Kitabı oku: «Sie über sich», sayfa 5
2.3. Der Zusammenbruch des „Schriftprinzips“
Luthers Ersetzung des Lehramtes durch die Schrift wird hinterfragt. Es liegt eine gewisse Tragik in der Erkenntnis, dass gerade die nachdrückliche Betonung und ausführliche Begründung der Schriftautorität durch die Orthodoxie bereits den Keim ihres Endes in sich trug, da jede „ausdrückliche Inanspruchnahme von Autorität stets ein gefährliches Manöver“1 darstellt. Denn die explizite Betonung der Autorität „irritiert die Routine“,2 die zur ungestörten und oft unbemerkten Ausübung von Autorität nötig ist. Im Regelfall lädt die Betonung von Autorität zu deren Überprüfung ein, was oft genug zum Nachteil der nun ausdrücklich geforderten, also nicht mehr fraglos akzeptierten Autorität ausfällt.3 Diese allgemeine Erkenntnis schlägt durch die Aufklärung auf die Anerkennung der Schriftautorität durch und die einzelnen Argumente, die sie eigentlich absichern sollten, fallen dahin. Das Schriftprinzip wird durch die von der Schriftautorität emanzipierte Vernunft der Aufklärung überprüft.4
Die Aufklärung, zu deren Idealen „die Bevorzugung der menschlichen Vernunft als höchster Autorität, der Toleranz als höchster Tugend und des Glaubens an Fortschritt und Höherentwicklung in allen Bereichen als beste Philosophie, dazu die Skepsis gegen alles Geheimnisvolle und Übernatürliche“5 gehören, gebiert die historisch-kritische Methode und diese Methode hat Folgen für das Schriftprinzip, was zunächst aber nicht in seiner ganzen Tragweite gesehen wird.6 So behauptet der Protestantismus deshalb „überwiegend die historisch-kritische Schriftauslegung als spezifisch neuzeitliche Gestalt des reformatorischen Schriftprinzips“7 und kommt so allmählich zu der Erkenntnis, dass die Methode letztlich das Prinzip zerstört: „Es ist die Methode der historischen Kritik, die das altprotestantische Schriftprinzip auflöste.“8
Das historische Bewusstsein wendet sich mit der menschlichen Vernunft als Kriterium der Wahrheitsfindung den biblischen Texten zu. Exegese und Dogmatik werden als eigenständige Disziplinen geboren.9 Fragen kommen auf, die das Lehrgebäude der Orthodoxie zum Einsturz bringen.10 Das beginnt mit grundlegenden Feststellungen, die die Text- und Kanonsentstehung beschreiben, geht weiter mit der Frage, ob die Wunder Jesu und schließlich seine Auferstehung wirklich stattgefunden haben können, konfrontiert die Schöpfungserzählungen der Genesis mit den aufkommenden Erkenntnissen der Naturwissenschaften und führt schließlich zu dem Urteil, dass selbst die Institution „Kirche“ hinterfragt werden muss.11 Die Emanzipation der Vernunft löst das Schriftprinzip auf, weil sie die ausgeführten Bestimmungen der altprotestantischen Orthodoxie erschüttert und letztlich widerlegt. Die „Heilige Schrift“ ist nicht in sich irrtumslos, klar und der Selbstauslegung genausowenig fähig wie jedes andere Buch.12 Sowohl die Glaubwürdigkeit der Schrift nach menschlichen (äußeren Vernunftkriterien) wie nach göttlichen (testimonium internum) Maßstäben wird „durch die moderne Bibel- und Religionskritik zum Einsturz gebracht.“13 Die „Schrift“ wird in historischer Perspektive zur „Bibel“ – je nach Standpunkt – befreit oder herabgestuft. Die historische Erforschung der Bibel kann ihren eigenen Prämissen nach in ihr keine Heilige Schrift an sich mehr erkennen.14 „Die Exegese emanzipiert sich von der Dogmatik; historische Forschung und dogmatische Geltungsansprüche treten auseinander.“15
Luthers emphatische Aufwertung der Schrift führt also „den Protestantismus in ein Dilemma“,16 das bislang nicht gelöst werden kann.17 „Der Geruch von Untergang ist in der Luft.“18 Die historische Methode hat eine „Grundlagenkrise heraufbeschworen“,19 die letztlich „die reformatorische Idee von der Eindeutigkeit der Schrift selbst aufgehoben“20 hat. Methodisch gewendet stellt sich die Frage: Wie verhält sich die profane Erforschung und Erklärung der biblischen Texte zu dem Postulat der Texte als „Heiliger Schrift“?21
3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive
3.1. Die evangelische Perspektive
Die moderne evangelische Dogmatik1 scheint sich mit der Frage nach der Autorität der Schrift ungleich schwerer zu tun als die römisch-katholische Theologie.2 Dies ist verständlich, da in der evangelischen Tradition – wie gesehen im Gegensatz zur römisch-katholischen Position – durch die Aufklärung die beschriebene empfindliche Lücke im theologischen Erkenntniszirkel entstanden ist. Diese „fundamentaltheologische Dauerkrise“3 führt die evangelische Theologie in besonderer Weise zur Frage, „warum es die Schrift ist, die ausgelegt werden soll“4 und Autorität beanspruchen darf.
Im Folgenden soll die evangelische Diskussion zu dieser Frage umrissen werden. Dabei wird zunächst ein kirchenamtliches Dokument vorgestellt, danach die Antwort im Kontext eines dogmatischen Lehrbuches wiedergegeben, das repräsentativ für die evangelische Glaubenslehre sein soll, und zuletzt die aktuelle Diskussion skizziert.
3.1.1. Der Katechismus der VELKD
2010 erschien die 8. Auflage des Evangelischen Erwachsenenkatechismus (EEK). Im ersten Kapitel, das dem Thema „Gott“ gewidmet ist, beschäftigt sich der EEK auf knapp 30 Seiten mit der Bibel. Nachdem das Entstehen der Bibel kurz dargestellt und dabei betont wurde, dass biblische Überlieferung „wesentlich mündlich“1 sei, führt der EEK aus, wie die von ihm recht unvermittelt behauptete „Inspiration der Schrift“ zu verstehen sei: „Ein Mensch ist von der Gegenwart Gottes, wie sie sich in Jesus Christus zeigt, so ergriffen, dass sein Schreiben und Reden ganz davon bestimmt sind.“2 Welche Konsequenzen diese Bestimmung für das Alte Testament bzw. dessen Autoren hat, – sind diese auch von Christus ergriffen? – führt der EEK nicht aus. Vielmehr klärt er, dass die Bibel Wort Gottes sein kann, wenn sie dazu für den einzelnen Menschen wird.3 Nach dieser recht knappen Besinnung auf die Bibel folgt ein Nachdenken über den Kanon, in dem exegetische Einsichten, z.B. die Zwei-Quellen-Theorie verarbeitet werden. Allerdings stellt der EEK fest, dass die kritische Erforschung der Bibel zwar eine wichtige, nämlich der Kirche dienende Funktion hat, dass sich aber die „Wahrheit der Bibel […] in ihrem Gebrauch“4 erschließt. Im Vergleich zur katholischen Diskussion, wo das Verhältnis von Schriftautorität und kirchlicher Auslegungsvollmacht deutlich diskutiert wird, stellt der EEK sehr knapp fest, dass sich die Kirche als „Auslegungsgemeinschaft“5 versteht. Er bestimmt allerdings nicht näher, wer in dieser Gemeinschaft letztlich über die normative Auslegung der Bibel entscheidet. Selbst unter den Ausführungen zum Amtsverständnis findet sich diesbezüglich wenig. Allenfalls die Einlassungen zum Predigtamt könnten so verstanden werden, dass zumindest das Bischofsamt, das in lutherischer Perspektive auch lediglich das „eine Amt der öffentlichen Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung“6 ist, hier eine besondere Rolle spielen kann, da in diesem Amt die Leitung einer Kirche besonders zu Tage tritt.7 Explizit geht der EEK aber auf das Thema der normativen Schriftauslegung und der dazu nötigen Autorität nicht ein.
3.1.2. Eine exemplarische Position der evangelischen Dogmatik: Wilfried Härle
Profiliert und einflussreich (und über den EEK hinausgehend) dürfte im Rahmen der gegenwärtigen evangelischen Theoriebildung die Position Wilfried Härles sein, die anhand der Ausführungen in seiner „Dogmatik“ skizziert werden soll.1
Härle hält dabei Einsichten der altprotestantischen Orthodoxie fest, wenn er der Bibel die auctoritas causativa und normativa zuweist.2 Er stellt fest: „Die primäre Autorität der Bibel besteht also darin, daß sie Menschen so anspricht, daß sie in ihnen Glauben weckt.“3 Diese Bestimmung der Autorität fällt zusammen mit der „efficacia“-Eigenschaft der Schrift und wird letztlich durch das Zeugnis des Geistes beglaubigt. Indem sich die Schrift also selbst als Gottes Wort dem Menschen imponiert, kommt ihr auch eine normative Kraft zu. Diese Autorität gewinnt die Schrift aber nur, wenn sie als Zeugnis der Offenbarung Gottes verstanden wird, einer Vergöttlichung der Schrift also gewehrt wird. Härle bestimmt die Zuverlässigkeit der Schrift dabei nicht als vollkommene Irrtumslosigkeit, sondern bezieht sie auf die „Gesamtheit der Bibel“, in der „das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens so enthalten [ist], daß es vollständig […] aus ihr gewonnen werden kann.“4 Für Härle setzt die Begründung der Bibelautorität drei Einsichten voraus: „Der Kanon der biblischen Schriften besitzt für den christlichen Glauben Autorität, und zwar sogar in zweifacher Hinsicht, nämlich als Glaubensgewißheit bewirkende und als die Lehre normierende Autorität. Zweitens: Die Autorität wird der Bibel nicht durch eine externe, übergeordnete Instanz beigelegt, sondern durch sie selbst beansprucht. Drittens: Durch ihre verursachende Autorität bringt die Bibel sich in ihrer normierenden Autorität zu Geltung.“5 Diese Autorität wird letztlich durch den Bezug zur grundlegenden Offenbarung Gottes in Christus gewonnen. Einmal durch Sicherung der Ursprungserinnerung: „Um der grundlegenden Bedeutung der Offenbarung willen sucht die Gemeinschaft der Glaubenden also die ursprünglichsten (ältesten und vermutlich authentischsten) Offenbarungszeugnisse zu sichern und erkennt ihnen um ihrer Nähe zum Offenbarungsereignis willen normative Autorität zu.“6 Dieser Bezug zur Offenbarung wird noch deutlicher, wenn Härle den Inhalt der Bibel als Begründung heranzieht: „Weil und sofern die Bibel die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus bezeugt, hat sie Autorität, ja partizipiert sie an der Autorität der Christusoffenbarung.“7 Als hermeneutischer Schlüssel zur Bibel kehrt hier das christologische Kriterium wieder, das Luther mit „was Christum treibet“ umrissen hat. Dies führt Härle aus, wenn er die kritische Funktion der Schrift im Anschluss an Luther bestimmt: „Weil die Schriftautorität aus der Christusoffenbarung abgeleitet ist, darum ist das, was Christus treibt, zugleich der kritische Maßstab, an dem sich die einzelnen Aussagen der Schrift und die einzelnen biblischen Schriften auf ihre Christusgemäßheit hin messen lassen müssen.“8 Dieses Kriterium wird von Härle auch dazu verwandt, der Inspirationslehre zu einem gewissen Recht zu verhelfen. In Abkehr der traditionellen Inspirationslehre versteht er unter „Realinspiration“ „die Wirkung der durch die Selbsterschließung Gottes (in Jesus Christus) erfolgenden und durch das Wirken des Heiligen Geistes beglaubigten Mitteilung des Offenbarungsgehaltes“.9 Von der Wirkung des Geistes her sieht er „göttliche Inspiration“ überall dort geschehen, „wo Glaubensgewißheit entsteht.“10 Inspiration wird damit nicht nur auf die biblischen Autoren eingeschränkt, sondern prinzipiell auf alle Glaubens- und Offenbarungsgeschehnisse ausgedehnt. Inspiration ist also zu verstehen als „ein Akt […] der Indienstnahme menschlichen Fühlens, Denkens und Wollens durch und für die Bezeugung der Gottesoffenbarung. Alles – also auch die Worte – wird durch dieses Erschließungsgeschehen neu bestimmt, aber alles bleibt menschlich und deshalb mitbestimmt durch die […] Macht des Irrtums und des Bösen.“11 Mit diesem Verständnis von Inspiration öffnet Härle die Inspirationslehre für ein modernes Verständnis, indem er sie auf die Wirkung der Gottesoffenbarung bezieht und so der Schrift einen Bezugspunkt nennt, von dem her sie ihre Autorität gewinnt. Damit trifft er zwar ihre traditionelle Zielsetzung, also die Absicherung der Autorität, entkernt aber die eigentlichen Aussagen der altprotestantischen Orthodoxie. Allein die Ausweitung des Inspirationsbegriffs verwischt ja, dass die biblischen Texte in einem besonderen Maß inspiriert sein sollen, von dem her sie ihre Bedeutung beziehen.
Dies erkennt Härle an und fügt deshalb seinen Ausführungen das hermeneutische Prinzip an, das schon bei Luthers Schriftauslegung eine tragende Rolle spielte: „das, was Christum treibet“ im Gewand einer Bestimmung der „Mitte der Schrift“ als einer „Leitperspektive“12 der Schrift. Die „Tatsache der Kanonbildung selbst“13 ist für Härle ein Beleg dafür, dass es so eine „Mitte“ geben muss, um die herum sich die Schriften angliedern, die den Kanon bilden. Diese kann aber weder durch „das Aufspüren eines Kernbestandes an übereinstimmenden Aussagen“14 noch von „einer von der Bibel zu unterscheidenden, externen Auslegungsinstanz“15 bestimmt werden. Letztlich verteidigt und präzisiert Härle damit die Selbstregulierungskraft der Bibel hinsichtlich ihrer Auslegung, also das lutherische „sui ipsius interpres“, indem er Luthers Formel „was Christum treibet“ explizit übernimmt. Drei Vorzüge erkennt er darin: Erstens betone diese Formel, dass sich die Mitte der Schrift auf „einen Punkt“16 reduzieren lasse, da es „eine gemeinsame Aussageabsicht in der Bibel gibt“.17 Zweitens könne dieser eine Punkt mit Christus identifiziert werden, da die „Mitte der Schrift in dieser Person“18 zu sehen sei. Und drittens sei letztlich die Mitte durch diese Formel als ein „lebendiges Geschehen“19 zu charakterisieren, das sich im Vollzug der Predigt und der Schriftauslegung selbst ins Recht setze. Dass Luther seine Formel inhaltlich mit der paulinischen Rechtfertigungslehre in seiner eigenen Interpretation füllt, widerspricht nach Härle nicht der Formel an sich, sondern zeigt lediglich, dass verschiedene Interpretamente dieser Formel möglich sind und diese deshalb „auslegungsbedürftig und -fähig“20 ist. Hier geht Härle signifikant über Luthers Handhabung seiner eigenen Formel hinaus und wird deshalb notwendig unbestimmt, wenn es darum geht, die kritische Funktion der Schrift zu bestimmen, da ihm lediglich eine formale Mitte der Schrift geblieben ist. Diese formale Mitte besitzt nach seinen Ausführungen aber „eigentlich“ und „allein“ die normative Autorität,21 mit der sowohl die Lehren der Kirche als auch die biblischen Texte selbst beurteilt werden sollen. Letztlich bleibt bei ihm die Autorität der Schrift notwendig angewiesen auf einen „hermeneutisch reflektierten und kontrollierten Auslegungsprozess der biblischen Schriften, der nicht durch dogmatische oder bekenntnismäßige Vorgaben präjudiziert werden darf.“22
Dieser beeindruckende Entwurf ist in sich logisch geschlossen und widmet sich nahezu allen Problemen des Schriftprinzips. Dass ein gewisser Zirkel des Verstehens nicht ausgeschlossen werden kann, liegt wohl in der Natur der Sache begründet. Dies scheint aber nicht befriedigend, sodass Stimmen im Rahmen der evangelischen Konfessionsfamilie deutlich andere Positionen als Härle einnehmen. Diese sollen ebenfalls kurz berücksichtigt werden.
3.1.3. Weitere Positionen der evangelischen Diskussion
Die vielbeschworene „Krise des Schriftprinzips“1 führt dazu, dass es in der Gegenwart zuweilen schwierig erscheint, das Thema der Schrift und ihrer Autorität für das christliche Leben und die theologische Theoriebildung überhaupt in den Blick zu bekommen.2
3.1.3.1. Überblick
Eine konsequente, wenn auch deutlich mit der Tradition brechende Position bezieht Falk Wagner, wenn er das Schriftprinzip ganz aufhebt.1 Luthers Autoritätskonflikt um Schrift und Lehramt sieht Wagner als überholt an, da er abgelöst sei vom Konflikt zwischen Autorität und freier Vernunft an sich.2 Er prüft, inwieweit die Schrift vor dem Forum der Vernunft eine gewisse Autorität beanspruchen könne und kommt zu dem Ergebnis: „Der mit dem Schriftprinzip verbundene Autoritätsanspruch läßt sich unter der Bedingung der ihrer Selbständigkeit und Selbstätigkeit bewußt gewordenen Vernunft nicht länger ungebrochen aufrechterhalten.“3 Deshalb belege auch der faktische Gebrauch der Schrift im Blick auf dogmatische, ethische und sozialethische Themen, dass ihr keine normative Kraft mehr zugestanden werde.4 Überhaupt beruhe die Autorität auf einer falschen „Identifizierung des geschichtlichen Anfangs des Christentums mit seinem normativen Ursprung und Grund“5, da die damit postulierte „Reinheit des Ursprungs […] auf einer Fiktion“6 beruhe. Deshalb könne die Bedeutung der Schrift auch nicht „durch die raumzeitliche Nähe zum geschichtlichen Auftreten Jesu von Nazareth begründet“7 werden. Denn das grundlegende Bekenntnis der Christenheit, nämlich dass dieser Jesus von Nazareth der Christus sei, könne man „nicht auf das Zeugnis von Menschen begründen, die aufgrund ihrer raumzeitlichen Nähe zum Auftreten Jesu behaupten, dieser sei der Christus.“8 Wie genau eine Lehre von der Schrift bei Wagner vorstellbar ist, bleibt offen.9 Deutlich ist bei ihm nur, dass er die Schriften des Neuen Testaments – die kanonische Geltung des Alten Testaments kritisiert er – „nicht als Ursprung (geltender Grund) hypostasiert“10 sehen will, sondern dass bei ihm die „Sache des Christentums in ihrer Eigenbedeutung nur erfaßt werden kann durch einen Begriff der Sache selbst, nämlich durch die zunächst logisch-kategorialen Strukturen, von denen jeder Begriff der Sache immer schon implizit oder explizit Gebrauch macht.“11 Damit dreht er die Fragestellung der Lehre von der Schrift um: „Nicht die Bedeutung der Schrift für die systematische Theologie, sondern die Bedeutung der systematischen Theologie für die Schrift und ihre Auslegung steht zur Debatte.“12 Durch diese Verhältnisbestimmung ist die Schrift von der Systematik abhängig, die Autorität der Schrift für die theologische Theoriebildung somit aufgegeben.
Während die Frage nach der Schriftautorität als Grundprinzip der Theologie in älteren Dogmatiken im Eingang der Darstellung zu finden ist, kann die Bibel als „Bestand religiöser Schriften, in dem sich die konkrete Deutung Jesu im Zusammenhang seiner jüdischen Herkunftsgeschichte und seiner frühchristlichen Folgegeschichte findet,“13 aber auch in die Durchführung der Dogmatik eingezeichnet werden. Für Dietrich Korsch beruht die „Maßgeblichkeit der Bibel“14 z.B. dann allein auf ihrer Konzentration auf Jesus Christus und seiner Deutung. Als „Wort Gottes“ ist die Bibel aber nur auf einer bestimmten Stufe der Kommunikation des Evangeliums anzusehen, das sich auch in der Predigt vollzieht, und nur unter der Bedingung, dass Bibel nicht als „Aussagensammlung, sondern als Hörer und Leser erreichende Verkündigung wahrgenommen wird.“15 Eine erste Tendenz der modernen Dogmatik scheint es also zu sein, die Schriftlehre – im Gegensatz zur Position Härles – nicht eingehend zu diskutieren.
Neben diesen beiden Positionen, die die Autorität der Schrift entweder stillschweigend zu übergehen oder sie ganz aufzugeben suchen, kann sie auch empathisch aufgewertet werden, ohne sie dabei eigens gründlich zu diskutieren. Diese Aufwertung findet statt, wenn die Schrift als „Letztberufungsinstanz der Christen auf Erden“16 angesehen wird. Dies setzt aber bei Gerhard Sauter voraus, dass „die Bibel in der begründeten Annahme zu lesen [ist], daß Gott hier eingreift, das Wort ergreift.“17 Die Autorität der Bibel beruht dabei auf einem zuvor anerkannten „theologischen Begründungszusammenhang“,18 der letztlich ein Bekenntnis darstellt: „Wer Gottes Wort ,wählt‘, bekennt sich dazu, daß er hier in unvergleichlicher Weise angeredet wird.“19 Die Autorität der Schrift ist demnach abhängig von einem Bekenntnis und insofern durch die Annahme der Selbsterschließung Gottes im Bibelwort begründet, was wiederum der Sache nach dem Testimonium-Gedanken Calvins entspricht. Denn wie anders soll Gott das Wort ergreifen als durch den Geist?
Überblickt man also die Diskussion um das Schriftprinzip in der evangelischen Theologie, scheint man als Fazit ziehen zu können:
„Nicht wenige neuprotestantische Theologen haben sich daher geradezu mit Grauen von dieser Thematik abgewandt und auf die Entfaltung einer eigenständigen Schriftlehre ganz verzichtet. Produktive Darstellungen eines neuprotestantischen Schriftverständnisses, das die Einsichten aus dem Prozess der Entzauberung der biblischen Schriften aufnimmt und auf dieser Grundlage zu entfalten versucht, worin die Bedeutung und die Funktion der Bibel für die christliche Religion liegt, sind bedauerlicherweise Mangelware. […] Der Mangel an systematisch-theologischen Schriftlehren, welche den Veränderungen produktiv Rechnung tragen, die durch eine historisch-kritische Betrachtung und das Aufkommen des modernen Weltbildes hervorgerufen wurde, ist ein echtes Manko innerhalb der protestantischen Theologie. Durch diesen Mangel ist dem protestantischen Bibeldogma der Weg bereitet und damit die Bibel einem vormodernen Denken ausgeliefert. Zwischen dem historischen Verständnis der biblischen Schriften in den exegetischen Disziplinen und dem Bibeldogma klafft ein garstiger Graben.“20
Ganz so düster scheint die Lage allerdings nicht zu sein. Denn ein gewisser Konsens deutet sich in der Frage der Schriftautorität durchaus an. Offensichtlich wird dabei vor allem der Gedanke der Wirksamkeit der Schrift aufgegriffen.