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Kitabı oku: «Memoiren einer Grossmutter, Band II», sayfa 3

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Am folgenden Tage erwachte ich glücklich, freudestrahlend; und ohne jede Aufforderung zog ich meine besten Kleider an. Bald aber trübte sich meine Freude, als ich erfuhr, daß wir noch an demselben Tage nachmittags die Rückreise antreten sollten. Als aber unsere Eltern mir und meinem Bräutigam in die betrübten Gesichter schauten, fühlten sie Erbarmen, und die Abreise wurde bis zum nächsten Morgen verschoben.

Wir jubelten vor Freude. Die Älteren störten uns Junge nicht. Wir unternahmen im Wagen eine Spazierfahrt, waren unterwegs fast ausgelassen lustig, erlebten Abenteuer mit Bauern und kehrten in der glücklichsten Stimmung zu den Unsrigen zurück. Den übrigen Teil des Tages verbrachten wir mit Teetrinken, Naschen, mit allerlei Possen; wir sangen im Chor unsere polnisch-jüdischen Lieder, mein Bräutigam seine russischen, und so verging uns die Zeit bis zum Abendessen. Nach dem Abendessen übermannte uns die Müdigkeit, und wir trennten uns zeitig voneinander.

Aber ich fand keine Ruhe in jener Nacht, ich konnte nicht einschlafen. – Verwegene Gedanken und Bilder hielten mich wach. Mein Herz schwelgte in Seligkeit.

Der Leser wird den Umfang der Umwälzung gemerkt haben, die sich in der kurzen Zeit seit der Verlobung meiner Schwester im jüdischen Familienleben vollzogen hatte. Meine Schwester Eva erblickte ihren Bräutigam zum erstenmal in ihrem Leben unmittelbar vor der Hochzeitszeremonie. Sie sträubte sich zwar dagegen, indem sie sich weigerte, das Hochzeitskleid anzuziehen, bevor sie ihn gesprochen hatte. Doch genügte ein strenger Blick der Mutter, die Widerspenstige zu zähmen. Als nun endlich die beiden sich als Brautleute gegenüberstanden, durfte auch jetzt noch nicht ein Händedruck zwischen ihnen gewechselt werden. Mir aber erlaubte man, schon zusammen mit meinen Geschwistern in sein Zimmer zu kommen; gemeinsam mit ihm und ausschließlich in junger Gesellschaft einen Ausflug zu unternehmen.

Hier sehen wir die Zeit anbrechen, in der sich die Abgeschlossenheit des jüdischen Familienlebens zu lockern beginnt. Unvermerkt dringen in die urwüchsigen jüdischen Familiensitten fremde, nichtjüdische Elemente ein. Noch eine Generation, und die alte jüdische Sitte mutet wie ein längst verklungenes Märchen an.

Am folgenden Tage stand ich sehr früh auf, und in dumpfer, trüber Stimmung machte ich mich zur Abreise bereit. Der Wagen stand schon vor der Tür, meine Eltern und Geschwister waren reisefertig; die Wengeroffs kamen, um gemeinsam mit uns das Frühstück einzunehmen. Als ich meinen Verlobten ansah, bemerkte ich auf seinem Gesicht die Spuren von Tränen. —

Wir hatten uns noch so viel zu sagen und schwiegen beide.

Am Frühstückstisch sprachen nur die Älteren. Die Jugend schwieg beklommen. Die Stunde der Trennung kam. Man erhob sich vom Tisch. In diesem Augenblicke konnte ich mich nicht länger beherrschen und, als mein Bräutigam mich beim Abschied umarmte, – eine für jene Zeiten unerhörte Tat – da brach ich in ein heftiges Weinen aus. Die Eltern waren gerührt und erlaubten uns, eine ganze Strecke allein vorauszugehen. Die übrige Gesellschaft und der Wengeroffsche Wagen folgte. Ein Zwischenfall verlängerte unser Zusammensein: Ich entdeckte plötzlich, daß mir die neugeschenkte prächtige Uhr und Kette fehlten. Das gab Anlaß, einen Teil des Weges zurückzugehen, um das Verlorene zu suchen. Wir fanden beides wieder, und alle behaupteten, es sei von guter Bedeutung für uns.

Wir erreichten die Unsrigen und stiegen in die Wagen. Noch ein letzter Blick, und rasch entfernten sich die Wagen voneinander. Ich drückte mich in eine Wagenecke und versank in trübe Gedanken. Mir war, als schwinde das Teuerste, Schönste und Erhabenste meines Lebens von mir. Ich litt unsäglich in meinem Schmerz. Die Schwester versuchte mich zu beruhigen. Da ward mir plötzlich bewußt, daß ich das Innerste meines Herzens verraten hatte. Ich schämte mich meiner Schwäche. Das half. Ich wurde immer ruhiger und tröstete mich mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen.

Meine Eltern aber suchten mich mit dem Versprechen zu beruhigen, daß wir mit meinem Bräutigam noch einmal vor der Hochzeit zusammenkommen würden. So legte sich denn der Trennungsschmerz. Frisch und munter kamen wir zu Hause an.

Bald besuchten uns Verwandte, Freunde und Bekannte und gratulierten uns herzlich. Ich zeigte die kostbaren Geschenke, eine große Perlenschnur, lange Brillantohrringe, Kette mit Uhr. Zugleich mußte ich versichern, daß ich mich, wie der damalige Ausdruck lautete, »gottlob sehr glücklich fühle.«

In der Wahl der Geschenke, die man Kalle- und Chossen-Matones (Braut- und Bräutigamsgeschenke) nannte, folgte man gewöhnlich nicht nur dem persönlichen Geschmack, sondern richtete sich hauptsächlich nach der allgemein herrschenden Sitte. Gewisse Geschenke wurden als unumgänglich betrachtet, und jede Kalle und jeder Chossen, auch die Ärmsten, mußten sie erhalten. Auch der ärmste Chossen bekam zur Hochzeit vor allem einen Talles (Gebetmantel) und einen »Kittel« (Totenhemd), den der jüngere Mann ausschließlich am Jom-Kippur, der ältere, der schon erwachsene Kinder hat, auch an den Sederabenden anlegt. Wenn die Kalle arm war, so wurde für sie »gesammelt«, zu allererst für einen Talles für ihren Chossen. Zu den Geschenken gehörte noch ein Mützchen aus Silberfäden; zur Verlobung eine Uhr ohne Kette (die Herren trugen damals ihre Uhren an schwarzen seidenen Schnüren, welche die Braut gewöhnlich selbst verfertigte). Ich erinnere mich noch jetzt an das Kettchen, das meine Schwester für ihren Verlobten gemacht hatte – es war sehr kunstvoll geflochten, mit kleinen bunten Glasperlchen verziert.

War die Kalle ein reiches Mädchen, so erhielt der Chossen noch zur Hochzeit einen Streimel – eine Mütze aus dem kostbarsten Pelz – und eine »silberne Puschkele« (Schnupftabakdose).

Der Kalle schenkte man vor allem zur Hochzeit ein Gebetbuch, »Korben Minche« genannt.

Unter den Geschenken der sogenannten Balbatimtöchter (Töchter von wohlhabenden Leuten), welche oft nicht mehr als 100 Rubel Mitgift hatten, befand sich stets ein »Kanek« – ein Halsband aus schwarzem Sammet, reihenweise mit kleinen, echten Perlen besetzt; die Perlen mußten echt sein; das Vermögen der Mechutonim (Schwiegereltern) konnte nur ihre Größe bestimmen. Am Kanek waren als Anhängsel einige Dukaten befestigt, oder bei den reichsten einige größere goldene Münzen, im Werte von 15 Rubel, oder noch größere Münzen, an der drei Königsköpfe im Profil zu sehen waren und die einen Wert von 30 Rubel hatten. Man nannte diese Geldstücke Schaustück. Ferner erhielt die Braut zwei »Schleierlach« aus feinem, weißen Nesselzeug, die man auf dem Kopfe trug. Bei den reichen Partien schenkte man der Braut Brillanten, hauptsächlich Ohrringe, Perlenschnüre und eine goldene Kette, aber ohne die Uhr – die als Brautgabe erst in den vierziger Jahren aufkam. Diese Kette trug man oft beim Ausgehen über den Straßenkleidern, wie ich es im ersten Bande geschildert habe. Sie wurde mit einer Nadel an der Brust in phantastischen Formen befestigt.

Diese Geschenke machten nicht die Verlobten einander, sondern sie wurden von den zukünftigen Schwiegereltern den Brautleuten am Tage der Hochzeit überreicht. Gegen 12 Uhr mittags brachte der »Baddchen«, begleitet von der Musik, die Geschenke ins Haus der Braut.

In dem patriarchalischen Leben jener Zeiten hatte die Sitte das ganze Leben geregelt. Die heutige Generation in ihrer übertriebenen Empfindsamkeit mag diese so sehr minutiöse Vereinbarung seltsam anmuten, vielleicht gar peinlich berühren. Und doch darf man sagen, daß die genauen Abmachungen nur den einen Zweck hatten, von vornherein alle Mißstimmungen, Zänkereien und Feindseligkeiten zwischen den beiderseitigen Familien zu vermeiden.

Das Brautjahr

Ich kehrte in mein Alltagsleben zurück. Es war mir peinlich, als Kalle (Braut) behandelt zu werden. Ich bat meine Angehörigen, von meinem Bräutigam nicht zu sprechen. Ich duldete keine Bevorzugung im Hause und erfüllte alle meine Pflichten wie vorher. Ich besorgte jetzt hauptsächlich die Wirtschaft; denn meine ältere Schwester hatte kein Interesse dafür und unsere liebe Mutter verbrachte den Tag mit Beten, Psalmensingen und Lesen von heiligen Büchern, wie »Menojres Hamoer« und »Nachlas Zwi«.

Dabei lernte ich fleißig weiter bei Herrn Podrowski; denn ich hielt fest an dem Vorsatz, bis zu meiner Hochzeit die beiden Grammatiken, die russische von Wostokow und die deutsche von Heyse, ganz durchzuarbeiten. Jede Arbeit war mir jetzt leicht, soviel Frische, Freudigkeit und Lebenslust war in mir, solch ein Glücksgefühl übermannte mich; es teilte sich auch den andern mit, und Freude herrschte in unserm Hause.

Erst mehr als drei Wochen nach meiner Verlobung kam mein Vater freudestrahlend aus der Stadt zurück und übergab mir einen versiegelten, an mich adressierten Brief mit den Worten: »Da hast du einen Brief, gewiß von deinem Bräutigam.« Zum erstenmal in meinem Leben erhielt ich einen Brief; mit zitternden Händen öffnete ich ihn und las folgendes:

»Vielgeliebte und teure Peschinke, leben sollstu mir, gesund sein, einzige Seele meine!

Jetzund seinen wir in Sluzk. Du bist schoin gewiß zu Haus, bin schoin von Dir weit 275 Werst. Nur erst gestern bin gewen leben Dir (neben Dir), und ich habe gehört Deine süße, liebe Rede! O, wie glücklich ich bin gewen! Ober jetzund seh ich einzig, daß nach zwei Stunden, wos der Vater will hier verbrengen, wel ich müssen weiterfahren und weiter, mit jeder Minut, jeder Sekunde derweiten (entfernen) sich vun Dir, meine teure Pessunju. Meine teure, einzige Seele Pessunju, Du kennst Sich (Dir) vorstellen, wie mir ist gewen, als ich hob mich gesetzt in Wogen, die Reise zu machen, und zwei Sekunden nachdem hob Dich schojn mehr nit gesehn! Wie es ist mir gewen nochdem, konnte Dir beschreiben Seiten, aber ich fürcht mich efscher (vielleicht) west Du sein unruhig; nor Du kennst allein verstehen, Engel meiner, einzig das wet kennen sein mein Trost, as ich wel lesen Deine mir teure Handschrift, in welche ich wel lesen Deine Gefühle zu mir. Oh, daß wet mich neugeboren machen! Nachdem wet schon bleiben Eins, wie zu verbringen gicher (schneller) die Zeit, welche zerteilt uns einem von dem andern. Dazu wel ich halten Dein Befehl, dos wet sein mein Vergnügen und as ich wel noch erhalten Deine süße Briefe mit Deine Worte!

Inmitten der Reise hoben mir gehat noch ein Zustell (Aufenthalt). Zwei Stanzies (Stationen) obforendig von Berese. Mir seien dort gestanen sechs Stunden, von 10 Uhr des Morgens bis 4 Uhr des Abends. Diese Zeit ist mir gewen viel freilacher, ich hob mir baklert (überlegt) mit wie viel weiter wollt ich gewen von Dir als ich wollt gefohren jene Zeit. —

Ich verhoff, as Du west mir ton dem Vergnügen zu erfreien mich mit Deine Briefe, darum bet ich schon mehr nit.

Sei mer gesind und freilach, geb Gott mir sollen sich gicher (schneller) sehen mit Dir, meine teure Pessunju!

Chonon Wengeroff.

P. S. Teuere! west kennen schreiben auf mein Nomen den Konwert, bet ich Dich sehr. Verzeih mir, wos hob so schlecht geschrieben, darum, wos ich hob geschrieben mit dem Bleifeder. —

Ich bet Dich, bet von mir meinetwegen allemen sollen mir verzeihen, wos ich schreib sei nit; mir heilen (eilen) sehr. Verbleib mir noch a mol gesund, wie es wünscht Dir Dein

Dich liebender Chonon.
8. Juli 1849. Uhr 10 Morgens.

Ich schreib dem Adreß of Dein Nomen, worim der Vater hot mir dos geheißen.« —

Grenzenlos war meine Verwirrung, während ich diese zärtlichen Herzensergüsse las. Meine Eltern fragten mich nach dem Inhalt des Briefes; den konnte ich ihnen aber nicht sagen. Nur mit Tränen in den Augen bat ich sie, die Bitte meines Bräutigams, ihm oft zu schreiben, erfüllen zu dürfen. Die Eltern willigten ein, was bei der orthodoxen Weltanschauung jener Zeit sehr erstaunlich und für die beiden Menschen bezeichnend war. So groß war ihre Freude, daß ihre Pessele einen auf ihren Namen adressierten Brief erhalten hatte, daß sie nachsichtiger wurden und wirklich ihre Erlaubnis zu diesem Briefwechsel gaben; und so fing unsere Korrespondenz an.

Die Briefe meines Bräutigams hab ich stets als mein Teuerstes aufbewahrt, und noch heute, nach neunundfünfzig Jahren, sind sie alle in meinem Besitz. Manchmal blättere ich in den vergilbten Papieren, beschwöre die schöne Zeit herauf und sonne mich noch heute in den Strahlen des einst erlebten Glückes.

Ich zögerte nicht mit der Antwort, bat aber meine Eltern stets, einige Worte zuzuschreiben, was ihre Zustimmung bedeuten sollte. Denn in jenen Zeiten konnte es als Frivolität gelten, wenn ich allein mit meinem Bräutigam den Briefwechsel geführt hätte.

Ein trauriger Zwischenfall trübte mein Glück. Meine jüngste Schwester Helene erkrankte plötzlich an einem gefährlichen Nervenfieber. Sie war schon von den Ärzten aufgegeben, als plötzlich Besserung eintrat, und unsere liebste kleine Schwester war uns von Gott wiedergeschenkt. Und das kam so: Als mein Schwesterchen leichenblaß und ohne Bewußtsein so dalag, versuchten die Ärzte ein letztes Mittel. Das Kind wurde in ein kaltes Bad gelegt, in dem es zehn Minuten blieb. Dann wurde es wieder in das gut vorgewärmte Bett gepackt. In der Erregung des Augenblicks hatte man eine heiße Wärmflasche vergessen. Das Kind lag auf der Flasche. Es bildete sich eine tiefe Brandwunde. Das war ein Glück für das Kind. Die Ärzte meinten, ohne diese Wunde wäre es zugrunde gegangen. Ich glaube, das hing mit den damaligen medizinischen Anschauungen zusammen. Man liebte es ja einst, bei gefährlichen Krankheiten die Methode des »Haarseiles« anzuwenden. Die eiternde Wunde – so meinte man – zöge die Krankheit aus dem Körper. Langsam, aber stetig machte die Genesung Fortschritte. Aber das Kind blieb doch noch monatelang ans Bett gefesselt. Ich mußte zugleich mit meiner jüngeren Schwester die Pflichten einer Pflegerin versehen, weil es dem leidenden Kinde angenehmer war, Anverwandte statt einer fremden Pflegerin in seiner Nähe zu haben. Tag und Nacht war ich bei ihr. Ich hatte ein Lager neben ihrem Bette und, da sie selbst nicht langen konnte, führte ich ihr die Speisen zum Munde. Es war eine böse Zeit für mich. Nur die Briefe meines Verlobten stärkten meinen Mut und gaben mir neue Kraft.

Aber auch für mich sollte eine Prüfungszeit kommen. Ich bekam es so »durch die Blume« zu hören, daß die Eltern den häufigen Briefwechsel mit meinem Bräutigam jetzt nicht mehr billigten, denn nach ihrer Meinung wäre »die Sache, d. h. mein ganzer Brautstand überhaupt nicht ganz sicher«. Mein Schmerz war grenzenlos. Tage und Nächte brachte ich in Tränen zu. Ich forschte nach der Ursache der Verstimmung, konnte aber längere Zeit nichts erfahren. Endlich erbarmte sich meiner der jüngere Schwager und erzählte mir, mein Bräutigam wäre bei unseren Eltern verleumdet und als Ausbund aller bösen Eigenschaften bezeichnet worden. Ich litt unsagbar. Der Vater grämte sich. Die Stimmung im Hause war sehr gedrückt. Endlich schrieb der Vater nach Homel, einem Städtchen bei Konotop, wo ein Verwandter von uns, Reb Eisek Epstein, wohnte, und bat ihn, sich genau nach dem Stand der Sache zu erkundigen. Bald langte eine Antwort an, welche die Haltlosigkeit aller Verleumdungen erwies. Die Familie Wengeroff, schrieb unser Verwandter, wäre eine vornehme und der junge Mann ein braver Mensch und guter Talmudist. Diese Nachrichten dämpften den Sturm in unserem Hause. Die dunklen Wolken zerstreuten sich. Über meinem Leben strahlte wieder der helle, klare Himmel.

Ich jubelte auf. Meine Liebessehnsucht wurde noch mächtiger. Unser Briefwechsel häufiger. Die Geschwister neckten mich und lachten, wenn ein Brief kam. Aber sie freuten sich mit mir.

Das Leben im Elternhause ging seinen gewohnten Weg. Der Winter nahte seinem Ende, und der Frühling kündigte sich in diesem Jahre sehr zeitig an. Meine Schwester erholte sich gut und konnte bereits das Bett verlassen. Unsere Mutter traf große Anstalten zur Herstellung meiner Aussteuer. Leinewand, seidene und wollene Stoffe. Spitzen wurden bezogen. Man beriet, wählte, kaufte ein. Es war ein hastiges Treiben.

Auch mich zog man oft zu Rate. Aber ich äußerte meine Meinung stets nur schüchtern und errötend.

Die Wäsche wurde außerhalb des Hauses angefertigt, die Kleider aber daheim genäht. Nicht Schneiderinnen, sondern Schneidergesellen arbeiteten daran. Es waren alles junge Burschen, die zufällig zugleich dem Synagogenchor angehörten. Während der Arbeit sangen sie oft und gern Lieder, meistenteils religiösen Charakters, wie Purimspiele, Ahasverusspiel, Josephspiel. Das letztere war ihr Lieblingsspiel, das sie sehr oft wiederholten. Sie verteilten die Rollen untereinander und sangen folgendermaßen:

1
Jacob:
 
Ich bin der Bäum vün der ganzer Welt, ün' duhs
Seinen meine Zweigen (mit der Hand auf seine Kinder weisend)
Drum bitt ich den Ojlom (Publikum),
Soll a Bissele schweigen.
 
2
 
Schon zwei Johr bin ich vün Häus ojsgezojgen,
Ün nitchasw'schulem (gottbewahre) vün mein Parnusse wegen (geschäftshalber),
Nur vün die Zores (Leiden), wus is mir gekümmen entgegen,
La la la, la la la, lalalalala la la.
Mein Sühn Schimen, mein Sühn Schimen,
Di bist doch mein bester Sühn,
Di bist doch mein liebster Sühn,
Sug'sche (sage doch) mir die Wuhrheit,
Sug'sche mir die Wuhrheit,
Wie (wo) is er, wi is er, mein Sühn Josefl?
 
Die Söhne:
 
Vuter (Vater), lieber Vuter sießer,
Wir weißen nit, wi er is.
 

(Wiederholung.)

Jacob:
 
Mein Sühn Riwen (Ruben), mein Sühn Riwen,
Du bist doch mein bester Sühn
Du bist doch mein liebster Sühn,
Dir wellen doch tun alle loiben,
Sug'sche mir die Wuhrheit, sug'sche mir die Wuhrheit,
Wo is er, wo is er, mein Sühn Josefl?
 
Die Söhne:
 
Vuter, lieber Vuter sießer,
Wie kennen mir dir derweisen den Ponim (Gesicht),
As mir hoben ihn verkäuft zu die Midjonim.
 
Jacob:
 
Willt ihr mir das Leben schenken,
Sollt ihr mir ihn bald brengen.
 

Joseph wird hineingeführt; Jacob gerät in freudige Ekstase. Joseph singt:

 
Ich hob viel Schuff (Schafe) ün' viel Rinder,
Ich hob a Frau mit zwei Kinder,
Einer heißt Menasse, der andere heißt Ephraim,
Hoben sie mich gemacht zum Groißen in dem Land Mizraim
La, la, la, la, lalalala, la, la, lalalala.
 

Auch das kleine lustige Liedchen eines Schneiders sangen sie mit Vorliebe:

 
Sitz ich mich, a Fissele iber a Fiß
Un sing mir a Liedele zucker-siß.
N' Schnaider zu sain is gor aus die Welt, —
Wohin er kummt, verdient er Geld!
As die Jolden (lustige Jungen) wollten sich wellen beklären,
Wollten sie alle Schnaiders weren. —
 

Manchmal sangen sie Lieder, die mir und meinem Brautstand galten. Einige von diesen Liedern leben noch ganz frisch in meiner Erinnerung:

 
Kalele, Kalele, wein, wein, wein,
Der Chosen wet dir schicken a Tellerl Chrein
(Meerrettich)
Wellen sech die Trären gießen
Bis die Zehen.
Sitz ich auf ein Stein
Nemt mich on a groiß Gewejn
Alle Medelach Kales werden
Ich nebech nejn. —
 
Oder:
 
Nemmt der Bucher (Jüngling) die Mojd (Mädchen) far der Hand,
mejnt er die Welt is sein,
Git (gibt) er ihr grobe Woll spinnen auf'n dünnen Seid.
 
Die Mojd:
 
Ich wel dir grobe Woll spinnen auf'n dünnem Seid,
Di sollst mir a Leiterel machen, wus in Himmel soll sein.
 
Der Bucher:
 
Ich wel dir a Leiterl machen, wus in Himmel soll sein,
Di sollst mir die Stern zählen, wus in Himmel wet sein.
 
Die Mojd:
 
Ich wel dir die Stern zählen, wus in Himmel wet sein,
Di sollst mir dem Jam ausschöppen mit a Krigele dilein (klein)
 
Der Bucher:
 
Ich wel dir dem Jam (das Meer) ausschöppen mit a Krigele dilein (klein),
Di sollst mir dem Fischele chappen, wos in Jam wet sein.
 
Die Mojd:
 
Ich wel dir dem Fischele chappen, wos in Jam wet sein,
Di sollst mir dem Fischele kochen ohn Feuer in Wasser darein.
 
Der Bucher:
 
Ich wel dir das Fischele kochen ohn Feuer in Wasser darein.
Di sollst mir sieben Kinder huben ün a jinge Frau zi sein. —
 

Auch die Wärterin Mariasche neckte mich mit einem Lied, wenn sie sah, daß ich froh und glücklich im Hause herumlief oder wenn sie mich in irgendeinem Winkel verträumt antraf:

 
Oj, weih, wie kenn men leben
Schwäh'r und Schwieger kowed (Ehre) obzugeben.
Steih ich auf spät
Sogt main beise Schwieger:
Ich lieg wie a Nweile (faule)
Bis halben Tog in Bett!
 
 
Oj, weih, wie kenn men leben
Schwäh'r und Schwieger kowed obzugeben!
Geh ich gich (schnell), sogt sie, ich zerreiß die Schich,
Geh ich pameilach (langsam), sogt sie, ich bin freilach —
:|: Oj, weih, wie kenn men leben etc.:|:
Back ich greiße (grosse) Challes
Sogt main beise Schwieger,
As ich stell ihr gor b'dalles (ruiniere sie)
:|: Oj, weih, wie kenn men leben etc.:|:
 
 
Back ich kleine Challes
Sogt main beise Schwieger,
As ich zieh auf ihr dem Dalles
:|: Oj, weih, wie kenn men leben etc.:|:
Geih ich ongeton schein,
Sogt main beise Schwieger,
As ich mach ihr gor gemein (arm).
:|: Oj, weih, wie kenn men leben:|:
 
 
Geih ich ongeton mieß (hässlich),
Sogt main beise Schwieger,
As ich tu ihr on a Büsch (Unehre).
Oj, weih etc. —
 
Oder:
 
Tochter du liebste, Tochter du main,
'ch wel dir lernen wie ba (bei) a Schwieger zu sain:
As die Schwieger wet gaihn vun weiten,
Sollstu nit teilen kein oreme Leiten.
Tochter du liebste, Tochter du main,
'ch wel dir lernen, wie ba a Schwieger zu sain:
As die Schwieger wet geihn vün Schul,
Sollstu ihr trogen antkegen (entgegen) a Stuhl.
Tochter du liebste etc.
As die Schwieger wet geihn zum Tisch,
Sollstu ihr geben die beste Stick Fisch.
 

Immer näher rückte die Zeit meiner Trennung vom Elternhause – eine Aussicht, die mein Glück störte. Vor der Abreise nach Konotop sollte ich noch nach Warschau gehen, um von Verwandten, vor allem aber vom Großvater Abschied zu nehmen und den Segen zu meiner Vermählung zu erhalten.

Es war Anfang August 1849. In jener Zeit existierte noch die polnisch-russische Grenze bei dem kleinen Städtchen Terespol, das vier russische Werst von Brest entfernt lag. Diese Reise unternahm ich mit meinem Vater. Aber vor der Grenze war er gezwungen, mich zu verlassen; und ich mußte selbst alle Grenzformalitäten erledigen. Es war mein erster selbständiger Schritt. Ich muß gestehen, mein Mut war nicht groß. Als ich in das Bureau kam, wo ich meinen Paß vorzuzeigen hatte, fühlte ich mich sehr beklommen. Tränen kamen mir in die Augen. Am liebsten hätte ich geschluchzt wie ein kleines Kind. Ich schämte mich dieser Schwäche und versuchte mich zu beherrschen. Im Bureau ließ man mich ein Dokument unterzeichnen: wieder eine selbständige Tat! Endlich befand ich mich auf der anderen Seite der Grenze. Hier wurde ich von unserem Freund Reb Jossele erwartet, der mich zu seiner Familie in das kleine Städtchen Terespol brachte. Am nächsten Tage kam mein sehnsüchtig erwarteter Vater, und wir reisten gemeinsam nach Warschau.

Unser Aufenthalt in Warschau dauerte acht Tage. Der Großvater empfing mich mit besonderer Aufmerksamkeit. Die Tanten und Onkel behandelten mich die ganze Zeit mit großer Zärtlichkeit. Ich erhielt von allen hübsche Hochzeitsgeschenke und vom Großvater ein Silberstück und – den Segen.

Es war ein Augenblick, den ich nicht vergessen kann: Großvater stand in der Mitte des Salons. Mit klopfendem Herzen näherte ich mich ihm und beugte das Haupt in demütiger Ergebung. Er legte seine Hände auf meinen Scheitel und sprach laut den Segen mit bewegter, zitternder Stimme. Feierliche Stille herrschte im Zimmer. Nur die Tanten schluchzten leise. – Mir war so ernst zumute, so traurig. Hier erst fühlte ich so recht, welche ernste Wendung mein Leben nehmen sollte. Bangen Herzens verabschiedete ich mich von meinem lieben, ehrwürdigen Großvater; denn der Gedanke wollte mich nicht verlassen, daß ich ihn zum letztenmal in meinem Leben sah.

Nachdenklich und ernster, als ich gekommen war, kehrte ich nach Hause zurück. Die Aussteuer war fertig. Meine Mutter packte all die schönen neuen Sachen mit Liebe und Sorgfalt in einen massiven, großen, mit Eisenblech beschlagenen Koffer ein. Außer der Wäsche erhielt ich folgende Sachen:

1. Das Hochzeitskleid: aus schwerer grauer Seide – ein Streifen »moiré antique« und ein Streifen Atlas, mit breiten grauen Blondenspitzen (Spitzen aus Flockseide) garniert;

2. ein Kleid aus Mousseline de laine – dunkelblau und weiß kariert; fußfrei, ganz leger, einfache Fasson; oben mit einem Sattel, in der Mitte Gürtel, lange griechische Ärmel;

3. ein Kleid ans dunkelblauem Atlas, mit dunkelblauem Samt vorne garniert; schmale, lange Ärmel mit Samtmanschetten;

4. ein schwarzes Taftkleid – »Mantine« genannt – ohne jede Garnitur;

5. ein Kleid aus grünem Wollenstoff mit schwarzer Tresse in schönen Mustern garniert;

ferner: 2 Schlafröcke:

einen aus hellblauem Musselin mit einfachen weißen Spitzen,

einen anderen aus »Teefteek« (türkischem Stoff); ganz lose verfertigt – »Rubaschka« (Hemdchen) genannt.

Ferner: 3 Mäntel:

eine »Mandaronka« – so wurde die damalige übliche Regenmantelform genannt – aus dunkelblauem Tuch;

eine »Ziganka« – grauer Seidenstoff; ein viereckiges Stück einfach am Halse und an den Ärmeln zusammengerafft; garniert mit rotem, seidenem Band und grauen Quasten;

eine »Algierka« – ein langer Mantel mit griechischen Ärmeln, empire, aus schwarzer Seide. Vorne an der Brust waren zwei seidene Schnüre befestigt, die über die Schultern auf den Rücken mit zwei großen Quasten lose herabfielen.

Ferner 2 Tageshauben:

eine aus Blondenspitzen mit blauem Band – für Feiertage, die andere einfacher für jeden Tag

und dazu sechs Morgenhäubchen in koketten Formen.

Ferner ein Paar rosa Handschuhe mit weißen Tüllspitzen garniert – zur Trauung! —

Alles war also bereitet, und man machte Anstalten zu der großen Reise. Ich war mir selbst überlassen und hatte Zeit, von allem, was mir lieb war, Abschied zu nehmen. Es waren schwere Tage für mich – ein Durcheinander von Gefühlen und Empfindungen tobte in meinem Inneren. Bald brachte mich der Gedanke an das Wiedersehen mit meinem Heißgeliebten in solch eine strahlende Freude, daß jeder, der mir in den Weg kam, lächeln mußte. So glücklich sah ich aus. Bald kamen mir Tränen in die Augen, und ich schluchzte leise in irgendeinem Winkel, vom Trennungsschmerz übermannt. Bald aber lachte ich schon wieder und lachte vor Seligkeit und Glück.

Den letzten Sonntag vor der Abreise hatte ich noch Abschiedsbesuche bei Verwandten, Freunden und Bekannten zu machen – ich erfüllte diese Pflicht in Begleitung einer älteren Frau, Reisele genannt, die in der ganzen Stadt als Sarwerke3 bekannt war und allen jüdischen Bräuten in Brest als Ehrenbegleiterin diente.

Es kam der vorletzte Tag. Wir saßen alle beisammen am Mittagstisch, als meine ältere Schwester auf mein ungewöhnlich blasses Aussehen aufmerksam wurde. Auch die anderen bemerkten es, und der Vater forderte mich zärtlich besorgt auf, ihm die Ursache meiner Sorgen zu sagen. Es war ein Traum, der mich quälte: Mir träumte, ich wäre ganz allein in der kleinen, engen Gasse, durch die ich einst als kleines Mädchen täglich mit dem »Behelfer« zum Cheder gegangen war. Plötzlich raste ein großer, schwarzer Ochse in wilden Sprüngen auf mich zu. Ich bebte vor Schrecken, denn der Ochse mit seinen Riesenhörnern kam immer näher. Ich suchte mich zu verbergen, konnte aber keinen Winkel finden, lief nach rechts und links. Doch das schwarze Ungeheuer folgte mir überall. Ich war endlich ganz erschöpft vor Angst und Müdigkeit und ergab mich meinem Schicksal. Da tauchte plötzlich im Halbdunkel des engen Gäßchens ein kleines Männchen auf. Es trug einen seidenen schwarzen Kaftan mit Gürtel und hoher Zobelmütze. Sein Gesicht war ganz runzlig. Es hatte die Züge meines Großvaters. Sein Gesicht umrahmte ein ungewöhnlich langer grauer Bart, der bis zu den Knien reichte. Das Männchen näherte sich mir, nahm mich an der Hand und sagte, indem es einen Seitenblick auf das Ungeheuer warf: »Komm mit mir, fürchte dich nicht!« Vertrauensvoll und dankbar ging ich mit ihm. Nach einer Weile aber blieb er stehen, ließ meine Hand los, wies mir den geraden Weg und verschwand ganz plötzlich meinen Blicken. Mit einem Male war auch das Ungeheuer nicht mehr da. Am ganzen Körper zitternd, erwachte ich und konnte den Eindruck dieses schweren Traumes gar nicht mehr loswerden. Alle hörten mir mit Spannung zu. Am meisten bewegt aber war der Vater. Als ich mit dem Erzählen zu Ende war, erhob er sich rasch vom Tisch und begab sich in sein Arbeitszimmer, wo er in einem Buch nachblätterte. Freudestrahlend kam er zurück und rief mir zu: »Sei ruhig, meine Tochter, du wirst Kinder haben, die viel lärmen werden.«

Ich wurde schamrot und wagte niemanden anzuschauen. Die Meinigen lachten und neckten mich und wollten mich zum Aufschauen zwingen. Ich aber verharrte bis zum Schluß des Mittagmahles in der gleichen Haltung.

Für den nächsten Tag war unsere Abreise bestimmt. Schon stand unser Reisewagen vor dem Hause. Es war ein langes, mit Leder überzogenes und mit kleinen Fenstern und Vorhängen versehenes Fuhrwerk, »Fürgon« genannt. Drei Postpferde waren davorgespannt. – Die Aufregung im Hause erreichte ihren Höhepunkt. Man lief hin und her. Man raffte noch mancherlei zusammen und packte es in den Wagen: es gab noch sehr viel zu tun in dieser letzten Stunde vor der Abreise. Der Wagen war also außen und innen stark beladen, sollten wir doch vierzehn Tage unterwegs bleiben. Deshalb nahmen wir großen Vorrat von Backwerk, geräuchertem Fleisch, gesalzenen Sachen mit, ferner eine ganze Kiste mit Cognak, Rum, Schnaps, Wein, Tee und Zucker. Das mußte ja reichen für uns alle. Diese Nahrungsmittel fanden Platz in einer großen, viereckigen, mit weißem Fell überzogenen und mit Blechstreifen beschlagenen Kiste, »Pogrebez« genannt. Fünf bequeme Sitze wurden für die Reisenden hergerichtet.

Ich konnte mich gar nicht vom Hause trennen. Da rief der Vater in befehlendem Tone: »Genug, genug!« und entschlossen half er mir zuerst in den Wagen. Es folgte meine Mutter, die jüngere von mir innig geliebte Schwester und der achtjährige Bruder. Ein kurzer, echt russischer Befehl »pascholl!« (los), und der Wagen setzte sich in Bewegung. Unter den Tränen, Wünschen und Segenssprüchen der Zurückgebliebenen fuhren wir ab. Ich schluchzte wie ein kleines Kind: der Wagen rollte immer schneller. Durch Tränen hindurch sah ich alte vertraute Straßen schwinden, Häuser, in denen ich jahrelang ein- und ausgegangen, um liebe Freunde zu besuchen, Menschen, denen ich solange jeden Tag begegnet. Meine Lieblingsplätzchen zogen an mir vorbei. Und hinter mir verschwand, um nie zurückzukehren, die schöne Zeit der sorglosen, glücklichen ersten Jugend. —

3.Sarwerke – eine Frau, die in besseren jüdischen Häusern während der Feierlichkeiten serviert, Süßigkeiten, Konfitüren, Eingemachtes vorbereitet.
Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
30 haziran 2018
Hacim:
240 s. 1 illüstrasyon
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