Kitabı oku: «Almas Rom», sayfa 6

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XXV

Kleiderbügel an Kleiderbügel hingen die Jacken und Sommermäntel, geordnet nach Grösse, an der Garderobe im Korridor.

«Oh, Nazzarena hat aufgeräumt», rief Alma, als sie vom Markt zurückkamen und die Einkaufsbündel auf dem Marmortisch in der Küche abgestellt hatten.

«Schön!», freute sich die Mutter. «Ach, wie werden wir dich vermissen, Nazzarena!»

«Und ich euch erst!» Die Gouvernante verschwand mit Tränen in den Augen in die Küche.

«Nazzarena wird uns fehlen!», wandte sich die Mutter zu Alma.

«Ja, sehr! Weisst du noch die sora Giuditta?»

«Die haben wir weggeschickt, weil sie zu viel trank und zu wenig arbeitete!»

«Wirklich?», staunte Alma.

«Ja, aber da warst du noch klein.»

«Oh, schau, das ist ja furchterregend!» Auf der Schubladenkommode mit den geschwungenen Füssen lag ein Briefumschlag, der mit einer unheimlichen Serie von Briefmarken und Stempeln versehen war.

«Woher kommt der?» Mutter nahm den Brief an sich. «Den Stempeln nach aus Amerika.»

«Zeig mal! Zeig!» Folco hängte sich an Mutters Arm, als er das Wort «Amerika» hörte.

«Pazienza! Folco! Ja, hier der Absender, es ist zia Mariella!»

In Almas Erinnerung tauchte das blasse Bild einer zierlichen Frau auf, deren aschblondes Haar wie ein Kranz ihr Gesicht umrahmte. Sie hatte immer eine caramella – ein Bonbon – für die Kinder dabei gehabt, als sie vor Jahren ein einziges Mal in Rom zu Besuch gewesen war.

Mutter eilte in den salottino und kramte in der Schublade des Sekretärs nach dem Brieföffner. «Deine Schwester hat geschrieben», meinte sie zu Cristoforo, der auf dem Sofa döste.

Sie öffnete den Briefumschlag, zog einen mit einer winzigen, verschlungenen Schrift beschriebenen Briefbogen hervor, faltete ihn auseinander und setzte sich an den Nussbaumtisch. «Meine liebsten Cristoforo und Anna.» Alma und Romeo schauten neugierig über ihre Schultern, Folco stand mit grossen Augen am Tisch. Sein Kopf reichte knapp über die Tischkante.

Mutter stockte: «Lies du vor, Alma, meine Augen!» Mutter hielt ihr den Brief hin.

Alma packte ihn eifrig: «… ich habe die Stelle gewechselt, die Arbeit im neuen Hotel ist streng. Die Kurgäste verlangen, dass man immer für sie da ist. Die meisten sprechen Amerikanisch. Ich verstehe nun ein paar Brocken dieser Sprache. Zum Glück arbeiten auch Italiener hier. Ich bin froh, dass ich erneut Arbeit gefunden habe. Auch mein Sohn hat einen Job – so sagen sie hier –, er arbeitet bei einem Zimmermann. Die Arbeit ist hart, er balanciert auf den Dächern der Hotels herum, die hier zuhauf neu gebaut werden. Das macht mir Angst. Ich bin froh, wenn er abends heil zurückkommt. Ich denke manchmal an Bernardo, aber die Ferne und die viele Arbeit helfen mir, den Schmerz und das Heimweh zu vergessen.»

Alma schaute auf. «Wieso ging sie weg?»

«Embeh, was sollte sie als Witwe im Puschlav? Sie ist mit der Schwester von Bernardo und anderen Puschlavern ausgewandert, sie hoffte, als alleinstehende Frau im fernen Amerika ein Auskommen zu finden.»

«Hmm», brummte Alma und fuhr fort: «Hier ist es schön. Die Einheimischen nennen die Landschaft die Katzenberge. Es ist hügelig, grün und das Klima mild. Ich denke viel an euch und die schönen Momente, als wir uns in Rom gesehen haben. Damals war Attilio geboren. Wie geht es ihm und Alma und dem armen Romeo? Berichtet mir von den Kindern. Schreibt mir, wie es euch geht. Laufen die Geschäfte gut? Seid alle herzlichst gegrüsst und geküsst, eure Mariella.»

Alma beugte sich zum Sekretär hinüber und suchte nach Briefpapier. Sie wollte zia Mariella sofort antworten. Sie schrieb Zeile um Zeile und berichtete von der Krankheit des Vaters und der Angst um ihn, der geplanten Rückkehr und den damit verbundenen Hoffnungen. Sie schrieb von der aria genuina – der reinen Luft der Berge – dem Argument, das den Ausschlag für die Rückkehr gegeben habe, trotz der Aussicht auf eine Wohnung in San Saba. Von Attilios Begeisterung und Vorfreude auf das Puschlav, von der sich alle Geschwister hätten anstecken lassen, den Vorbereitungen für den Umzug und von Romeo, der sich das Handgelenk verstaucht habe, als er auf einen Kistenstapel habe klettern wollen und dabei zu Boden gestürzt sei. Den Gang zum Notar liess Alma aus. Dann erzählte sie nochmals von Attilio, der die Prüfung für das Gymnasium mit Bravour bestanden habe und nun den neuen Katechismus von Papst Pius X. auswendig büffle, um vor der Abreise noch am Religionswettbewerb aller katholischen Schüler in Rom teilzunehmen. Von seiner ersten Kommunion mit der Audienz beim Papst, auf die er stolz sei wie ein Pfau und um die ihn alle anderen beneideten. Sie berichtete auch von Giacomos Tränen jeden Morgen vor Schulbeginn und von Pietros erstem Kindergartentag, seinem Eifer und seinen Flausen. Sie beschrieb den toboggan, es sei das Lustigste gewesen, das sie an der Universalausstellung gesehen hätten. Aus Gehorsam verschwieg sie ihren eigenen Widerwillen gegen die Rückkehr ins Puschlav. Aber als sie den Brief nochmals durchlas, spürte sie ihre Wut. Sie hätte die Wörter aria genuina am liebsten dick durchgestrichen. Aria genuina! Was konnte der Arzt davon wissen!

XXVI

Folco schämte sich. Pietro und Attilio hänselten ihn, weil er aussah wie ein kleines Mädchen.

«Das war mein schönstes Festtagskleid!», meinte Alma aufmunternd.

«Dieses schneeweisse Röcklein mit dem Spitzenkragen habt ihr alle einmal angehabt!», erklärte Mutter.

Doch Folco interessierte das nicht. Fast wäre er nicht mitgegangen, wenn Nazzarena sich nicht mit rührender Fürsorge um ihn gekümmert hätte. Nun ging er an ihrer Hand, schmollend zwar, aber er ging mit. Alma half Vater, die Tramway zu besteigen, und Mutter schaute, dass alle da waren. Die Buben trugen modische, wadenlange Karottenhosen, Stiefeletten und eine liliengrosse weisse Masche um den Jackenkragen. Mutter ganz in Schwarz und mit Hut, Vater in seinem schlottrigen Sonntagsanzug. Irene war stolz auf den neuen hellblauen Faltenrock mit den zierlich bestickten Bändern. Alma trug ihr rot-schwarz kariertes Sonntagskleid. Sie fuhren Richtung Bahnhof.

Im Fotogeschäft hingen Filmplakate, Landschaftsbilder und Porträts an den Wänden. Auf den Regalen waren Objektive, Glasplatten, Feldstecher und Lupen ausgestellt. Frau Cané führte sie durch einen langen Gang in den Innenhof, der mit Gerümpel überstellt war, betrat das Fotostudio, zog die schweren schwarzen Vorhänge und schloss einen Teil der Dachstoren. Dann platzierte sie Stellwände, falsche Säulen und Steinblöcke und wollte wissen, ob sie auch Einzelaufnahmen wünschten. Vater schüttelte den Kopf und setzte sich auf einen Stuhl. Attilio und Pietro waren zum Stativ mit dem viereckigen Kasten gerannt, nun drohte das Gestänge aus dem Gleichgewicht zu geraten.

«Piantatela – hört auf! Mannaggia!» Vater fuhr hoch.

Alma zuckte zusammen, Pietro schaute verwundert, und Attilio floh in die andere Ecke. Nazzarena packte das schwankende Ding geistesgegenwärtig und verhinderte, dass es zu Boden fiel.

Just in dem Moment trat Herr Cané ein. Er warf einen misstrauischen Blick auf Nazzarena, einen mitleidigen auf Romeo und hantierte dann am riesigen Fotoapparat herum. Frau Cané arrangierte die Familienmitglieder. Mutter vorne in der Mitte, sitzend.

«Sie haben Recht, jetzt ein schönes Familienfoto zu machen! Man muss die Sprösslinge festhalten, bevor sie anfangen, ihre eigenen Wege zu gehen. Das Foto wird Ihnen bestimmt viel Freude bereiten.»

Was die da redet, dachte Alma und presste die Lippen zusammen. Und das ohne Unterbruch, während ihr Mann immer noch schwieg. Frau Cané richtete Annas Silberkette und drückte ihr ein Ledertäschchen in die Hand. Romeo musste auf einen Sockel neben Alma steigen, da die Geschwister in der Reihenfolge ihres Alters nebeneinander stehen sollten. Der Sockel wurde von Mutters fülligem Körper verdeckt. Die Frau des Fotografen drapierte Irenes hellblauen Rock über den falschen Steinblock, auf dem sie sass, drückte ihr ebenfalls eine winzige Handtasche in die Hand und legte einen Strauss weisser Blumen in ihren Schoss. Alma beobachtete ihre kleine Schwester, die unentwegt und ernst in die Kamera schaute. In ihrem langen, dunkelblonden Haar war eine weisse Masche befestigt. Attilio stand unruhig neben Irene, bis Herr Cané verärgert hinter seinem Gestell hervorschoss, Attilios Hände packte und ihm befahl, sie ineinander zu verschränken und endlich ruhig zu stehen, ansonsten das Foto nicht gelingen würde.

Attilio seufzte und Vater hinter ihm auch. Cristoforo griff in den Stoff von Attilios Jacke, um ihn zur Ruhe zu zwingen. Mit der anderen Hand wischte er sich über die Stirn, holte tief Luft und versuchte, die Krawatte zu lockern. Dem staunenden Folco drückte Frau Cané ebenfalls einige weisse Blumen in die Hand und stellte ihn vor die Mutter. Pietro musste Giacomos Hand halten, in die andere bekam er einen Holzstab gedrückt, als wäre er ein Orchesterdirigent. Alma hinter ihm legte sich die überlange silberne Kette um den Hals und tastete nach ihrer Frisur. Sie hatte die Haare, ganz wie es Mode war, zu einem Knoten auf dem Scheitel hochgesteckt.

«Nicht so fest, du tust mir weh!» Pietro bewegte sich heftig.

«Macché!» Alma löste die Finger von seiner Schulter.

Sie erschraken über Herrn Canés tiefe Stimme, die ihnen befahl, nicht zu lachen und sich nicht zu bewegen. Dann schaute er lange in seinen Apparat.

Folco drehte den Kopf zur Mutter.

«Schau nach vorne», wisperte Nazzarena, die wortlos auf einem Stuhl neben der Eingangstür sass und zuschaute.

Nochmals schaute Herr Cané hinter der Fotokamera hervor. Vater solle mit der Hand die Knopfleiste seiner Jacke fest umfassen. Dann endlich: Klick.

Vater setzte sich. Nazzarena öffnete die Tür. Frische Luft strömte herein. Frau Cané lobte sie überschwänglich. Das Foto würde sicherlich wunderschön sein. Wie sie das jetzt schon wissen könne, hörte Alma Attilio Irene zuflüstern. Diese zuckte die Schultern. Zurück im Laden zückte Vater den Geldbeutel.


Familienfoto im Studio Fotografico Cané in Rom, ca. 1911

Hintere Reihe (v.l.) : Alma, Romeo, Cristoforo, Attilio

Vordere Reihe (v.l.): Pietro, Giacomo, Folco, Anna, Irene.


Rückseite.

«Mannaggia, schaut mal», rief Alma und zeigte auf eine Fotografie an der Wand.

«Via Merulana e San Giovanni, anno 1865 steht da!»

«Unsere Strasse und kein einziges Haus!», rief Attilio ungläubig.

«Dann ist es nicht unsere Strasse», meinte Irene spitz.

«Doch, lies selbst!»

Irene schubste Attilio zur Seite.

«State bòni, bambini – seid brav, Kinder!», mahnte die Mutter.

«Schaut doch, der Palazzo di San Giovanni, der Obelisk aus Theben, rechts davon das Spital», zählte Alma auf. «Die Via Merulana eine Landstrasse auf weitem Feld. Ist das eigenartig!» Was wohl Antonio dazu sagen würde, dachte sie traurig. Ob er sich noch meldete? Sie hoffte es sehnlichst.

Auch Vater studierte das Bild. Die Strasse auf dem Foto führte schnurgerade zur Piazza di San Giovanni. Rechts und links Bäume ohne Laub, eine halbhohe Mauer und dahinter der Horizont. Er lächelte matt.

«Infatti – tatsächlich! Die Via Merulana vor dem grossen Baufieber. Als ich in Rom ankam, war hier eine einzige riesige Baustelle.»

«Du hast gesehen, wie unser Haus gebaut wurde?», fragte Giacomo aufgeregt.

«Jaja!» Vor Cristoforos Auge balancierten Gerüstbauer in Schwindel erregenden Höhen ihre Holzlatten, Handwerker transportierten Baumaterial auf klapprigen Karren, und überall standen arbeitslose Taugenichtse und schaulustige Faulenzer herum. «Es war eine raue Zeit! Dreckig und ungemütlich! Ihr habt’s viel besser!» Vater schüttelte den Kopf, während ihm erklärt wurde, dass er das Foto in zwei Tagen abholen könne. Er war noch jung gewesen damals, und es hatte ihm nichts ausgemacht.

«So, kommt jetzt», rief Mutter von der Türschwelle.

Die Kleinen waren schon draussen. Sie bestiegen die Tramway. Dem Kontrolleur zahlten sie für den Rückweg fünfzehn centesimi pro Person.

XXVII

Alma war wütend. Missmutig packte sie Teller um Teller in Zeitungspapier ein. Nach Mutters Willen hätte sie all ihre Schulbücher und Schulhefte in Rom lassen sollen. Das kam nicht in Frage.

«Was willst du im Puschlav damit?»

«Lesen!»

«Alma, du kannst deine Bücher mitnehmen, aber die Schulsachen kommen weg.»

Alma verzog das Gesicht und packte eines der Kristallgläser auf dem Küchentisch, um es ebenfalls in eine Zeitung einzuwickeln.

«Halt, lass die Kristallgläser! Das mache ich. Nimm das Silberbesteck oder die Küchengeräte!»

«Dann nehme ich meine Bücher mit in den Zug!» Alma wollte sich nicht von Antonios meerblauem Buch trennen. Sie hatte erst die ersten Seiten gelesen und wollte wissen, wie es Regina, der Tochter aus dem kleinen Dorf im Veneto, mit dem frisch angetrauten Bräutigam bei ihrer Ankunft in Rom erging.

«Das geht doch nicht! Alma!»

Romeo brachte Tischtücher und legte sie mit dem nicht eingebundenen Arm auf den Tisch.

«Ach, wie mir graut vor dieser Zugfahrt!» Mutter presste eine Hand auf ihren Magen.

«Diamine!» Alma stellte das Glas auf den Tisch zurück und verliess die Küche.

Im Arbeitszimmer waren Kisten, Koffer und Körbe aufgetürmt. Nazzarenas Schlafplatz war fast zugebaut. Sie, deren Ordentlichkeitssinn ohnehin schon arg strapaziert wurde, wagte sich nun nachts kaum noch zu bewegen aus Angst, irgendetwas könnte auf sie hinunterstürzen.

Folco stapelte alle Spielsachen in eine Ecke.

«Und welche lässt du hier?», fragte ihn Alma.

Folco schaute sie mit grossen Augen an und schüttelte den Kopf. «Keine!»

«Hmm!» Alma lachte auf. Sie hörte zia Ludovicas Stimme aus der Küche.

Die Tante war gekommen, um anzugeben, was ihr Sohn übernehmen würde und was nicht. Clemente würde nach ihrer Abreise in die Wohnung einziehen. Seine Verlobte, die noch im Puschlav lebte, würde nachkommen, sobald sie geheiratet hätten. Mutter und zia Ludovica sprachen über die Unmengen von Gegenständen, die nützlichen und weniger nützlichen, die vergessenen und verloren geglaubten, den Staub und den Dreck, die zum Vorschein gekommen waren.

Nazzarena rief aus dem Esszimmer. Sie brauche Hilfe. «Ohimè!», entfuhr es ihr, als Alma ihr half, den schweren Teppich unter dem Tisch hervorzuholen, zusammenzurollen und wegzutragen. Nazzarena war einmal mehr kurz davor, in Tränen auszubrechen.

Die Arme, dachte Alma. Sie wollte nach Gavignano zurückkehren.

Nun versuchte Nazzarena, dem Abschiedsschmerz beizukommen, indem sie ohne Rücksicht auf die Haushaltskasse und mit den verbliebenen Küchenutensilien die Lieblingsspeisen der Kinder zubereitete: Reiskroketten, maccheroni mit Tomatensauce, Eierflöckchensuppe und Erbsen mit Thunfisch, Kirschkuchen und Ricotta-Eis.

Mit zittrigen Händen nahm Cristoforo das gerahmte Hochzeitsfoto von der Wand im Schlafzimmer und entschied sich, die Madonnenstatue hier zu lassen. Dafür sollten die Pendeluhr und das Kruzifix, der Globus, der Nussbaumtisch und der Sekretär aus dem salottino mitkommen. Ihm war schwindlig, er wollte schlafen, doch dafür war es viel zu laut. So flüchtete er sich, wie immer öfter in den letzten Tagen, wenn er keine Kraft zum Helfen mehr hatte, in eine der umliegenden Kirchen. Das Beten beruhigte ihn.

In diesen Tagen kamen die Freunde und Bekannten der Familie vorbei, um sich zu verabschieden. Alma lauschte den Gesprächen der Erwachsenen, hörte die gut gemeinten Ratschläge, mit denen sie die Sorge um Cristoforo überspielten, die Versprechen, dass sie sich bald einmal besuchen würden. In diesen Momenten packte Alma heftige Wehmut, und sie hielt die Tränen nur mit Mühe zurück.

An Allerheiligen ging sie mit der Familie zur Messe in San Giovanni in Laterano, zündete Kerzen an und betete um Schutz und Trost. An Allerseelen, als der Monsignore auf dem Friedhof die Gräber segnete, nahm die Familie Abschied von den Verstorbenen. Auch von Amelia und Alfredino. Als Alma vor den kleinen Gräbern ihrer Geschwister stand, spürte sie ein Reissen in ihrer Brust. Verstört und mit Tränen in den Augen starrte sie auf das schmiedeeiserne Kreuz auf Amelias Grab. Die Fragen, was Sterben bedeutete, was der Tod, waren zu gross für sie. Wo waren nur die Leichtigkeit und Zuversicht geblieben, die sie in der Kirche San Martino ai Monti nach dem Besuch beim Notar gespürt hatte? Gegen den jetzt aufwallenden Schmerz kam sie nicht an.

Sie wandte sich um. Neben ihr stand Romeo. Er nahm ihre Hand und drückte sie fest, während sie schweigend auf den Ausgang des Friedhofs zugingen. Zu Hause angekommen, bangte Alma einmal mehr, ob Antonio sich noch melden würde. Es dauerte nur noch eine Woche bis zu ihrer Abreise!

In der Wohnung stand nichts mehr an seinem Platz.

XXVIII

«Babbo, kommst du nicht mit?» Alma stand im abgedunkelten salottino.

Cristoforo winkte ab, sein Arm sank schlaff auf das Sofa zurück, seine Augen waren geschlossen. «Geht ihr!»

Mutter sah ihn besorgt an, legte ihre Hand, deren Haut vom vielen Packen und Putzen rau und rissig geworden war, an seine eingefallene Wange und zog behutsam die Wolldecke über ihn. So verliessen sie das Haus ohne den Vater, bogen in die Via Mecenate ein und machten sich zu ihrem allerletzten Sonntagsspaziergang in Rom auf. Die Herbstsonne schien mild vom blauen Himmel. Der Wind brachte die Blätter der Laubbäume zum Rascheln. Vögel zwitscherten. Alma erinnerte sich an die ottobrate, die fröhlichen Volksfeste, die nach den drückend heissen Sommermonaten gefeiert wurden. Jedes Mal war es ein aussergewöhnliches Ereignis gewesen, wenn die Familie in die römische Campagna hinausgefahren war und ausnahmsweise in einem Gasthaus gegessen hatte.

Schade, kommt ein solcher Ausflug in diesem Jahr nicht in Frage, bedauerte Alma. Sie spürte die Last der bevorstehenden Rückkehr wie einen zentnerschweren Stein auf ihrer Brust. Die Angst, für Vater könnte es schon zu spät sein, lähmte sie, und auch das Wissen, dass sich der Umzug nicht mehr vermeiden liess. Sie hatte geglaubt, durch das Gebet und die Gespräche genügend Kraft geschöpft zu haben. Doch nein, alles kam wieder hoch: Wut, Ohnmacht und Schmerz. Genauso heftig wie an dem Tag, als sie von Gavignano zurückgekehrt waren. Sie blickte auf, sah das Kolosseum am unteren Ende der Via Mecenate zwischen den dunkelgrünen Zypressen, den hohen Palmen und den Meerkiefern mit ihren in den Himmel strebenden Nadelwolken und spürte einen Stich in ihrem Herz – hier hatte sie Antonio getroffen!

Bis hierhin hatten alle geschwiegen. Aber jetzt rannten die Kleinen schreiend los, quer über das Feld. Unten ratterte die Tramway am Kolosseum vorbei, Kutschen fuhren auf und ab, die Hufe der Pferde klapperten auf den Pflastersteinen, ein Automobil brummte und holperte über den Platz. Einheimische spazierten auf den Strassen, fremdländische Touristen bewunderten das weltliche Wahrzeichen Roms. Nachmittags war das Monument ab drei Uhr geöffnet, sonntags war der Eintritt frei. Die Kleinen stürmten Stufe um Stufe hinauf, während Giacomo auf Mutter wartete, die keuchend die Treppen emporstieg.

Der Lieblingsplatz von Alma und Attilio war die zweistöckige Halle im vierten Stockwerk. Von hier aus sah man unter sich die verfallenen Tribünen und das Oval der Arena und ausserhalb des Amphitheaters die südlich gelegenen Hügel der Stadt. Auch die Pyramide in San Saba und die Wasserleitung, die auf den Monte Palatino zuführte, die Aqua Claudia.

Als sie zurückkehrten, durchfuhr es Alma wie ein Blitz: Strohhut, schwarze Locken. War das Antonio am Zeitungsstand von sor Augusto? Alma wurde es leicht ums Herz. Sie merkte, wie sie errötete. Sie grüsste und tat, als ob nichts wäre. Doch noch im Treppenhaus kehrte sie unter dem Vorwand, Rachele zu besuchen, um und eilte wieder nach unten.

«Ah, da ist die Liebste ja!», unterbrach sor Augusto das Gespräch mit Antonio, als sie den Kopf zum Haustor hinausstreckte.

Alma hob den Zeigefinger an den Mund.

«Was für ein geeigneter Zeitpunkt!», spöttelte er und gab Antonio einen Klaps auf die Schulter.

«Alma!» Antonio schaute sich um, nahm ihren Arm und zog sie ein Stück die Via Merulana hinunter, dann bogen sie in eine Seitenstrasse ein. «Haben Sie gehört? Der Flug über Bengasi, der erste Bombenabwurf? Wir haben Tripolitanien erobert! Wir werden bald die Herren über Ostafrika sein!» Antonio war ganz aufgeregt. «Wissen Sie, dort gibt es so viel fruchtbares Land. Unsere Leute werden nie mehr so weit weg wie nach Amerika auswandern müssen. Es wird neue Arbeitsplätze geben!» Er rückte seinen Strohhut zurecht.

Alma blickte ihn verständnislos an: Was interessierte sie Bengasi? «Pah, auswandern! Ich müsste die Stadt nicht verlassen, wenn meine Eltern keine Auswanderer wären», erwiderte sie ungehalten.

«Oh», er blickte sie aus seinen dunklen Augen an. Lange. Nachdenklich. «Sie wären nicht hier, wenn Ihre Eltern nicht ausgewandert wären!»

«Was nützt das, wenn ich trotzdem gehen muss?» Alma liess den Kopf hängen. «In drei Tagen brechen wir auf.»

Antonios Lächeln verschwand. «Ich hoffe, ich sehe Sie bald wieder!», gab er leise zurück.

Sie nickte, blieb stehen.

«Sie kommen ja bald zurück! Oder?» Seine Stimme tönte eindringlich.

«Ja, sicher!» Sie blickte in seine Augen und versuchte zu lächeln. Sie konnte ihre Tränen nicht verbergen. Sie schämte sich, das Lächeln geriet zur Grimasse. Sie schaute weg, strich mit der Hand über seinen Arm, nahm seine Finger, liess sie wieder los und kehrte um. Es war wieder da, das entsetzliche Reissen in ihrer Brust.

Am Tag darauf holten die Männer von Fratelli Gondrand Möbel und Hausrat, Kisten und Koffer zum Transport in die Schweiz ab. Folco musste sich von der Hälfte seiner Spielsachen trennen und Alma Antonios Buch den fremden Händen mitgeben. Zurück blieben weitgehend leere Räume.

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