Kitabı oku: «Memoiren einer Grossmutter, Band II», sayfa 2
Die Liebe war der ganzen Familie ein Teil, die Liebe, so auch der Bildung entraten kann. A. S.' ältere Schwester war zwar kein Kind der Moderne. Das alte jüdische Haus hatte sie erzogen zur Stille der Seele. Wie sie voller Gehorsam und Selbstverleugnung ihrer vielfordernden Mutter gegenüberstand, so innig zärtlich war sie zu ihren Stiefkindern. Sagt nicht die Volkslegende, daß der Platz der Stiefmutter im Paradiese leer steht? Ich glaube, er ist jetzt besetzt…
– Wie schnell die Zeiten wandern: man konnte diesen Zug mit überraschten Augen an den Brüdern des S.schen Hauses verfolgen.
Mußte der älteste noch um die Anerkennung der Aufklärung ringen, bei seinen jüngeren Brüdern galt die Beschäftigung mit der Bibel und dem Talmud nur noch als Zugabe zum neuen Programm. Sie wandten ihre ganze Mühe und ihren ganzen Fleiß meistenteils auf das Studium der fremden Sprachen2.
Ähnlich und doch anders war das Leben meines Bruders Ephraim geartet. Ich mag dieses Kapitel nicht schließen, ohne in wehmütiger Ergriffenheit noch zu sprechen von seinen Schicksalen, seinen Wanderungen und seinen – Wandlungen.
Mein Bruder Ephraim glich mehr meiner Mutter als unserm Vater. Der Vater war herbe und streng. Die Mutter war weich und schwärmerisch. Ihr hing er mit ganzer Seele an. Er war der einzige Sohn im Hause. Der Träger des Namens, der »Kaddisch«. Was Wunder, daß Vater und Mutter und wir Schwestern ihn alle verzogen! Der ernste Sinn meines Vaters führte ihn früh in die heiligen Hallen der Bibel ein. Er war noch nicht zehn Jahre, da kannte er schon einen großen Teil der fünf Bücher auswendig. In seinem elften Jahre war er im Gedankenkreise der Propheten heimisch. In ihrer Wucht, in ihrer Schwermut, in der Innigkeit und Größe ihrer religiösen Welt fand er seine geistige Nahrung. Und es war sein höchstes Entzücken, wenn er in der Synagoge den Prophetenabschnitt vorlesen konnte. In seiner wunderbaren Stimme lag die ganze Romantik eines schwärmerisch-seligen Knaben. Andächtig lauschten die Hörer. Aber mein Vater war voller Stolz, und die Gewißheit eines Erben seiner nationaljüdischen Überzeugung war in ihm. Als Ephraim zwölf Jahre wurde, erschloß sich ihm die Welt des Talmud. Nebenher aber lernte er die russische und deutsche Sprache und sang mit köstlicher Freudigkeit die Lieder der fremden Völker. Dabei war er durchaus kein Stubenhocker. Der Ernst seines Studiums hatte niemals die frohe Kindlichkeit verdrängt. Unter seinen jugendlichen Kameraden war er der lustigsten einer. Und voll purzelnder Einfälle war sein Spiel. Seine Laune konnte den Trübsten erheitern. Wie oft mußten wir Schwestern über ihn, mit ihm lachen! Schmollend böse und doch belustigt nannten wir ihn den »Köppeldreher«. Wirklich, er konnte jedem den Kopf verdrehen.
So wuchs er heran, zwar freier werdend in seiner Auffassung des Judentums. Denn dem Geiste der Lilienthalschen Epoche konnte sich eben kein junges Gemüt entziehen. Aber die Kraft seiner tiefen Religiosität war unerschütterlich. Da trat in sein Leben ein Ereignis, das sein Schicksal werden sollte. Die Eltern drängten darauf, daß er sich verheirate. Ihre Wahl traf auf unsere Cousine. Er liebte sie nicht, und sie ihn auch nicht. Aber der Wille der Eltern bestand. Der Großvater wollte nicht, daß das Vermögen zerstreut würde. So mußte Ephraim denn, ob er wollte oder nicht wollte, das Mädchen heiraten. Nach der Geburt seines ersten Kindes ging Ephraim nach Nordamerika. Er hatte die Zustimmung seiner Frau. Aber es war doch das unglückliche Leben, das ihn aus der Heimat drängte. Und an Zwiespalt mit den Eltern fehlte es auch nicht: die Aufklärung höhlte zwischen dem Vater und dem Sohne eine tiefe Kluft.
Auszug nach Amerika! Es war eine Wanderung aus dem Lande der Knechtschaft. Dort in der Freiheit wollte er ein neues Leben beginnen, schaffen und studieren, um seine ganze Kraft und seinen seelischen Reichtum an neuen Zielen zu erproben. Die Überfahrt war schrecklich. Neun Wochen in einem Segelschiff! Fast vier Wochen in eisiger Kälte, den Stürmen des Kanals ausgesetzt. Einsam und verlassen war er nun im fremden Lande: und seine Geldmittel waren geschwunden. Von seiner Hände Arbeit konnte er nicht leben. Er hatte ja nichts gelernt, um sich durchzusetzen. Er versuchte es mit dem Handel. Er versuchte es mit Fabrikarbeit. Aber das war kein Leben für den geistig angeregten Mann. Da leuchtete seiner Nacht ein Hoffnungsstern: Lilienthal. Derselbe Lilienthal, der in der Brester Jugend die Kultursehnsucht erregt hatte, lebte jetzt in New York. Ephraim ging zu ihm. Er erzählte ihm die Geschichte seines Leides. Aber es war ein kalter Empfang, der das weiche Gemüt des jungen Lebensstürmers vollends verwirrte. Was ein hartes Wort alles kann! Ein gütiges Wort: wie anders hätte sich das Leben meines Bruders in der Zukunft gestaltet! Er fing wieder mit grober Arbeit an. Der Landbau war ja den jungen Kämpfern als das höchste Ideal gezeigt worden. Er ging auf eine Farm. Zu einem Christen, der ihn freundlich aufnahm. Bald konnte er sich eine eigene kleine Farm erwerben, die ungefähr zwölf Meilen von New York entfernt war. Hier in dem neuen Kreise fügte er sich ganz in die neuen Lebensgewohnheiten ein. Er ging in die Kirche. Er lauschte der Predigt. Besonders war es die Rede eines Geistlichen, dessen Worte von Sünde, Strafe, Reue und Vergebung ihn mächtig packten. Von der jüdischen Gesellschaft hielt er sich ganz fern. Die Predigt war eigentlich seine einzige geistige Erholung. Da fand er einen Freund. Einen Jugendgefährten aus seiner Heimat Brest, der nach vielen Wanderungen in Amerika als Blasinstrumentenmacher gelandet war. Dieser Freund hatte das Judentum verlassen, und er wußte Ephraim zu bestimmen, die Taufe zu nehmen. Das war ein folgenschwerer Schritt. Man wurde auf ihn aufmerksam. Seine reichen Kenntnisse der biblischen und talmudischen Literatur sollten nutzbar gemacht werden. Er gab seine Farm auf, wurde Theologe und wanderte bald als Prediger von Stadt zu Stadt. Mit großem Erfolge konnte er sein Studium beenden. Noch während seiner Seminarstudien rief er seine Frau und sein Kind aus Rußland zu sich. Sie kamen. Aber es war bei aller äußeren Friedlichkeit doch keine Gemeinschaft. Es gibt eben im Leben sensitiver Menschen so manches Verbogene, das nie gerade gerichtet werden kann, und so manche Lücke, die sich nie füllt. Seine Freunde drängten meinen Bruder, daß er sein Leben der Judenmission widme. Er fand sich dazu bereit. Aber nur unter der Bedingung, daß er zuvor Medizin studieren dürfte. Seinem Willen wurde entsprochen; und nach weiteren drei Jahren konnte er sein ärztliches Studium abschließen. Er wurde nach der Balkanhalbinsel gerufen, wo er in mehreren Städten einige Jahre verlebte. Seine Missionsarbeit hatte keinen Erfolg. Und als ihm die Mittel für eine Missionsschule versagt wurden, trennte er sich bald von dieser Tätigkeit und übte fortan nur die medizinische Praxis aus. Unter Juden, Türken, Bulgaren und Griechen fand er eine große Klientel. Im Beginne der sechziger Jahre erhielt mein Bruder die Nachricht, daß nach dem Tode des Großvaters ihm und seiner Frau mehrere tausend Rubel zugefallen seien. Sein Familienleben war auch in der Türkei nicht glücklicher geworden als in Amerika; und so kam ihm die Erbschaft gerade recht, seine unbezwingbare Sehnsucht zu erfüllen. Er wollte seine Geschwister wiedersehen. Und seine Mutter. Die Geschwister konnten vielleicht verzeihen. Die Mutter kannte keine Verzeihung. In einer Stadt Deutschlands traf man sich. Das Wiedersehen war qualvoll, herzzerreißend. Die alte Mutter fiel dem Sohne zu Füßen und schwur, daß sie nicht eher aufstehen würde, als bis der Sohn wieder zum Glauben seiner Väter zurückkehrte und nie wieder während ihres Lebens nach Amerika ginge. Mein Bruder gab das Versprechen. Er blieb in Deutschland und wurde ein Jude, der getreu die Satzungen seiner Religion beobachtete. Die Sohnesliebe siegte. Er blieb eine kleine Zeit mit Mutter und Vater in Deutschland. Sie fühlten sich glücklich. Sie hatten ihr Lebensziel erreicht. Ihr Sohn gehörte wieder zu ihnen. Es war, als wären sie in ihrem hohen Alter noch mit einem Kinde beglückt worden. Ehe aber die Eltern heimkehrten, hatten sie noch eine schwere Aufgabe. Die innerlich längst zerbrochene Ehe meines Bruders wurde nach jüdischem Rechte geschieden. Die Frau behielt das eine Kind; das andere war inzwischen gestorben. Mein Bruder ging nach Wien, um sich weiteren medizinischen Studien zu widmen. Indessen kam es, daß unsere alte Mutter das Zeitliche segnete. Ephraim war nun frei. Er konnte wieder an die Rückkehr nach Amerika denken. Inzwischen war der Krieg Österreichs gegen Italien ausgebrochen. Mein Bruder machte die Seeschlacht bei Lissa unter Admiral Tegetoff als Korvettenarzt mit. In einem englischen Epos besang er dann diese Schlacht. Tegetoff nahm die Widmung dankend an, und der Kaiser belohnte den dichtenden Arzt mit einer Ehrengabe von 600 Florin. Nun kehrte mein Bruder nach Amerika zurück, wo er an einer Reihe Universitäten als Professor der Sprachen wirkte. Bald nahm er indes wieder seine Praxis auf, ging nach Chikago, wo er noch heute Mitredakteur des American Journal of Clinical medicine ist. Er hatte zum zweiten Male in Cincinnati geheiratet. Sieben Kinder sind aus dieser Ehe entsprossen. Trotz seiner 81 Jahre ist er rüstig tätig, und seine Mitbürger halten ihn in Ehren.
Meine Verlobung
Station Ratomke bei Minsk, am 20. Juli 1898, unter der Eiche auf der kleinen Bank im Walde niedergeschrieben. Erinnerungen an meine Verlobung im Jahre 1849.
Der Zufall fügte es, daß ich gerade heute auf die Schatulle stieß, in der meines Mannes und meine Briefe aus unserer Verlobungszeit aufbewahrt liegen. Ich öffnete sie, blätterte nachdenklich in den vergilbten Papieren, und ehe ich es merkte, umfing mich die ganze glückliche Vergangenheit. Ich vergaß meine Umgebung und las – Die Eiskruste, welche das Leben um mein Herz gebildet hat, fühlte ich allmählich schmelzen, die Jugend stieg in mir auf und mit ihr all die Gefühle, die ich einst durchlebte, so frisch, so lebhaft, als wenn es gestern gewesen wäre. Vergessen waren die Gegenwart, alle Sorgen, alle Leiden, die ich in den siebenundvierzig Jahren durchgemacht habe – ich war wieder die sechzehnjährige Pessele in ihrem trauten Heim, von Eltern und Geschwistern umgeben.
Und ein Bild nach dem anderen stieg plastisch in meiner Erinnerung empor: Die letzten Zeiten eines sorglosen Daseins; die Schule, das fleißige, eifrige Lernen; dann das neuerwachende Gefühl, das so plötzlich und unerwartet in mein Leben trat – die junge Liebe – Träume – Hoffnung – Sehnsucht – Verlobung – Hochzeit —
Sie lassen mich nicht los, all die lieben Erinnerungen, und der Wunsch wird in mir rege, alles das, was ich einst erlebte, niederzuschreiben für meine Kinder zum Andenken an ihre Mutter.
Nach der Vermählung meiner älteren Schwester E. F. hatte ich noch mehr als früher in unserer Wirtschaft zu besorgen. Außer der Wirtschaft aber lernte ich sehr viel, ich wurde immer fleißiger, als ob mir eine innere Stimme sagte, daß ich nicht mehr lange im väterlichen Hause werde schaffen können. Ich besuchte mit noch einigen Mädchen eine Privatschule, wo wir in der russischen und deutschen Sprache unterrichtet wurden. Unser Lehrer war ein älterer Herr, namens David Podrewski. Sein schiefer Mund erschwerte ihm häufig die Aussprache mancher harten russischen Worte, weshalb wir ihn nicht immer verstehen konnten. Von den beiden Sprachen war ihm in der Tat nur die deutsche geläufig; seine Kenntnisse in der russischen Sprache waren sehr mangelhaft. Zwei Rubel monatlich für dreistündigen täglichen Unterricht – das war sein Honorar.
Ich hatte eine große Freude an Büchern. Da uns aber in jenen Zeiten keine Kinderbibliothek zur Verfügung stand, so las ich alles, was mir unter die Finger kam: Märchen, allerhand Erzählungen in Jüdisch-deutsch, Gdules Josef, »Zenture, Wenture« (Abenteuergeschichten), Bobe-meisses, (Bowe-Korelewitsch). Am meisten aber fesselten mein Gemüt die reichen phantastischen, orientalischen Märchen von »Tausend und eine Nacht«.
Diese Lektüre befriedigte mich nur bis zu meinem elften Jahre; später wurde Robinson Crusoe mein Lieblingsbuch und noch später Zschokke und Schiller, dessen erster Band mit seinem poetischen Inhalt von uns Mädchen gesungen und auswendig gelernt wurde. Dieses Interesse für Schiller teilten wir mit der gebildeten jüdischen Jugend jener Tage, die sich an diesem großen Dichter begeisterte und seine Werke fleißig studierte. In die erdrückende, dumpfe Atmosphäre des Ghetto drang wie ein Frühlingshauch Schillers Poesie, und die Juden bewunderten all die Pracht und Schönheit, die vor ihnen so plötzlich auftauchte. Bei den Juden spielte Schiller eine wichtige Rolle, sowohl in ihrem Leben, wie in ihrer Literatur. Als die jüdische Jugend die Werke des Auslandes zu lesen anfing, griff sie zuerst zu Schiller; an ihm begeisterte sie sich und bildete ihre Kenntnisse der deutschen Sprache aus. Schiller lernten die Männer auswendig, gleich uns jungen Mädchen. Und bald gehörte die Kenntnis der Schillerschen Werke mit zum Studienprogramm eines gebildeten Juden; er lernte den Talmud und Schiller und zwar den letzteren in der gleichen Methode wie den Talmud. Es wurde jeder wichtige Satz einzeln durchgenommen und laut über ihn nachgedacht; Fragen und mögliche Antworten folgten einander, es wurde diskutiert, solange bis man die befriedigende Lösung fand und den angeblich tiefen Sinn, der hinter den Worten stecken sollte. In jener Zeit erschienen auch zahlreiche Übersetzungen ins Hebräische, verfaßt von den besten jüdischen Dichtern, die sich alle an Schiller versuchten. Die Ursache dieser Popularität ist im Wesen der Schillerschen Poesie zu suchen, ihrem intellektuellen Charakter, in dem Ernst, dem Pathos, in seinem Idealismus, der alles Geschehene unter dem Gesichtswinkel des Sittlichen betrachtet.
In der Schule war's, wo ich zum erstenmal ein russisches Buch, eine Sammlung Gedichte von Gribojedow und Schukowsky, in die Hand bekam. Manches Gedicht dieser Sammlung rührte mich bis zu Tränen, und eine Erzählung in Prosa, die Lebensschilderungen eines Einsiedlers, der sich Wadim nannte und sein Freund Gostomisl – diese beiden Helden alter russischer Vergangenheit, mußte ich immer wieder und wieder lesen und heute noch, nach Verlauf von 65 Jahren, weiß ich die ganze Geschichte auswendig.
Monate vergingen seit der Hochzeit meiner Schwester, und ein Tag glich dem andern; ich ahnte gar nicht, wie nahe der Tag war, der diesem gleichmäßigen und ruhigen Leben ein Ende machen sollte. Als ich eines Morgens auf unserem Balkon saß und mit den Schulaufgaben zu tun hatte, näherten sich mir meine Eltern. Die Mutter faßte mich am Arm, befahl mir aufzustehen, drehte mich herum und unterzog meine ganze Gestalt einer Prüfung; dabei lächelte sie liebevoll und wechselte mit dem Vater verständnisvolle Blicke.
Obwohl ich dieses Verhalten meiner Eltern nicht verstand, wurde ich instinktiv unter ihren Blicken rot; ich wagte jedoch nicht, eine Frage an sie zu richten. Die Mutter sah meine Verlegenheit, streichelte mir zärtlich die Wange und entfernte sich im Gespräch mit dem Vater. Ich blieb auf meinem Platz zurück, nachdenklich und regungslos. Was sollte das sonderbare Benehmen der Eltern bedeuten? Lange quälte mich die Frage, bis ich eine Erklärung zu finden glaubte: Ich hatte an diesem Sommermorgen 1848 ein blaues Sommerkleid an, das meiner Mutter sehr gefiel, und wahrscheinlich wollte sie mich in diesem Kleide dem Vater zeigen, der uns Kinder stets hübsch gekleidet zu sehen wünschte.
So harmlos waren die Gedanken und Gefühle der Kinder zu jener Zeit, als ihre Eltern sich bereits mit Heiratsplänen für sie umhertrugen.
Seit jenem Morgen aber veränderte sich das Benehmen aller Hausgenossen mir gegenüber; man schenkte mir viel mehr Aufmerksamkeit als sonst, und es fiel mir auf, daß Vater, Mutter und Geschwister mich oft mit eigenem Interesse betrachteten. Erst in den nächsten Tagen erfuhr ich die Ursache dieser sonderbaren Aufmerksamkeit. Mein Vater hatte einen Brief, der einen Heiratsantrag für mich enthielt, zustimmend beantwortet. Dieser Brief rührte von dem Rebben (Talmudlehrer) her, der sich auf der Suche nach einer Braut für seinen Schüler befand.
Ganz nach der patriarchalischen Sitte hatten die Eltern meines Mannes den Rebben des erwachsenen Schülers in die Welt geschickt, eine Braut zu suchen. Die Schadchonim (Heiratsvermittler) zeigten ihm an, wo man hübsche Mädchen aus guten Familien finden könnte.
Der Rebbe, der sich an meinen Vater schriftlich wandte, war bereits in einigen Städten, hatte aber bisher die Gewünschte nicht gefunden. Und nun kam er nach Brest, um in unserem Hause eine Braut für seinen Schüler zu erlangen.
Die Eltern des betreffenden jungen Mannes waren reiche Leute und suchten für ihre Söhne Frauen aus vornehmen jüdischen Familien. Der vornehme, reiche Jude jener Zeit war immer bestrebt, eine Bas Towim, d. h. die Tochter eines talmudisch Gebildeten, für seinen Sohn zu finden. Andererseits scheute er keine Mühe und kein Geld, einen ebenso gebildeten Talmudisten seiner Tochter zum Manne zu geben. Die Talmudwissenschaft und ihre Pflege war für den damaligen Juden der Hauptinhalt seines Lebens, die einzige Quelle seiner Weisheit und geistigen Entwicklung.
Alles im Hause geriet in Aufregung. Jedermann wußte, wer der Fremde war, und welche Absichten ihn zu uns führten. Ich allein wagte nicht daran zu denken. Meine älteren Schwestern fanden sich mit ihren Männern zum Familienrate ein, und der ältere Schwager übernahm die Vermittlung zwischen meinen Eltern und dem Bevollmächtigten meiner künftigen Schwiegereltern. Der Familienrat beschloß, den Rebben zum Tee einzuladen. Niemand aber fand es für richtig, mich davon zu unterrichten. Am Mittagstisch sprach man von diesem Ereignis nur in Andeutungen. Die Eltern waren freudig gestimmt. – Meine Aufregung aber steigerte sich mit jeder Minute, und das arme Herz, in dem die Ahnungen deutlicher und deutlicher aufstiegen, drohte zu zerspringen. Die ganze Zeit am Tisch mußte ich mich zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Nach Tisch ging ich aus. Ich mußte allein sein mit meinen Gedanken, mit all den neuen, ungekannten Gefühlen, die so plötzlich in mir erwachten, und meinem jungen Leben einen ganz neuen Inhalt gaben. Ich befolgte nicht den Rat meiner Schwestern, die mir zuredeten, ein schönes Kleid zu nehmen, sondern behielt mein blaues Kleidchen mit der schwarzseidenen Schürze an. »Er« sollte mich sehen, so wie ich jeden Tag bin, wie die Meinigen und wie ich selbst mich sah.
Als ich gegen Abend nach Hause zurückkehrte, hieß es, der fremde Herr sei bereits eingetroffen, wäre aber verhindert, zum Abendtisch zu bleiben. Da er mich aber sehen mußte, veranlaßte mich mein Vater, die brennenden Kerzen in sein Arbeitszimmer zu bringen, wo die beiden Herren sich befanden. Ich gehorchte, nahm beide Leuchter mit den brennenden Kerzen und ging in das Arbeitszimmer meines Vaters. Es war ein kurzer Weg. Aber mir kam diese Zeit wie eine Ewigkeit vor. Wie viele Gedanken rasten da in diesen wenigen Minuten durch meinen Kopf. Ein Sturm erhob sich in meiner Brust; das Herz schien still zu stehen. Äußerlich aber sah ich ganz ruhig aus. Ein leises Klopfen, und ich stand auf der Schwelle dieses Zimmers, wie auf der Schwelle eines neuen Lebens.
Da mich das Licht blendete, hob ich die Kerzen in die Höhe, über den Kopf, und stand so da, in ihrem vollen Lichte – und harrte. Da ertönte aus dem äußersten Winkel des Zimmers die Stimme meines Vaters, der mit dem fremden Herrn auf dem Sofa sich unterhielt. Ich folgte seiner Stimme, immer noch die Kerzen über meinem Haupte haltend.
Der Mann erhob sich vom Sofa, und mein Vater stellte mich ihm vor: »Das ist mein Pessele.« Ich fühlte ein Paar große, kluge, schwarze Augen forschend auf mich gerichtet. Es war ein prüfender, durchdringender Blick, der mir sogleich sagte, daß des Rebben Reiseziel hier erreicht war. Ich errötete unter diesem Blick und war nicht imstande, ein einziges Wort zu sagen. Meine Schüchternheit und Verwirrung war so groß, daß ich noch immer die Kerzen über meinem Kopfe hielt, bis mich mein Vater darauf aufmerksam machte. Ich stellte die Leuchter auf den Tisch, blickte noch einmal den Herrn an und entfernte mich lautlos aus dem Zimmer.
Im Speisezimmer harrten meiner schon alle Angehörigen, die mich sogleich mit Fragen bestürmten. Ich bat sie aber inständig, über die ganze Angelegenheit gar nicht zu sprechen, weswegen ich unaufhörlich ausgelacht und geneckt wurde.
Nach einer Stunde verabschiedete sich Herr Brim (so hieß der Rebbe) von meinen Eltern, und trat noch an demselben Abend seine Rückreise nach Konotop (800 russische Werst von unserer Stadt) an.
Bald kam aus Konotop ein Brief an, in welchem der Rebbe meinem Vater berichtete, er hätte alles nach seinem Wunsch geordnet, und Herr Wengeroff werde mit seinem Sohne und ihm selbst in den nächsten Tagen die große Reise antreten. Wir sollten mit meinem zukünftigen Bräutigam in einem 15 Meilen weit von uns entfernten kleinen Städtchen Kartuskaja Berjosa zusammentreffen und, wenn wir einander gefielen, dort gleich die Verlobung feiern.
Mein Mädchenherz kannte die Gefühle der Liebe noch kaum; plötzlich wurde es aus seinem Schlummer gerissen. Nie geahnte Bilder stürmten auf mich ein. In der Dämmerstunde saß ich jetzt oft und träumte von der Liebe, von dem Manne, der mein Lebensgefährte werden sollte, und unserem gemeinsamen Schicksal...... Es waren stille, lichte Träume, die ich damals in der Dämmerstunde jeden Abend träumte; denn mein tiefgläubiges Gemüt erhoffte alles Gute für die Zukunft. —
Ich suchte die Einsamkeit. Ich wollte allein sein mit meinen Träumen, die ich so lieb gewann. Aber allein war ich nie, denn das Bild meines Zukünftigen verließ mich nicht, und in meiner Phantasie nahm er die verschiedensten Gestalten an: Einmal war er blond, mit hellen Augen, ein anderes mal schwarz, und ein Paar dunkle, tiefe schöne Augen sahen mich voll Liebe an. Ich errötete vor mir selber: so beschämten mich meine Träume, aber ich hatte sie so lieb, lieb über alles. —
Manchmal, wenn ich so im Garten saß, in meine Träume verloren, stimmten die Mädchen, die die Gartenarbeit verrichteten, neckende, schmeichelnde Liedchen für mich an. Am liebsten hörte ich das Lied von dem schönen Mädchen, das von vornehmen Rabbinern stammte:
Schejn bin ich, schejn,
Schejn is mein Numen;
Ich kim doch haraus
Von lauter Rabunim.
Auf dem Dach sitz ich,
Von der Sünn schwitz ich,
Bloe Socken trog ich,
Tausend Toler vermog ich.
Kawe in die Kriglach,
Met in die Flaschen,
Tausend Toler…
In die Taschen. —
Die Vorbereitungen zu meiner Verlobung waren großartig. Ich erhielt sehr schöne Sachen. Es wurde beschlossen, daß die jüngst vermählte Schwester mit ihrem Manne, der ältere Bruder, Schwester Käthy und der ältere Schwager Samuel Feigisch uns begleiten sollten.
Vierzehn Tage lang währte die Reise der Wengeroffs bis zu dem vereinbarten Städtchen. Endlich war das Ziel ihrer Reise erreicht, und sie setzten uns durch eine Estafette davon in Kenntnis. Wir reisten ab und erreichten bereits am nächsten Tage in der Nacht Kartuskaja Berjosa.
Es war der 15. Juni 1849 – ein Datum, das sich tief in mein Herz eingeprägt hat und das ich nie vergessen werde.
Im Gasthaus, in dem wir Quartier nahmen, wurde uns gesagt, die Wengeroffs wohnten im Gasthaus uns gegenüber; eine kleine, enge Gasse liege nur dazwischen, und der Wirt versicherte uns, wir könnten von unseren Fenstern auch in die ihrigen hineinschauen, zumal von dem Stübchen, das für mich hergerichtet wurde. Ich begab mich auf mein Zimmer, ordnete die Sachen und versäumte nicht, obwohl ich sehr müde war, den Musselinvorhang zu lüften, um einen verstohlenen Blick ins Nachbarfenster zu werfen. Eine heimliche Stimme in meinem Herzen schmeichelte mir leise, daß von der anderen Seite das gleiche Manöver öfters erfolgt sein mußte. Endlich übermannte mich die Müdigkeit, und ich schlief fest ein.
Am nächsten Morgen weckten mich laute Stimmen aus dem Schlaf, die aus dem Nachbarzimmer meiner Eltern herrührten, und die ich unwillkürlich hören mußte. Die heftige Debatte zwischen meiner Mutter und meinem Schwager berührte – nach damaliger Sitte sehr eingehend – die materielle Seite der bevorstehenden Verlobung: Mitgift, Geschenke, Juwelen usw. Man war über diese Fragen nicht einig und redete hin und her. Erst mein Vater machte dem Streit ein Ende, indem er versicherte: »Wenn nur die Talmudkenntnisse des jungen Mannes gut sind, wird sich das andere schon machen lassen.«
Und nun rüstete sich mein Vater zu dem Akt, der mein Schicksal eigentlich erst entscheiden sollte – nämlich den zukünftigen Schwiegersohn in seinen Talmudkenntnissen zu prüfen; denn der Grad der Talmudkenntnisse war zu jenen Zeiten fast ausschlaggebend dafür, in welche Familie der junge Mann hineinzuheiraten würdig sei. Kein Wunder. Denn ausschließlich der Talmud war es, der als geistige Nahrung der damaligen jüdischen Jugend zugänglich war und auf sie veredelnd und verfeinernd wirken konnte. Zu anderen Wissensquellen führte die meisten kein Weg.
Nun ging mein Vater zu den Wengeroffs. In freudiger Stimmung kehrte er zu uns zurück; erging sich in den schmeichelhaftesten Äußerungen über den jungen Mann und lobte überschwenglich seine talmudischen Kenntnisse.
Von dem alten Wengeroff war er ebenfalls ganz eingenommen. Kurz, er wollte die Angelegenheit nicht verzögern und war entschlossen, noch an demselben Tage die Verlobung zu feiern. Wir beide, ich und mein Zukünftiger sollten noch vor dem offiziellen Verlobungsakt miteinander bekannt werden. Zu diesem Zweck wurden Vater und Sohn zu uns eingeladen.
Als ich ins Speisezimmer hineinkam, waren meine Angehörigen schon dort versammelt. Nach einigen Minuten trat ohne jede Meldung ein schöner, ältlicher Herr ein, begleitet von einer jugendlichen, aber mächtigen Gestalt. Alle erhoben sich und gingen auf die beiden zu. Ich konnte mich vor Aufregung kaum aufrechthalten. Wir setzten uns. Ich suchte mich zu beherrschen, um nach der damaligen Sitte ein Gespräch mit dem Vater meines Zukünftigen anzuknüpfen. Es fand sich bald so reichlicher Gesprächsstoff, daß die Unterhaltung allgemein wurde.
Die Meinigen sprachen das sogenannte Russisch-deutsch, während die beiden Wengeroff einen litauisch-jüdischen Jargon gebrauchten und auch den nur mangelhaft. Es stellte sich heraus, daß ihnen die russische Sprache viel geläufiger war, und deshalb unterhielten wir uns weiterhin meistens russisch. Bald war der kleine Kreis so vertraut miteinander, als hätte man sich seit Jahr und Tag gekannt.
Allmählich entfernten sich die jungen Leute in das Nachbarzimmer, mein Zukünftiger schloß sich ihnen ebenfalls an, und zuletzt forderte mich meine Schwester Kathy auf, den anderen zu folgen. Hier wurde die Etikette beiseite geschoben. Wir setzten uns zwanglos nebeneinander und selbstverständlich kam ich in die Nähe meines Bräutigams. Kaum saßen wir eine Weile nebeneinander, als das Zimmer leer wurde – alle entfernten sich, um uns beide ungestört zu lassen. Dieses Benehmen ärgerte mich dermaßen, daß ich nicht fähig war, ein einziges Wort hervorzubringen, und ich schwieg verlegen. Da fing aber mein Zukünftiger an zu reden. Zitternd vor Bewegung sprach er zu mir von seinen Gefühlen, von Liebe, Treue, von unvergänglicher Seligkeit. Viel mehr als seine Worte sagten mir seine Augen.
Aber zwei junge Leute vor ihrer Verlobung durften nicht zu lange miteinander allein bleiben. Es klopfte leise an der Tür, und Schwester Kathy kam uns abzuholen.
Im großen Zimmer warteten alle auf uns, um die Verlobung zu feiern. Nach der althergebrachten Sitte, die bei den frommen Juden noch heute gilt, wurde ein Schriftstück, die »Tnoïm« aufgesetzt, worin genau verzeichnet stand, wieviel Vermögen mein Bräutigam und ich mitbekommen, wann die Hochzeit stattfinden sollte usw. Nachdem dieses Dokument laut vorgelesen worden war, zerschlug man ein Gefäß. Diese Sitte war ein Symbol für die Zerbrechlichkeit des irdischen Daseins. Und eine Mahnung.
Man gratulierte einander. Wein und Süßigkeiten wurden gereicht. Es begann ein lustiges, munteres Treiben. Man speiste gemeinschaftlich zu Mittag, und mein Bräutigam wich nicht von meiner Seite. Am Nachmittag waren wir alle zum Tee bei den Wengeroffs eingeladen, wo uns am brodelnden Samowar und reich gedecktem Teetisch in gemütlicher Unterhaltung die Zeit verging. Mein Vater äußerte den Wunsch, sein zukünftiger Schwiegersohn solle die deutsche Sprache lernen, weil sie in unserem Lande aus gesellschaftlichen Rücksichten unentbehrlich sei, und sowohl der Schwiegervater wie sein Sohn erkannten die Berechtigung dieses Wunsches an.
Bei Wengeroffs erfolgte das gleiche Manöver wie bei uns: der Jugend wurde es zu enge bei der sachlichen Unterhaltung der Eltern, und einer nach dem andern verschwand in das naheliegende Zimmer meines Bräutigams. Es entstand die Frage, ob ich mich zu den anderen gesellen durfte. Meiner Mutter kam es als Sittenverletzung vor. Aber mein älterer Schwager trat für mich ein, und sie erlaubte es schließlich. Als ich am Arme des Schwagers im Zimmer meines Bräutigams erschien, wurde er vor Freude ganz närrisch. Mit jeder Stunde wuchs unsere Neigung, Sympathie und Anhänglichkeit, und wir schlürften vom Kelche der Glückseligkeit mit vollen Zügen. —
Ach wenn sie ewig grünen bliebe,
die schöne Zeit der jungen Liebe!
Es wurde spät – nach der Meinung der Eltern. Die Mutter trat ins Zimmer und flüsterte mir zu, daß es unpassend sei, so lange beim Bräutigam zu verweilen, und ich fühlte in ihrem Ton eine leise Mißbilligung meines Benehmens. Wir gingen nach Hause. Auf dem dunklen Gange, der zu unserer Wohnung führte, hörte ich hinter uns die Schritte des jungen Wengeroff, der uns begleitete. Ich wagte aber nicht, mich umzuschauen, um die Unzufriedenheit meiner Mutter nicht noch zu vergrößern.
So streng wurden wir damals erzogen. So behüteten uns unsere Mütter, nicht etwa aus Mißtrauen, sondern einzig und allein, weil sie es als ihre durch Tradition geheiligte Aufgabe betrachteten, über ihren Töchtern zu wachen. Es war Zartheit und Fürsorge, die unserer Naivität zu Hilfe kommen wollte, keineswegs aber Furcht vor den Folgen weiblicher List. Die Mütter von heute, wenn sie diese Zeilen lesen, dürften sich vielleicht in jene guten alten Zeiten zurücksehnen.
»Die altjüdische Religion im Übergang vom Bibeltum zum Talmudismus« von Israel Sack. (Berlin 1889. Verlagsbuchhandlung v. Ferd. Dümmler.)
»Monistische Gottes- und Weltanschauung. Versuch einer idealistischen Begründung des Monismus auf dem Boden der Wirklichkeit.« (Leipzig 1899. Verlag v. Wilhelm Engelmann.)
Der andere Bruder, Gregor Syrkin (Stiefbruder), ist ein hervorragender Kenner der hebräischen Sprache und Literatur. Er schrieb ein Werkchen unter dem Titel: Chesjaunaus Lajlo – Traumbilder.