der dunklen Gassen ohne richtige Kanalisation hatte es fürchterlich gestunken, und überall waren aufdringliche Bettler und Wahrsager herumgelungert.

Die Stadt mit ihren rund zweihunderttausend Einwohnern war ihm damals riesig vorgekommen. Seither hatte sich die Bevölkerungszahl mehr als verdoppelt. Und in diesem Rom, das sich von einer unhygienischen, rückständigen Stadt in eine moderne europäische Grossstadt verwandelt hatte, hatte er sich hochgearbeitet und es zu etwas gebracht. Stolz erfüllte ihn. Und Wehmut, wenn er daran dachte, nun ins Puschlav zurückzukehren, um Ruhe zu finden. Cristoforo setzte sich wieder auf, betrachete den Jasmin auf dem monte. Er war beinahe verblüht. Ja, Heimat könnte Heilung bringen, durchfuhr es ihn. Annas verzagtes vabbè – na dann – hörte er nur von weit weg.

XXII

Die Zeitungszeilen verschwammen ineinander. Cristoforo versuchte, sich zu konzentrieren, doch es erschien ihm immer belangloser, welche Machtspiele Premierminister Giolitti mit seinen Gegenspielern Sonnino und Salandra austrug oder was Italiens Armee in der Türkei und Libyen wollte. Ihn packte Schwindel, sein Herz klopfte schnell. Heftig blätterte er die Zeitungsseiten um und verweilte bei den Auftritten in den café-chantant. Doch es nützte nichts, alles drehte sich, die Worte tanzten. Er stützte sich auf dem Nussbaumtisch ab, tastete sich zum Sofa und setzte sich. Hinlegen wollte er sich nicht aus Angst, dass er keine Luft mehr bekommen oder schlecht träumen könnte. Sogar die Geräusche aus der Küche und das Geplapper von Anna und Nazzarena irritierten ihn. Seine Gedanken kreisten um den Streit mit Anna, die mit ihm geschimpft hatte, weil der Umzug ins Puschlav noch nicht geregelt war. Er wusste nicht, wo anfangen, und brachte die Kraft nicht auf, tätig zu werden, nichts schien ihm mehr wichtig.

Anna brachte ihm den Aufguss aus Pfefferminzblättern, den ihm der Arzt zur Stärkung empfohlen hatte. Er rümpfte die Nase, blies Kringel in das grüne Wasser in der Tasse und dachte ans Puschlav.

«Trink, bevor er kalt wird!» Annas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. «Danach solltest du etwas spazieren gehen! Du weisst, der Arzt.»

Adrenalin in der Magengegend. Allein nach draussen gehen? Das wagte er nicht mehr. Der Schwindel war heimtückisch. Was, wenn er mitten auf der Strasse zusammenbrach? Hilflos daliegen? Nein, das Einzige, wozu er sich noch aufraffen konnte, war zu kontrollieren, dass der Hefeteig richtig angesetzt wurde. Clemente und Tiziano sollten die Kunst des Brotbackens beherrschen, wenn sie das Geschäft allein führten. Vielleicht sollte ich mir doch einen Spazierstock zutun, dachte er.

XXIII

Langsam knöpfte Cristoforo das weisse Hemd zu. Er sass auf dem Bett, neben sich die Sonntagskleider, die Anna ihm aus dem Kleiderschrank herausgelegt hatte. Nachdenklich blickte er aus dem Fenster zum gegenüberliegenden Palazzo, dem Himmel darüber. Alles war zu gross geworden, die schwarze Jacke hing schlaff von seinen knöchernen Schultern, die Hosen flatterten um seine Beine. Dann blickte er zur Madonnenstatue und schickte ein Gebet zur Muttergottes. Dies würde der schwerste Gang seines Lebens werden. Seine Handflächen waren feucht, obwohl die Temperatur im Haus erträglich war.

«Kommst du?» Alma stand ungeduldig an der Wohnungstür. Sie trug ihr rot-schwarzes karogemustertes Kleid und war sorgfältig frisiert.

«Ja-ah!» Der Vater setzte seinen Hut auf.

Babbo wirkte angespannt und verloren. Alma nahm seinen Arm und hakte sich bei ihm ein. Mit langsamen, unsicheren Schritten gingen sie am Palazzo Brancaccio vorbei, stiegen am Largo Brancaccio in eine Kutsche und liessen sich über die steile Via Giovanni Lanza hinunter quer über die Via Cavour und die schmale Via dei Serpenti wieder hinauf zur belebten Via Nazionale fahren. Sie sassen nebeneinander im Fond der offenen Kutsche.

Alma hatte die Lippen zusammengepresst, der Vater schwieg. Die Pferdehufe hämmerten auf dem Kopfsteinpflaster. Kutschen fuhren in alle Richtungen, die Kutscher schrien einander zu und gestikulierten, um aneinander vorbeizukommen. Tramways und Omnibusse ratterten geradeaus. Die meisten Fussgänger blieben auf den Gehsteigen. Elegante Palazzi, prunkvolle Treppenaufgänge und imposante Säulenfassaden zogen an Alma und Cristoforo vorbei. Über den Läden waren die Sonnenstoren ausgefahren, breitkronige, leise raschelnde Platanen säumten die breite Strasse.

Die Kutsche hielt, Alma half ihrem Vater auszusteigen. In der hohen Eingangshalle mit den marmornen Böden und Säulen fragten sie nach dem richtigen Stockwerk. Dann stiegen sie die breite Marmortreppe hinauf, der samtene rote Teppich dämpfte die Schritte. In Wandnischen waren Büsten aufgestellt, steinerne Augen starrten ihnen entgegen. Dort, wo auf dem Messingschild der Name des Notars prangte, zogen sie an der Türglocke.

Cristoforo rang nach Atem. Alma hielt seinen Arm fest und strich mit der anderen Hand ihr Kleid glatt. Sie schwiegen immer noch.

Eine Sekretärin öffnete die Tür und führte sie freundlich lächelnd durch einen langen Flur in einen grossen, mit dunklem Eichentäfer ausgekleideten Raum. Sie setzten sich auf die gepolsterten Fauteuils an der Wand. Stimmen waren zu hören, Schritte auf dem Steinboden, das Klappern einer Schreibmaschine.

Almas Blick wanderte zur Kassettendecke über ihr. Endlich kehrte die Sekretärin zurück und führte sie in einen anderen Raum, hiess sie an einem massiven Eichenholztisch Platz nehmen. Wieder warten. Ein dicker Teppich bedeckte den Boden. Im Hintergrund stand ein Sekretär, übervoll mit Büchern und Papieren, Füllfedern und Tintenfass. Dahinter, unter einem monumentalen Renaissancegemälde, waren auf einer Konsole Stempel und Stempelkissen säuberlich aufgereiht in allen Grössen und Ausführungen, daneben Siegel, Wachs und Zündhölzer.

Cristoforo nahm den Hut ab und rutschte auf dem Stuhl hin und her. Der Notar, endlich! Ein behäbiger, untersetzter Mann trat ein, und sie erhoben sich ehrfürchtig.

«Ihre Papiere!», brummte dieser mürrisch.

Cristoforo erschrak und nestelte in der Innentasche seiner Jacke, zog endlich seinen Pass hervor und legte ihn mit zitternder Hand auf den Tisch.

«So, Sie wollen zurück aufs Land und hier Ihr Hab und Gut verkaufen!», meinte der Notar kopfschüttelnd und setzte sich.

Alma fühlte einen Stich in ihrer Brust.

«Das geht aber nicht so schnell mein lieber sor … wie heissen Sie?» Er langte nach dem Pass.

Cristoforo rutschte an die Stuhlkante, Alma tat es ihm nach. «Nicht?»

«Nein, nein. Zuerst benötige ich die Unterlagen aus dem Registeramt und dem Ministerium, die Bewilligungen des Meldeamts, die Zustimmung der Bank, das dauert alles.»

«Naja», stotterte Cristoforo.

Der Notar verliess den Raum. Sie warteten betreten. Er kam zurück mit der Sekretärin und liess diese nach seinem Diktat Cristoforos Namen notieren, die Adressen von Tiziano und Clemente, die Nummern der zu verkaufenden Liegenschaften, ihre Adresse in der Schweiz, den Namen des Bankinstituts. Dann studierte er lange Cristoforos Pass, blätterte darin und gab ihn wortlos zurück.

Cristoforo zog sein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiss von der Stirn.

Die Sekretärin legte das Blatt mit den Angaben vor ihn hin und deutete auf die Stelle, wo er unterschreiben sollte. Die Feder kratzte auf dem Papier. Der Notar drückte einen Stempel darauf und schmolz hingebungsvoll das Siegelwachs.

Wie in Trance klaubte Cristoforo die Geldnoten für die Anzahlung aus der Jackentasche, stand auf und setzte seinen Hut auf.

Der Notar schüttelte ihnen eifrig die Hand, er werde alles daran setzen, dass der Verkauf rechtzeitig erfolge. Die Sekretärin, immer noch lächelnd, begleitete sie zur Tür.

Auf dem Weg nach Hause sprachen sie kein Wort.

Cristoforo empfand Leere. Weggegeben. Alles losgelasssen. Den forno, die Bar, die Filiale, die Wohnung. Er war ohne Sicherheiten. In einem schwarzen Loch zwischen zwei Welten. Eine, in der alles dahinging, die andere, in der nichts war als eine blasse, ferne Kindheitserinnerung.

Alma half Vater in die Wohnung hinauf, wo er sich entkräftet und mürrisch auf das Sofa legte und einschlief. Niemand wagte, etwas zu fragen.

Alma verliess unbemerkt die Wohnung, marschierte ziellos die Via Merulana hinauf und fand sich schliesslich, immer noch im Sonntagskleid, auf dem grünen Wiesenstreifen neben der Kirche San Martino ai Monti wieder. Aufgewühlt setzte sie sich auf eine Bank unter einem ausladenden Oleander, dessen Blüten noch blutrot leuchteten. Sie starrte in die grünen Bäume vor ihr, Tränen rannen über ihre Wangen. Bis sie ruhiger wurde. Bis sie sich eingestand, dass sie den Lauf der Dinge nicht aufhalten konnte.

Sie seufzte, strich sich die Tränen aus den Augen und betrat die Kirche, das kühle Dunkel jenseits der geöffneten Kirchentür. Sie tauchte die Fingerspitzen in das Weihwasserbecken, bekreuzigte sich und setzte sich in eine Kirchenbank. Sie sah die Grimassen des Notars und die Zähne der Sekretärin, die Hinterteile der Kutschenpferde und Vaters Hilflosigkeit, die sie manchmal beschämte. Sie spürte die Wut auf die Krankheit, ihre Ohnmacht. Aber was änderte ihre Auflehnung? Nichts. Was sollte sie anderes tun, als mitgehen und akzeptieren, was sich anfühlte wie ein Abgrund? Eine Wahl hatte sie nicht. Sie kniete nieder, betete zur Muttergottes. Betete. Und irgendwann merkte sie: Wirklich wichtig war nur, dass Vater am Leben blieb. Sie selbst würde im Puschlav schon irgendwie zurechtkommen. Sie würde auch ein Leben haben. Ein anderes eben. Und zudem war es ja immer noch das Ziel, wieder zurückzukehren. Antonio würde bestimmt so lange auf sie warten. Oder nicht? Innerlich übergab sie ihr Schicksal in die Hände Gottes. Er würde es bestimmt zum Guten wenden.

Das Weihwasser beim Ausgang fühlte sich weich und samten an. Gestärkt trat Alma aus dem dunklen Raum und zog die schwere Kirchentür hinter sich zu. Sie hielt dem Windstoss, der ihr Haar zerzauste, das Gesicht entgegen und lächelte. Leichtfüssig kehrte sie nach Hause zurück, grüsste sor Augusto freundlich, nahm im Treppenhaus zwei Stufen auf einmal und trat durch die mittlere Eingangstür in die Küche, von wo ihr der Duft von grilliertem Gemüse in die Nase stieg. Sie merkte, wie hungrig sie war.

XXIV

Fratelli Gondrand stand auf dem zerknitterten Zettel, den Cristoforo von Clemente bekommen hatte. Cristoforo steckte ihn in die Hosentasche. Das Speditionsunternehmen befand sich an der Via della Mercede gegenüber der Zentralpost. Alma stellte sich vor, wie die signorina Balducci früher mit wehenden Röcken geradelt kam. Im Gebäude herrschte Hochbetrieb. Geschäftsleute, Fuhrmänner und Gepäckträger kamen und gingen. Angestellte hetzten in die Büros und zurück, schimpften und fluchten. Schreibmaschinen klapperten. Sie warteten lange. Einige Kunden reklamierten lautstark. Cristoforo sass zusammengesunken auf einem Stuhl, bis sie endlich zum Schalter gerufen wurden. Man schimpfte mit ihnen, weil sie viel zu spät dran waren. Deshalb bezahlten sie mehr als üblich, damit ihre Möbel und ihr Hausrat rechtzeitig abgeholt und in die Schweiz transportiert wurden. Sie erledigten die nötigen Formalitäten und verliessen die stickige Eingangshalle so schnell wie möglich.

«Wenn das nur klappt mit unseren Sachen!», meinte Cristoforo besorgt.

Alma hustete angewidert. Sie überquerten die verkehrsreiche Piazza San Silvestro.

«Babbo, hier, die Strassenbahn!» Alma deutete auf die bereitstehende Tramway, die sie geradewegs nach Hause führen würde.

«Komm!», sagte er, ging mit gesenktem Kopf daran vorbei und überquerte langsam, aber unbeirrt die Via del Tritone.

Alma warf einen neugierigen Blick auf das noble Warenhaus Bocconi am Corso. «Willst du zur Fontana di Trevi?»

Neptun thronte im barocken Triumphbogen. Vor ihm zwei Pferde, ein wildes und ein friedliches. Das Wasser rauschte von den Felsblöcken zu Füssen des Meeresgottes. Cristoforo setzte sich schwerfällig auf eine der obersten Stufen der Treppe, die zum breiten Becken mit dem türkisgrünen Wasser hinunterführte. Gedankenverloren strich er sich mit der Hand über das Gesicht, schloss die Augen und lehnte den Kopf an das Geländer.

Alma stand verlegen und ungeduldig daneben und rätselte, was Vater vorhatte. Schliesslich setzte sie sich neben ihn und liess sich von den vielen Touristen und deren Sprachen, die sie nicht verstand, ablenken. Die Fremdensaison hatte wieder begonnen, nachdem die ersten Herbstregen gefallen waren und damit auch die Temperaturen. Die Gäste kamen an, besuchten die Stadt und fuhren wieder weg. Ich bin noch nie richtig gereist, dachte Alma. In Rom würde sie auch nie fremd sein. Gleichgültig, wie lange es bis zu ihrer Rückkehr dauern würde. Plötzlich sprang sie auf und schüttelte Vaters Hand. «Eine Münze, hast du mir eine Münze?»

Cristoforo schrak auf und schaute müde in ihre schmalen, glänzenden Augen. «Dieser Brauch ist doch Aberglaube, lass das!»

«Babbo, ich sterbe, wenn wir gehen, ohne dass ich eine Münze in den Brunnen geworfen habe!», flehte Alma ihn an.

«Na dann», er kramte ein Kupferstück aus der Geldbörse, «bevor du stirbst!»

Alma lächelte, beugte sich zu ihrem Vater und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

«Geh schon, geh schon.»

Sie nahm das Geldstück, eilte zum Beckenrand hinunter, drehte sich um und tat es den fremden Gästen nach. Der centesimo flog über ihren Kopf hinweg in die Unendlichkeit des Ozeans, und Alma war nun ganz fest überzeugt, dass sie nach Rom zurückkommen würde.

Sie gelangten zum Corso, wo Militärmusik zu hören war.

«Babbo, schau mal! Manzoni! Fogazzaro, Leila! Bilder von Afrika, Edgar Wallace, ach, das ist nicht auf Italienisch!» Alma blieb am Schaufenster der Buchhandlung Bocca stehen.

«Komm! Such dir etwas aus. Dann haben wir im Puschlav etwas zu lesen.»

«Dort wird’s ja auch Buchhandlungen geben, oder nicht?»

Vater hob nur die Augenbrauen, und sie wusste, ihre Frage war eine rhetorische.

Sie traten ein, eine Glocke bimmelte schrill, der Holzboden knarrte. Es roch nach Papier.

«Guten Tag, was wünschen die Herrschaften?»

Cristoforo zeigte auf das Schaufenster. Von innen war nur ein tannengrüner Samtvorhang, auf halber Höhe befestigt, zu sehen.

«Manzoni vielleicht?» Der Buchhändler, ein vornehmer, älterer Herr mit gutmütigen Augen deutete auf ein Gestell.

«Afrika vielleicht», warf Alma schüchtern ein.

«Ja, da hätte ich etwas für Sie!»

Vater und Alma verliessen die Buchhandlung und überquerten den Corso. Stolz und glücklich trug Alma drei in Packpapier gewickelte Bücher unter dem Arm. Einen Salgari für die Kleinen, ein libro rosa aus der Reihe für junge Fräulein mit einer Liebesgeschichte aus dem libyschen Küstenland und einen Taschenatlas für die Reisen in ihrem Kopf. Welch ein Reichtum! Sie erreichten die Piazza Colonna, einen der belebtesten und wichtigsten Plätze der Stadt mit den berühmten Cafés, den Limonadenkiosken und den Wassermelonenständen. In der Mitte stand die hohe Marmorsäule mit der Bronzestatue des heiligen Paulus.

Cristoforo trank vom Hahn des mit Tritonen, Muscheln und Delfinen verzierten Brunnens.

Babbo scheint sich besser zu fühlen, ging es Alma durch den Kopf. Sie lockerte ihre angespannten Schultern und streckte den Rücken. Die Sonne wärmte ihr Gesicht.

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