Kitabı oku: «Almas Rom», sayfa 4

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XV

Die Frühschicht war vorbei. Alma legte die weisse Schürze mit den Spitzenbordüren ab, steckte eine widerspenstige Strähne in ihren Haarknoten und verliess den Laden, das mit Brot gefüllte Stoffbündel für das Frühstück in der Hand. Sie bog um die Ecke, sor Augusto war noch nicht da. Zum Glück. Sie mochte es nicht, wie er sie anguckte und Sprüche klopfte. Wie er Irene wegen ihres Fliegengewichts nur tre once e mezza libbra nannte – die halbe Portion – und Pietro er bello de Via Merulana – den Schönling. Ausgerechnet ihren Bruder, Pietraccio, der widerspenstigste von allen!

Sie blickte die Via Merulana hinunter und suchte den Zeitungsausläufer. Der junge Mann mit dem Strohhut über den dichten, schwarzen Haarlocken stand weit unten in der Strasse mitten in einer Traube Menschen und schwatzte und lachte und kam nicht voran. Er trug einen erdfarbenen, abgetragenen Anzug und einen grossen Lederbeutel mit den Zeitungen um den Hals. Sie stellte sich an und beobachtete, wie er geschickt, fast mechanisch Zeitung um Zeitung hervorklaubte, die cinque centesimi – die Fünf-Rappen-Stücke – entgegennahm und in die Hosentasche steckte. Gleichzeitig trug er Schlagzeilen vor und gab Klatsch zum Besten. Wenn er lachte, blitzten seine dunklen, lebhaften Augen auf. Die Leute strömten herbei, warteten und verschwanden wieder. Manche Begegnungen waren hitzig, andere lustig und alle kurz. Antonio hiess er, schnappte sie auf.

«Guten Tag, die junge Dame!», begrüsste er Alma fröhlich und deutete einen Knicks an. «In zwei Tagen wird der Leuchtturm auf dem Gianicolo eingeweiht. Das dürfen Sie auf keinen Fall verpassen!»

«Ah, ja», erwiderte Alma scheu und reichte ihm zwei cinque-centesimi-Stücke. «Il Giornale d’Italia und den Messaggero, bitte!»

«Ja, zum fünzigjährigen Jubiläum unseres Staates. Sein Lichtstrahl wird in den Farben der Nationalflagge über die Stadt hinweg blinken.»

Sie schaute ihn verzückt an.

«Und vergessen Sie nicht, heute Abend wird die principessa gefeiert – die Miss eures Quartiers.»

Sie nickte und spürte, wie sie rot anlief. Aufgeregt packte sie die Zeitungen, die er ihr hinhielt, sagte «Danke!» und drehte sich schnell um.

«Bittesehr, Signorina», hörte sie noch und spürte seinen aufmerksamen Blick in ihrem Rücken.

XVI

An diesem späten Nachmittag war die Piazza dell’Esquilino auf der Rückseite von Santa Maria Maggiore voller wartender Schaulustiger. Rachele und Marianna überhäuften Alma mit Fragen, und sie erzählte betrübt, dass es Cristoforo nicht besser gehe. Dass es schrecklich sei zuzusehen, wie er dünner und dünner werde, dass er sehr oft schlecht gelaunt und gereizt sei. Alma spürte, wie mit dem Erzählen die lähmende Ohnmacht wieder emporkam, nachdem die viele Arbeit der letzten Tage sie ein wenig abgelenkt hatte. Aber nun fand sie den Gedanken, bald nicht mehr mit ihren Freundinnen zusammen sein zu können, wieder genauso unerträglich wie von Anfang an. Selbst das Gespräch mit Rachele auf der Piazza und die Aussicht, vielleicht doch nur einige Monate weg zu sein, erschienen ihr weit weniger hoffnungsvoll, als sie sich einzureden versuchte. Und Antonio?, durchfuhr es sie. Auch den Zeitungsverkäufer würde sie nicht mehr sehen. Hitze wallte in ihr auf. Ob er auch da war? Sie schaute sich um, dann ertönten Fanfaren, und sie kam nicht mehr dazu, Rachele und Marianna von ihm zu erzählen.

Sie reckten die Köpfe hin zur Via Cavour, um die principessa zu sehen. Die Kandidatin aus ihrem Quartier, die an der Wahl zur reginetta di Roma teilgenommen hatte. Zum ersten Mal überhaupt hatte man eine Miss Rom erkoren. Am aufwändigen dreitägigen Wahlprozedere hatte aus jedem Quartier eine junge Frau teilnehmen dürfen. Der Festtagstross kam direkt von der Piazza d’Armi jenseits des Tiber, wo die Wahl und die Feierlichkeiten im Rahmen der Universalausstellung stattgefunden hatten.

Diese Ausstellung zum fünfzigjährigen Bestehen des italienischen Nationalstaats hatte Alma zusammen mit der ganzen Familie an einem warmen Frühlingssonntag besucht. Vom monumentalen dreibogigen Ehrenportal am Eingang aus hatten sie sich zu den prunkvollen padiglioni aufgemacht. Alma sah die venezianischen Gondeln vor sich, wie sie auf den nachgebauten Wasserkanälen schaukelten, und die Segelschiffe aus der Hafenstadt Genua, die die glorreiche Seefahrerzeit veranschaulichten. Sie hatten die trulli, die höhlenartigen Behausungen mit den kegelförmigen Dächern der apulischen Bauern bestaunt, die roten Nelken an den Bauernhäusern des Aostatals und die Schneeschuhe, von denen sie noch nie zuvor gehört hatte. Geworben hatte man mit dem spektakulären, naturgetreuen Nachbau eines hundert Meter langen römischen Schiffes, das in einem künstlich angelegten Wasserbecken schwamm. Aber am meisten fasziniert hatte sie alle der toboggan im Vergnügungsteil der Ausstellung. Der Eintritt in diesen Bereich war zwar unerschwinglich gewesen für die Familie, doch selbst das Zuschauen von der Umzäunung aus hatte Spass gemacht, fast so, als wären sie selbst dabei gewesen, wenn die Mutigen hoch oben auf dem Holzturm sich in den Kahn setzten und über die steile Rutschbahn in das Wasserbecken hinunterschossen. Das Wasser war in die Höhe gespritzt, und nicht nur die Teilnehmenden, auch alle Zuschauer rundherum, hatten laut gekreischt. Den Kleinen hatten sie ein Eis und den Besuch eines Figurentheaters versprechen müssen, um sie, nach mehrstündigem Aufenthalt auf dem Gelände, von dort wieder loszubekommen.

Auch an der Via Cavour war die Stimmung ausgelassen. Trommler und Trompeter zogen vorbei, Knappen in historischen Kostümen, Fahnenträger und Pferdekutschen mit den Amts- und Würdenträgern und ihren Begleitdamen. Dann endlich fuhr der himmelblau ausstaffierte Wagen vor, in dem die Auserwählte auf einem erhöhten Sitz sass, mit der Zweit- und Drittplatzierten an ihrer Seite. Aufrecht und stolz blickten die jungen Frauen in die Menge, lächelten selbstbewusst und winkten. Alle drei trugen kostbare Kleider aus glänzendem Seidensatin und hatten die Haare kunstvoll hochgesteckt. Mit einem schmucken Fächer, passend zum Farbton des Kleides, wedelten sie sich Luft zu.

Alma bewunderte den Mut der Frauen, sich so zu präsentieren. Sie selbst konnte sich nicht vorstellen, dort oben zu stehen. All diese Blicke, die einen durchbohrten, nein!

Marianna war begeistert von den eleganten Kleidern.

Rachele fand die principessa hochnäsig und ihre Nase zu lang. «Und schau, die hat Pausbacken wie ein kleines Mädchen», meinte sie.

«Genau wie du!» Marianna drehte den Kopf zu ihr und grinste.

«Macché! Ich habe keine Pausbacken!» Rachele runzelte die Stirn, und eine Furche bildete sich an ihrer Nasenwurzel.

«Und sie hat einen langen, zarten Hals!»

«Du meinst, sie ist eine Giraffe?», entgegnete Rachele spöttisch.

«Du Esel! »

«Hört doch auf! Mir gefällt sie auch», kam Alma Marianna zu Hilfe.

«Sie ist immerhin gross!» Das war Racheles Retourkutsche an die Adresse der klein gewachsenen Marianna, die ihr postwendend den Ellbogen in die Seite stiess. Rachele und Alma brachen in helles Lachen aus.

«Wenn das genügt, hätte ja auch Angela mitmachen können», meinte Marianna trocken, und die anderen lachten nochmals laut heraus.

«Unsere sportliche ciociara mit ihren feministischen Prinzipien! Schade, wollte sie nicht mitkommen!», meinte Rachele.

Alma bewunderte Angela, ihre ehemalige Mitschülerin, die sich seit dem Umzug ihrer Eltern in die Stadt standhaft und erfolgreich geweigert hatte, den Sommer bei den Verwandten auf dem Land zu verbringen. Nie wieder Magd sein, hatte sie verkündet. Zur selbstsüchtigen Grossmutter, die sie nur ausnützte, nein! Und nie wieder ihrem bornierten Onkel die Schuhe auf Hochglanz polieren!

Als die Glocken des campanile halb acht Uhr schlugen, verabschiedete sich Alma eilig von ihren Freundinnen. Sie hätte schon längst zu Hause sein müssen, um Nazzarena beim Zubereiten des Abendessens zu helfen. Wenn Vater ihre Verspätung bemerkte, würde es ein Donnerwetter absetzen. Alma rannte, so schnell sie konnte.

XVII

«Al sgarbis, al sgarbis!», schrie Tiziano ihr von der Kasse her zu. Doch bevor sie begriff, hatte der Mann das Brot von der Theke genommen, eine Flasche Wein gepackt und war weg gewesen. Tiziano schimpfte mit ihr, weil sie einem notorischen Dieb auf den Leim gegangen war. Sie hätte es wissen müssen, doch sie war in Gedanken versunken gewesen.

«Ich hab dich doch gewarnt!»

«Was hast du mir gesagt?» Erschrocken blickte Alma Tiziano an. Sie verstand den Jargon der Bäckersleute nicht, dieses furchtbare Kauderwelsch aus alten Puschlaver Dialektbrocken und römischer Mundart!

«Diamine!»

Clemente kam ihr zu Hilfe. «Komm, ist schon gut. Pass das nächste Mal besser auf.»

Alma nickte kleinlaut.

«Al sgarbis heisst ‹er klaut›. Und frost heisst ‹Brot› und schirel ‹Wein›!», erklärte er ihr aufmunternd.

«Ohimè!», entfuhr es ihr erleichtert. «Ich muss jetzt.» Sie packte das Brotbündel und verliess den Laden, um vor dem Frühstück noch die Zeitungen zu besorgen.

Antonio bemerkte Almas Aufregung. Sie erzählte ihm von ihrem Missgeschick, und sie lachten. Und er erzählte ihr von der Universität, an der er Italienisch und Geschichte studierte, und davon, dass er sich mit dem Zeitungsverkauf und einigen Privatlektionen Leben und Studium finanziere. Ihm gefiel ihr Quartier, weil viele Strassen nach berühmten italienischen Künstlern benannt waren. «Ihr habt eine Piazza Dante, die Via Petrarca und den Viale Manzoni, die Via Leonardo da Vinci, Buonarroti, Galilei und Machiavelli! Kennst du sie?», fragte er begeistert.

«Ja, in der Schule habe ich I promessi sposi von Manzoni gelesen, gefällt dir die Geschichte?», antwortete Alma interessiert.

Jeden Morgen hoffte sie sehnlichst, dass Antonio die Via Merulana mit den Zeitungen bediente. Jeden Tag hatte sie neue Fragen bereit, und es gelang ihr von Mal zu Mal besser, ihre grosse Schüchternheit zu überwinden.

«Erzähl mir von Foscolo, Leopardi und Ferruccio! Mich nimmt wunder, wer Tasso, Alfieri und Botta waren. Kannst du in deinen Büchern nachlesen, was sie geschrieben haben?»

Und beim nächsten Mal berichtete ihr Antonio, was er herausgefunden hatte. Dazwischen kommentierte er die Schlagzeilen, ereiferte sich über Giolitti, den zu geduldigen Ministerpräsidenten, die Streiks der Fabrikarbeiter im Norden des Landes und die Rückständigkeit des Mezzogiorno. Er beschrieb ihr die Entwicklung in den italienischen Kolonien Ostafrikas und den Konflikt mit dem Osmanischen Reich, der Anfang Oktober mit dem Beschuss der Stadt Tripolis begonnen hatte.

Während Antonio sprach, gab er mit flinken Fingern Zeitung um Zeitung heraus und steckte die Fünfer ein.

Alma stand daneben und hörte fasziniert zu. Nach einer Weile eilte sie dann die Via Merulana hinauf mit dem Brotbündel in der einen Hand, die Zeitungen unter den Arm geklemmt, mit der anderen Hand die Haarsträhnen richtend. Sie fühlte die Röte im Gesicht, und den ganzen Tag über trug sie Antonios dunklen, leuchtenden Blick mit sich. Jede Begegnung mit ihm wurde zum Lichtblick des Tages, die sie mindestens für Momente die schreckliche Krankheit des Vaters und die drohende Rückkehr ins Puschlav vergessen liess.

Doch das Gefühl der Leichtigkeit zerbarst, sobald sie die Wohnung betrat und Vaters dünne, zerbrechliche Gestalt am Esstisch sitzen sah und Nazzarena, die angespannt Kaffee, Milch und Kakao auftischte.

XVIII

Die Schule begann Anfang Oktober. Aufgeregt stürmten Almas Geschwister in den Laden und zeigten sich stolz in ihren Schuluniformen. Alma verabschiedete eine Kundin und fragte dann Attilio, der mittlerweile die letzte Klasse der elementari besuchte, ob er den Weg noch kenne.

«Ma certo! Was denkst du denn!», antwortete Attilio, der sich für den ersten Schultag noch mehr als sonst herausgeputzt hatte. «Palazzo Brancaccio, Via Giovanni Lanza hinunter, die Via Cavour überqueren und dann hinauf in Richtung Madonna dei Monti. Ganz einfach!»

«Geht jetzt, ihr seid spät dran!» Alma tat beeindruckt, lachte und strich Giacomo, der mit den Tränen kämpfte, über die Haare. Attilio nahm Giacomos Hand und mit den schweren Schultornistern auf dem Rücken und den Verpflegungsbündeln in der anderen Hand rannten die beiden die Via Merulana hinauf. Mittags bekamen sie Suppe, für den Rest des Tages musste das reichen, was Nazzarena ihnen mitgegeben hatte.

Auch der kleine Pietro, der schon längst lesen und schreiben konnte, strahlte. Endlich durfte er den Kindergarten besuchen! Die Nonnen werden bestimmt entzückt sein über den gescheiten Bub mit dem Engelsgesicht, dachte Alma. Sie beneidete die Geschwister dafür, dass sie noch zur Schule gehen durften.

Wie vermisste sie den Unterricht! Vor zwei Jahren hatte sie die complementari beendet. Zu ihrem grossen Bedauern war danach keine Rede davon gewesen, in das ginnasio überzutreten oder die Ausbildung zur Lehrerin zu absolvieren. Für Vater war das nicht in Frage gekommen, und ihre bange Frage hatte er damit abgetan, dass auch keine ihrer Freundinnen weiter zur Schule gehe. Ausser Angela, aber die sei ja ohnehin nicht ganz normal. Alma könne bei der Buchhaltung mithelfen, das habe sie ja gelernt. Ausgerechnet!, hatte Alma damals gedacht und seither keinen Schritt in das Buchhaltungszimmer mehr gemacht. Dann doch lieber die Geschwister hüten oder Wäsche waschen.

«Ciao, ciao!» Irene und Pietro drehten sich um und winkten.

Alma stand auf der Türschwelle des forno und sah ihnen nach. Mutter begleitete die beiden über die Strasse zum Istituto delle figlie di Sant’Anna an der Ecke zur Via Buonarroti. Das Institut, in dem auch Alma zur Schule gegangen war, befand sich in einem unscheinbaren Gebäude, in dessen Erdgeschoss ein Barbier und ein Stoffhändler ihre Geschäfte führten. Daneben war das Haushaltgeschäft der beiden älteren Damen.

Alma erinnerte sich an den Innenhof mit dem mit Mosaiken ausgelegten Fussboden, dem plätschernden Brunnen, dem purpurn blühenden Oleander und den Palmen, in deren Schatten sie die Pausen verbracht hatten. Wenn man Glück hatte, ging das Klassenzimmer auf die Via Merulana. Von dort waren die Geräusche der Strasse heraufgedrungen, und man hatte sich ausgemalt, was unten gerade los war. Doch wehe, wenn die Lehrerin eine Schülerin erwischt hatte, die nicht zuhörte! Erbarmungslos waren sie zurechtgewiesen worden. Die Schulzimmer zur Via Buonarroti hingegen hatten als langweilig gegolten, denn dort war nur das Hämmern des Steinhauers aus der Via Giusti zu hören gewesen.

Irene besuchte, wie in ihrem Alter auch Alma, die complementari. Diese Schulkurse sollten die Schülerinnen auf ihre Rolle als Mutter und Erzieherin, Hausfrau und Vorgesetzte vorbereiten. Im Laufe der Schuljahre hatte Alma mit Rachele und Marianna Freundschaft geschlossen. Und auch mit Rosa, der Tochter des Grysmayrs, eines österreichischen Pferdehalters. Ihr Schulweg war so kurz gewesen, dass die Freundinnen schon als kleine Mädchen um einen zusätzlichen Häuserblock herumgegangen waren, um nicht gleich nach Hause zurückkehren zu müssen. Später, in den oberen Klassen, mit vierzehn oder fünfzehn Jahren, waren sie regelmässig durch das Quartier gestreift. Oft hatten sie den Hof von Rosas Vater aufgesucht. Dort, im unteren Teil der Via Merulana, in der Nähe des Stadttors, hatte der Grysmayr die Pferde der Aristokraten, die an Turnieren geritten wurden, in Pension. Rosa hatte heimlich für den Stalljungen geschwärmt, der Tag für Tag die Pferdeboxen reinigte, und Rachele für den Sohn eines reichen römischen Bankdirektors. Kichernd hatten sie jeweils beobachtet, wie der eine das Pferd sattelte, mit dem der andere ausritt. Für Alma hatte es dort viel zu sehr nach Mist gestunken.

Dem Schulunterricht war stets ein Gottesdienst vorausgegangen. Alma sah sich kniend die Kommunion empfangen. In der Schuluniform, dem knöchellangen, dunkelblauen Rock und der weissen Bluse mit den langen Ärmeln. Dann der Marsch durch die langen, düsteren Korridore. Der Nonne nach, deren energische Schritte das schwarze Ordenskleid zum Rauschen brachten. Alma erinnerte sich an den strengen Geruch der Schulzimmer, ein Gemisch aus Seife und öligem Harz, der einem den Atem nahm. An die Leibesübungen bei aufgesperrtem Fenster. Arme nach oben, zur Seite, Rücken dehnen, andere Seite, und ja immer den Rücken gerade halten. Einatmen, ausatmen. Setzen. Gerade sitzen! Fenster schliessen!

Und dann die Strafen! Bei jedem Flüstern eine Kopfnuss, bei jedem gekrümmten Rücken, auch wenn er vom langen Sitzen schmerzte, für den Rest der Stunde vor die Klasse stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und abends den verpassten Schulstoff zu Hause nachholen! Unangenehm, dennoch, mit Ausnahme der zum Gähnen langweiligen Näh- und Sticklektionen, hatte Alma den Unterricht sehr gemocht. Allem voran ihre Lieblingsfächer Geografie und französische Konversation. Aber auch Italienisch, Religion und Moral, Arithmetik und Kalligrafie. Am allerliebsten hatte sie in der kleinen, institutseigenen Schulbibliothek nach Liebesgeschichten gestöbert, die es allerdings fast nur auf Französisch gab, und nach Reiseberichten und Büchern über fremde Länder.

Mutter, Irene und Pietro verschwanden um die Ecke. Die Schulkinder würden erst am Nachmittag wieder zu Hause eintreffen, Mutter würde dann in den Laden eilen, und Alma müsste, wenn man sie dort nicht mehr brauchte, bei den Hausaufgaben helfen und danach mit den Geschwistern nach draussen spielen gehen.

Alma trat wieder in den Laden, froh, vorerst ihre Ruhe zu haben. Im Vergleich zu den anderen war der daheimgebliebene Folco, wenn er allein war, ein Engel, und Romeo, der von der Backstube heraus «Tizio matto, mizio matto – Tiziano, du Spinner» in Richtung Kasse rief, um seinen Vetter zu ärgern, harmlos. Tiziano spielte den Beleidigten, und Romeo und Alma lachten. Dann kehrte sie hinter die Ladentheke zurück.

XIX

«Ich mag nicht mehr!», maulte Pietro und liess sich zu Boden fallen.

Irene, die seine Hand hielt, riss er mit, und sie hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. «Aò, was soll das?»

Es war Abend, und sie kamen von der Piazza Santa Maria Maggiore zurück. Dort hatten die Devotionalienhändler ihre Madonnen- und Heiligenbildchen, die Kruzifixe und Rosenkränze, die sie Pilgern und Reisenden feilboten, zusammengepackt, und die Bildertrödler ihre Landschaftsaquarelle und Kupferstiche auf ihren Karren verstaut. Geblieben waren die Schuhputzer mit ihren Holzkästen und die ciociari hinter ihren lottrigen Röstöfen.

Alma mochte den rauchigen Duft der caldarroste, der in der Luft hing.

«Ich hab Hunger, und es ist noch so weit!», schimpfte Pietro, und auch Folco begann zu jammern: «Ich mag auch nicht mehr, trag mich! Bitte!»

«Aò! Spinnt ihr? Steh sofort auf, Pietro!», befahl Alma bestimmt. «Die wenigen Meter! Gerade noch seid ihr herumgerannt wie eine Fussballmannschaft! Forza – los, hopp!»

«Mannaggia, komm jetzt!», ahmte Irene Alma nach und zog Pietro am Arm hoch.

Dieser setzte eine wehleidige Miene auf und verfiel in einen marionettenhaften Gang.

Alma hob genervt die Augenbrauen. Sie steuerte auf das Schaufenster des Kleidergeschäfts gegenüber der Basilika zu, die Kleinen schauten sich nach den Kutschen um und traten mit den Schuhen gegen die Pferdeäpfel, die auf der Strasse zurückgeblieben waren. Der tabaccaio stand im Türrahmen seines Tabakladens, umringt von Zigaretten rauchenden Herren. Aus dem Coiffeursalon daneben kam eine Dame, umhüllt von einer Wolke würzigen Parfums. Arbeiter in durchgeschwitzten Hemden kletterten aus einem Strassengraben, wo sie Rohre verlegt hatten, einige Arbeiterinnen in abgetragenen Arbeitsröcken stiegen von einem hölzernen Gerüst, und Fabrikarbeiter mit Stoffbündeln über den Schultern überquerten schweren Schrittes die Piazza. Mit diesen staubbedeckten, hungrigen Heimkehrern machten die Schuhputzer und die ciociari einen nicht unbedeutenden Teil ihres Tagesgeschäfts.

Eine Tramway fuhr ächzend an ihnen vorbei, als Pietro plötzlich schrie: «Ein Automobil, ein Automobil! Schaut! Da kommt es!»

Auf einen Schlag war die Müdigkeit der Kleinen verflogen. Aufgeregt und mit leuchtenden Augen zeigten sie auf das schwarz glänzende Fahrzeug mit den Luftreifenrädern, den Laternenscheinwerfern und der Fahrerkabine mit dem Steuerrad. Es fuhr mit lärmigem Knattern die Via Giovanni Lanza hinauf, die von der Via Cavour zum Largo Brancaccio führte. Das Automobil hielt, der Fahrer stieg aus, öffnete die hintere Türe und half dem alten principe aus dem Fond. Der stützte sich mit der behandschuhten Hand auf einen Spazierstock, machte einen unsicheren Schritt auf das Trittbrett, einen weiteren auf den Boden.

Pietro und Folco starrten gebannt zu ihm. Giacomo klammerte sich an Almas Rock. Alma konnte sich noch an Missis Field erinnern, die Ehefrau des principe, die vor wenigen Jahren gestorben war. Sie hatte sie regelmässig in das Automobil steigen und wegfahren sehen. Man hatte erzählt, dass sie sich zum Corso und in die Via del Tritone fahren liess. Dort, beim angesagtesten Schneider der Stadt, habe sie ihre Garderobe anfertigen lassen, und nur in den teuersten Läden habe sie ihren extravaganten Schmuck eingekauft. Nicht nur der kurze Treppenaufgang zum säulenumrahmten Hauptportal des Palazzo Brancaccio war ihre Bühne gewesen. Regelmässig hatte sie in den angeblich prächtigen Sälen des Palazzo grandiose Empfänge gegeben. Dann waren die Damen und Herren der Aristokratie in Heerscharen in die Via Merulana geströmt. Missis Field kam aus Amerika, was sie jedem erzählte, der ihr begegnete, und ihr überschwängliches «Hellou» hatte selbst dann noch durch die Strasse geklungen, als ihre Kräfte mit dem Fortgang ihrer Krankheit sichtbar und rasch nachgelassen hatten.

Der principe verschwand in der Eingangshalle, die Bediensteten entluden das Fahrzeug.

«Wisst ihr, dass die Frau des Prinzen aus Amerika kam? Aus New York?» Alma hatte den Globus im salottino studiert und darauf die Geburtsstadt der principessa gefunden.

«Ah!», staunte Folco.

«Ja klar, weiss ich das! Aber wo ist Amerika?», wollte Pietro wissen.

«Das ist auf der anderen Seite des Ozeans», erklärte Giacomo.

«Ja, richtig, Giacomo. Und man kommt nur mit dem Schiff dorthin und ist mindestens drei Wochen unterwegs», fügte Alma bei.

«Mit einem grossen Schiff?», fragte Folco mit glänzenden Augen. «So gross wie dieses Haus?»

«Ja, mindestens!»

«Dorthin möchte ich gehen!», erklärte Pietro bestimmt.

«Aber die Leute sprechen Englisch dort, da wirst du nichts verstehen, gar nichts!»

«Dann lerne ich eben Englisch! Na also, wenn ich gross bin, fahre ich nach Nujork!», rief er laut und hob die Arme gegen den Himmel, um zu zeigen, wie gross er sein würde, wenn er nach Amerika reiste.

«Ich will auch mit dem Schiff fahren, ich bin dann der Kapitän!», ereiferte sich Folco.

«Toll!», fand Irene spöttisch, und Alma zerzauste dem jüngsten Bruder den dunkelblonden Haarschopf.

Giacomo meinte trocken, er würde bleiben, damit Mutter nicht allein wäre, wenn alle weggingen. Pietro rüttelte an den Stäben des schmiedeeisernen Tors zwischen dem Palazzo und dem monte, der Lehmaufschüttung entlang der Via Mecenate, hinter dem sich die ausgedehnte Gartenanlage erstreckte. Am Zaun rankte Jasmin. Die weissen Blüten verströmten einen aufdringlich süssen Duft. Fiori d’angelo – Engelsblumen. Auf dem monte wuchsen buschige Silberpappeln, dahinter schossen säulenförmige, schwarzgrüne Zypressen und hohe pini marittimi – Meerkiefern – mit ihren eiförmigen Nadelwolken in die Höhe. Von aussen konnte man vor lauter Grün nichts erkennen.

«Seid einmal still, und spitzt die Ohren!»

Die Kleinen drückten die Ohren zwischen die Eisenstäbe.

«Hört ihr das Plätschern des Wassers?»

«Jaa!»

«Da drinnen ist ein Springbrunnen.»

«Warum können wir nicht hineingehen?», fragte Folco.

«Ja, und auch ein Jagdhaus. Das weiss ich schon lang. Das habe ich vom Dach unseres Hauses aus gesehen!», brummte Pietro und rannte davon zum Eingang der Bar.

Strassenkehrer fegten den Gehsteig zwischen den jungen, von Holzpfählen gestützten Platanen. Auf dem Platz vor der Bar verkaufte sor Augusto die Abendzeitungen. Er war aufgebracht. Offenbar hatten es die frecheren der Quartierkinder wieder einmal zu bunt getrieben mit ihm. Keine dummen Bemerkungen heute, dachte Alma erleichtert und wollte schon an ihm vorbeigehen, als er ihr zurief. Sie winkte ab, doch er hielt ihr etwas hin.

«Für das Fräulein, vom Geliebten!», bemerkte er ungehalten, und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

Alma schnappte sich den Zettel, wandte sich rasch ab und folgte den Kleinen in die Bar. Rauch und Erregung nahmen ihr den Atem. An den Holztischen hockten Männer mit Wein- und Schnapsgläsern vor sich. Die einen kauten Tabak, die anderen hielten eine Zigarette zwischen den Fingern. Einige lehnten am Tresen. An der Holzwand dahinter hing ein goldgerahmter Spiegel.

Hinter dem Tresen stand einer der Kellner mit einer weissen Serviette über dem Unterarm. Links von ihm war die Kasse mit den grossen Knöpfen und Tasten, rechts die Tür zum Laden. Energisch schob er die Kinder in Richtung Bäckerei. Eigentlich waren Bar und forno tabu für sie, doch das kümmerte sie wenig.

Alma fühlte das Papier in ihrer Hand. Was war das? Von Antonio ? Sie musste es wissen, bevor Mutter sie sah. Sie faltete den Zettel mit zittrigen Fingern auseinander. «Morgen. Siebzehn Uhr. Bei den Trajansthermen. Kommst du?», las sie. Darunter in Grossbuchstaben «Antonio». Ihr wurde heiss. Sie liess den Zettel in ihrer Rocktasche verschwinden. Wie sollte sie das bloss anstellen? Wenn nur sor Augusto sein Maul hielt!

Der Laden war voller Kunden. Lärm und ein strenger Geruch nach Schweiss, Rauch und Brot schwappten ihr entgegen.

Mutter dirigierte die Kleinen zum Laden hinaus. «Geht hinauf, Attilio hat ein neues Heft von Senza Famiglia.»

Giacomo und Pietro machten Luftsprünge und verschwanden sofort, sie liebten die Abenteuergeschichten von Malot.

Folco verzog das Gesicht. «Ich will aber Bilbolbul hören!»

«Dann frag Irene. Vielleicht liest sie dir aus dem Corriere dei Piccoli vor.»

«Mannaggia, nicht schon wieder das Negerlein!», wehrte Irene ab und äffte mit den Händen nach, wie Bilbolbul die Augen aus den Augenhöhlen heraus- und zurückspickten.

«Alma, kommst du?», rief Mutter.

Clemente zerrte einen schweren, braunen Sack voll Reis zur Theke, wo bereits der mit Pasta gefüllte Sack stand.

Alma seufzte, anstatt Getreide und Teigwaren abzufüllen, hätte sie jetzt viel lieber Rachele aufgesucht oder sich in ihr Zimmer verkrochen, um von dem jungen Mann mit dem Strohhut und den dunklen Augen zu träumen. Bis sie sich beruhigt hätte. Dann würde auch sie sich in das Buch vertiefen, das sie gerade am Lesen war, einen Liebesroman aus der Buchreihe für junge Fräulein. Und, kam ihr in den Sinn, sie hatte die neue Folge des Fortsetzungsromans auf Seite drei der Tageszeitung noch nicht gelesen.

Clemente schleppte einen Kanister Olivenöl herbei, stellte ihn ab und verschnaufte. Mutter bediente, Tiziano sass an der Kasse.

Alma schaute zur Kundin, die sich an die Ladentheke drängte. Sie schien ihr Meilen entfernt. Dann gab sie sich einen Ruck und fragte mit höflicher Miene, was sie wünsche.

Auf einmal entdeckte Alma Angela, die an der Tür stand und wild gestikulierte. Ihre schräg stehenden, dunklen Augen blickten unternehmungslustig, die schwarzen Haarlocken schaukelten in alle Richtungen. Almas Gesichtszüge hellten sich auf.

«Alma, komm schon!», rief sie aufgeregt.

«Ich kann jetzt nicht», bedeutete ihr Alma.

«Ich bin mit dem Fahrrad da!»

«Mit der bicicletta von signorina Balducci?» Alma schmunzelte.

Die signorina Balducci war eine gepflegte ältere Dame, die allein an der Via di Olmata, einer kurzen Gasse gegenüber von Santa Maria Maggiore, wohnte, im gleichen Wohnblock wie Angela. Man erzählte sich, dass sie früher einmal eine attraktive Frau gewesen und täglich auf dem Fahrrad mit wehenden Röcken und unter dem Kinn fest gebundenem Hut zur Arbeit auf der Zentralpost an der Piazza San Silvestro gefahren sei. Seit sie nicht mehr arbeitstätig war, hatte man sie manchmal mit Freundinnen in die Campagna ausfahren sehen. Aber eines Tages war sie gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen. Seither hinkte sie mit dem Gehstock durch die Strasse, und das Zweirad stand unbenutzt im schmutzigen Innenhof des Wohnhauses. Es war, als habe der Unfall auch ihre Seele geknickt, denn sie war alt und müde geworden. Angela bewunderte die einst so temperamentvolle Frau und hatte sich anerboten, für sie die Besorgungen in der Stadt zu machen. Dafür hatte signorina Balducci ihr erlaubt, das Fahrrad zu benutzen. Nun stand es vor dem forno an die Wand gelehnt. Grasgrün, mit tiefem Einstieg und sandfarbenem Schriftzug.

«Dai, komm schon. Setz dich auch wieder einmal drauf!»

Es war nicht das erste Mal, dass Angela mit dem Fahrrad von signorina Balducci aufkreuzte, um auch Alma fahren zu lassen.

«Heute nicht!»

«Alma, du solltest öfter üben! Sei nicht immer so übertrieben vorsichtig!» Angela stemmte ihre Fäuste in die Hüfte.

«Schau, der Laden ist voll, heute geht es wirklich nicht! Aber hör mal, tust du mir einen Gefallen?» Alma hatte einen Geistesblitz. «Kommst du morgen nochmals? Etwas vor siebzehn Uhr? Bitte!», bat sie eindringlich.

Angela sah die Röte in Almas Gesicht und packte sie an den Schultern. «Ja klar, wenn du mir sagst, wer der Auserwählte ist?»

«Das erzähle ich dir morgen. Ciao, ich muss jetzt! Komm und hol dein Brot!»

Aufgeregt kehrte Alma hinter die Ladentheke zurück, wickelte ein kleines Weissbrot in Angelas Einkaufsbündel und schob die Freundin hastig zur Kasse. Diese bezahlte achtunddreissig centesimi und blickte augenzwinkernd zur Freundin zurück.

Alma sah die sportliche Gestalt mit den wilden schwarzen Locken, die sich selbstbewusst auf das grasgrüne Fahrrad setzte und davonpedalte. Alma schaute weder nach links noch nach rechts, um sich nichts anmerken zu lassen, tat einen tiefen Atemzug und spürte, wie ihr Blut schnell pulsierte. Sie war zugleich glücklich und verwirrt.

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