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54 Vgl. 9.2.
55 Mit der auf das 18. Jahrhundert zurückgehenden Heimindustrie identifizierten sich die meisten Ausserrhoder eher als mit den bäuerlichen Bräuchen, die zum Teil erst in neuerer Zeit und durch Anstösse von aussen bewusst gepflegt und als Attraktion herausgestellt wurden, mithin eher Folklorismus sind. Tanner; AR A. T.
56 Für das Entlebuch z. B. gibt Kaufmann, 46, noch für 1970 40 % landwirtschaftlich Tätige an.
57 Witzig, 92ff.
58 Zur inneralpinen Wirtschaft ausführlich Mathieu, vgl. ferner noch Witzig, 77ff.
59 Im Wallis gab es noch nach 1945 einige Dörfer ohne Zufahrtsstrassen für Motorfahrzeuge.
60 Zahlen bei Siegen Jos., 54.
61 Bellwald/Guzzi.
62 Kuonen.
63 In Graubünden war er nur im protestantischen Teil alt, im Deutschwallis etwa in Zermatt und im Saaser Tal.
64 Zur kirchlichen Lage im Tessin Macconi.
65 Antonietti; Siegen Joh.
66 Weiss, 107.
67 Kurz/Lerch; Bierbrauer.
68 Ming H., 246.
69 Bonstetten, bes. 61ff.
2 Sozialstruktur und Arbeitsorganisation der landwirtschaftlichen Bevölkerung
2.1 Zur Typologie der voralpinen Landwirtschaft
Zu den früher getroffenen allgemeinen Feststellungen zur spezifisch voralpinen Landwirtschaft1 sollen hier einige Ergänzungen gemacht werden, die dem Verständnis des Folgenden dienlich sind. Die Betriebsgrösse war in Innerrhoden wie in Obwalden ungefähr gleich klein, nämlich meistens um die 5 bis 10 Hektar (ohne Alpweiden).2 Eine bestimmte Obergrenze war gegeben, weil um 1945 praktisch sämtliche Arbeit noch ausschliesslich durch Familienmitglieder und von Hand erfolgte. Die Betriebe waren im Gegensatz zu denjenigen im inneralpinen Raum arrondiert und von zwei- oder dreilattigen Holzzäunen umgeben.3 Diese waren relativ arbeitsaufwendig und mussten immer wieder erneuert werden. Den einfacher zu verlegenden und haltbareren Stacheldraht verwendete man aber nicht so gern, weil sich die Tiere daran verletzen konnten und dann die Häute zur Lederherstellung nicht mehr viel galten. Der bereits seit 1943 von einer Ausserrhoder Firma (Lanker in Speicher) fabrizierte elektrische Viehhüter setzte sich dann später mit der allgemeinen Mechanisierung durch. Zum Land unmittelbar um Wohn- und Ökonomiegebäude gehörten nicht selten Heimweiden, etwas weiter entfernte Landstücke auf mittlerer Höhe.4 Die Alpen waren in Appenzell zur Hälfte privat, ein Viertel gehörte Korporationen, der Rest grösstenteils dem Staat.5 In Obwalden gehörten die Alpen zu 75 Prozent Korporationen, Genossenschaften und Teilsamen, nur ein kleiner Teil war privat.6 In Engelberg besass das Kloster etwa die Hälfte der Kuhrechte.7 Ansehnlicher Alpbesitz war ein grosser Vorteil, denn er ermöglichte es durch die breitere Futterbasis, im Tal mehr Kühe zu halten.
Der Betriebsgrösse entsprach der Bestand an Kühen, zwischen sechs bis zehn im Schnitt. Bauern mit 20 oder mehr Kühen galten als reiche Grossbauern. Wie wichtig die Rinderhaltung insgesamt war, belegen zwei Verhältniszahlen: In Obwalden kamen 1951 auf 1000 Einwohner 800 Stück Rindvieh, in Innerrhoden 836. Die Bedeutung der Rindviehhaltung zeigte sich ferner in folkloristischer Form an den festlich gestalteten Alpaufzügen und -abfahrten, im Kunsthandwerk (Bauernmalerei, Weissküferei, Accessoires der Sennentracht, Schellenriemen), sowie in den herbstlichen Viehschauen, die zu den Höhepunkten der bäuerlichen Festkultur gehörten.8 Die Verarbeitung der Milch unterlag schon vor dem Krieg grösseren Veränderungen.9 Die Eigenherstellung von Käse und Butter gab es in ausschliesslicher Form nur noch auf den Alpen. Der aus der Milch der Talbetriebe gewonnene Rahm wurde in Appenzell grösstenteils an die Butterzentrale Gossau geliefert, die übrig bleibende Magermilch verfüttert. Ebenso wurde der berühmte Appenzeller Käse zum grössten Teil nicht mehr in Innerrhoden selbst, sondern in den Nachbarkantonen hergestellt; die den Verkauf organisierende, 1942 gegründete Geschäftsstelle befand sich in St. Gallen. Aus Obwalden ging ein grosser Teil der Milch nach Luzern. Kälbermast und Aufzucht von Jungtieren, die dann exportiert wurden, waren angesichts der schon in der Zwischenkriegszeit ständig sinkenden Milchpreise für viele Bauern in beiden Kantonen eine ertragreiche Alternative. In Obwalden hatte der Viehhandel besonders in dem hoch gelegenen und daher von der Natur benachteiligten, aber verkehrsgünstigen Lungern grosse Bedeutung und war in diesem Ort eine wichtige Einnahmequelle. Einige dieser Händler aus Lungern wurden angesehene und reiche Mitglieder der bäuerlichen Gesellschaft.
Zu den Kühen kam vor allem in Appenzell eine zahlenmässig recht bedeutende Schweinehaltung, nicht nur für den Eigenverbrauch, sondern auch für den Markt.10 Das Schwein war der ideale Abfallverwerter, man konnte es mit der bei der Butterherstellung anfallenden Magermilch oder der beim Käsen übrig bleibenden Schotte (Molke), aber auch mit pflanzlichen Resten füttern. Geräuchertes Schweinefleisch bereicherte vielfach als einziges Fleisch die Sonntagsmahlzeiten der Bauern, und Schlachtschweine brachten wegen der hohen Preise gerade für diese Sorte Fleisch vielen Bauern willkommene Bargeldeinnahmen. Darauf und auf die weibliche Handstickerei bezog sich das etwas derbe, aber geflügelte Wort in Innerrhoden «D’ Fraue ond d’Saue ehaltids (erhalten) d’s Land».11 Demgegenüber wurde in Obwalden, wie bereits erwähnt, der Obstbau stärker gepflegt.
2.2 Die Familie als Grundlage des landwirtschaftlichen Betriebs
Die im Katholizismus gerade angesichts vieler Auflösungserscheinungen im 20. Jahrhundert bis heute hochgehaltenen Werte der Familie fanden im bäuerlichen Familienbetrieb des Voralpengebiets eine sozusagen ideale praktische Ausformung, und wäre der Pflegevater Jesu nicht ein Zimmermann, sondern ein Bauer gewesen, so hätte man jenen – abgesehen von der grösseren Kinderzahl – geradezu als Nachfolger der Heiligen Familie sehen können. Die bäuerliche Familie und ihre Arbeit wurde denn auch von den kirchlichen Repräsentanten immer wieder als vorbildhaft gepredigt.
Sowohl die durchschnittliche Grösse und der Viehbestand der bäuerlichen Betriebe wie der daraus resultierende Arbeitsanfall waren auf eine Familie mit mehreren Kindern zugeschnitten. Wie überall in der bäuerlichen Welt gab es eine geschlechtliche Arbeitsteilung. Dabei lastete besonders in Appenzell, etwas weniger ausgeprägt in Obwalden, infolge der verbreiteten weiblichen Heimarbeit die Landwirtschaft zum grösseren Teil auf den Männern. Die Stallarbeit mit den Kühen, die allein die meiste Zeit des Tagespensums beanspruchte, war klar Sache des Mannes.12 Die Ehefrau wurde nur ausnahmsweise zu Hilfsarbeiten im Stall beigezogen, etwa beim Kälbertränken oder überhaupt beim Viehtränken (besonders im Winter), zum Reinigen der Milchgeschirre, beim Kalben oder Putzen. Sie hatte für die gesamte Stallarbeit einzuspringen, wenn der Mann krank, verunglückt oder unvermeidlich abwesend war. Aber viele Frauen beherrschten die entsprechenden Arbeitsgänge gar nicht oder nicht ausreichend und mussten sie daher etwa durch einen älteren Sohn, Nachbarn, Verwandten oder Bekannten erledigen lassen. In Appenzell hielten sich die Frauen generell gerne von gröberen Arbeiten fern, denn sie fürchteten, ihre Hände würden dadurch die feine Stickarbeit nicht mehr bewältigen können.13 Zwei eher kritisch eingestellte Interviewpartnerinnen dort meinten sogar, die Frauen sollten diese Arbeiten, insbesondere das Melken, gar nicht erlernen, denn sonst würden nur ihre Ehemänner häufiger wegbleiben und dabei denken, die Frau könne ja diese Arbeit auch noch besorgen.14 Erledigte die Frau allzu viele männlich konnotierte Arbeiten, so konnte dies in der Tat eher sozial stigmatisierend wirken: Der Mann galt dann als Faulenzer. Häufig aber versorgten die Frauen die Schweine und ausschliesslich die Hühner. In Obwalden kam die Gartenarbeit samt der Konservierung der anfallenden Produkte hinzu. Dass den Frauen praktisch alle Hausarbeit übertragen wurde, war auch in nichtbäuerlichen Kreisen eine Selbstverständlichkeit. Ausserhalb des Hauses hingegen war die Arbeit auf den Wiesen und Weiden wiederum primär Sache des Mannes. Düngen, Bodenpflege, Mähen und Einnehmen des Grases, Zäunen und Weidgang waren die wichtigsten Obliegenheiten. Nur bei den zum schnellen Trocknen des Heus notwendigen Arbeiten wurden weitere Familienangehörige und eventuell fremde Helfer beschäftigt. Gemischtgeschlechtlich organisiert war, bei Einrechnung der vielen nachgelagerten Verarbeitungsschritte, auch die Obsternte. Auf den Alpen arbeiteten, anders als im inneralpinen Raum oder auch in Tirol und Bayern, nur Männer. Ihnen oblagen ferner die «Aussenbeziehungen», insbesondere der Gang auf den Markt.
Bereits Richard Weiss hat am Beispiel zweier Berggebiete auf einen ganz markanten Unterschied zwischen den beiden Hauptkonfessionen hingewiesen, nämlich auf die Kinderzahl. Während im protestantischen Safiental schon um 1910 die Zweikinderfamilie die Regel bildete, waren im benachbarten katholischen Lugnez Familien mit zwölf und mehr Kindern keine Seltenheit.15 Noch 1960 waren dort über 40 Prozent der Talbewohner weniger als 19 Jahre alt, gegenüber gut 30 Prozent in ganz Graubünden, beziehungsweise in der Schweiz.16 Der Strukturatlas der Schweiz zeigt allgemein auf, dass bis gegen 1960 die höchsten Geburtenzahlen in den katholischen Landgebieten lagen.17 Sehr viele Interviewpartner sowohl in Appenzell wie in Obwalden, insbesondere in Engelberg, wussten, wenn sie nicht selber aus kinderreichen Familien stammten, wenigstens in der Elterngeneration von solchen mit acht und mehr Kindern zu erzählen.18 Die Höchstzahl lag bei 17–18 Kindern. Dieses demografische Modell war schon im 17. und 18. Jahrhundert wirksam. Die Protestanten begannen damals mit der Geburtenkontrolle, während für die Katholiken ein hoher Bevölkerungsumsatz typisch war.19
Der Grund für diese Ziffern liegt natürlich in der fehlenden, den Eheleuten unbekannten und kirchlich verbotenen Geburtenkontrolle, worauf an anderer Stelle noch einzugehen sein wird.20 Gemäss der damals geltenden katholischen Lehre sollte Sexualität nicht nur ausschliesslich eine Sache zwischen Eheleuten sein, sondern in erster Linie der Zeugung von Nachkommen dienen. Eine hohe Zahl von Kindern sollten die Gläubigen nicht als Last, sondern als Gottesgeschenk betrachten. Die Kirche wertete dieses Verhalten – aus durchsichtigen Gründen, weil sich so die Zahl ihrer Mitglieder von selbst vermehrte – positiv; in Appenzell drückte einmal Bischof Meile bei der Firmung dem Vater einer 13-köpfigen Kinderschar persönlich die Hand, nachdem ihn der Pfarrer darauf aufmerksam gemacht hatte.21 Zur Arbeit in der Landwirtschaft war eine hohe Kinderzahl allerdings bis zu gewissen Grenzen hilfreich, denn Kinderarbeit im bäuerlichen Betrieb wurde als selbstverständlich betrachtet und bloss zwei Kinder wären dazu etwas wenig gewesen. Für die Knaben diente die Arbeit im elterlichen Landwirtschaftsbetrieb der Einübung aller notwendigen Fertigkeiten, diesen oder einen anderen Hof später übernehmen und selbständig führen zu können, denn landwirtschaftliche Schulen wurden noch kaum besucht.22 Für die Töchter galt dasselbe in Bezug auf die Hausarbeiten; dazu konnten sie gewisse Vorarbeiten für das Sticken durchführen. Beim Heuen mussten die Kinder beider Geschlechter mithelfen. Auch das Hüten und Treiben des Viehs konnte ihnen anvertraut werden, wenn auch diese Tätigkeit in unserem Untersuchungsgebiet weniger wichtig war als im inner- und südalpinen Raum.23 Waren die Knaben etwas älter, so konnten sie den Vater teilweise oder ganz bei der Stallarbeit vertreten. Auch in Alpbetrieben wurden Knaben in den langen Schulferien als sogenannte Handbuben für Hilfsarbeiten eingesetzt; für viele war das trotz den Anstrengungen die schönste Zeit des Jahres. Litt ein Verwandter oder ein Nachbar Mangel an Arbeitskräften, so wurden bei zahlreich vorhandenen eigenen Kindern einige davon gerne tageweise oder auch länger als Arbeitskräfte «ausgeliehen». Auch hier wurde von diesen die Abwechslung meist geschätzt, und die Eltern hatten einen Esser weniger am Tisch. Die Aussagen mehrerer älterer Leute zeigen, dass man die landwirtschaftliche Kinderarbeit generell nicht negativ bewerten sollte: Die Freude an den Tieren und das Leben im Freien, der Stolz auf ein gelungenes Werk und das Bewusstsein, Verantwortung übernehmen zu können, kompensierten die dazu notwendigen Anstrengungen. Für viele Kinder war es sicherlich attraktiver, in der freien Natur zu arbeiten als in der Schulbank still sitzen und ein von der Lebensrealität manchmal etwas entferntes Lernprogramm absolvieren zu müssen. Sehr viel hing allerdings davon ab, ob die Eltern bei der bäuerlichen Arbeit geschickt und liebevoll mit den Kindern umzugehen verstanden.
Das Urteil, der Appenzeller Bauer liebe seine Kühe mehr als seine Kinder, findet sich zum erstenmal gegen Ende des 18. Jahrhunderts beim Reiseschriftsteller Johann Gottfried Ebel und wurde dann zu einem bis ins 20. Jahrhundert weitergeschleppten Topos.24 An seinem Ausspruch ist wahr, dass dem Viehbauern, wie überall auf der Welt, seine Herde zweifelsohne viel galt. Sie war ihm nicht nur Lebensund Nahrungsgrundlage, sondern stellte seinen eigentlichen Reichtum dar, sie war Anlass zu Besitzerstolz und verschaffte ihm bei sorgfältiger Pflege soziale Reputation. Auch überliessen wie allüberall die Männer die allgemeine Erziehung ihrer Kinder zur Hauptsache ihren Ehefrauen. Den aufgeklärten Ebel aber dürfte wie die zum selben Urteil gekommenen Pfarrherren des 20. Jahrhunderts der Umstand etwas irritiert haben, dass die Eltern die Erziehung ihrer Kinder eher lässig nahmen, die Schulpflicht nicht selten als bloss notwendiges Übel betrachteten und demgegenüber den Wert der bäuerlichen Arbeit betonten, aber auch den Heranwachsenden, zum Ausgleich von der teilweise strengen Arbeit, die nötigen Freiräume zur Erholung einräumten. Darauf wird im Zusammenhang mit der Geltung der moralischen Normen noch einzugehen sein.25
Aus dem Gesagten wird klar, dass Dienstboten in der voralpinen Landwirtschaft im Gegensatz zu den typischen Ackerbaugebieten des schweizerischen Mittellandes eine Randerscheinung blieben. Der Prozentsatz der in den Betrieben arbeitenden Familienangehörigen betrug 1929 in Obwalden 85 bis 90 Prozent, in Appenzell 90 bis 95 Prozent.26 Weibliche ländliche Dienstboten waren eine Seltenheit, Knechte gab es in begrenztem Ausmass (meist 1–2) in den grösseren Betrieben. Solche Hilfskräfte mussten vorübergehend auch eingestellt werden, wenn etwa der Familienvater plötzlich verstarb oder arbeitsunfähig wurde und noch kein Nachfolger bereit war. Auch während der Alpzeit mussten einige Bauern mit Privatalpen, aber ohne geeignete Familienangehörige, Angestellte beschäftigen, da sie ja nicht an zwei Orten gleichzeitig sein konnten. In Engelberg allerdings nahmen einige Älpler tägliche Wanderungen bergauf und bergab auf sich; auch Kinder wurden für den Milchtransport ins Tal eingesetzt. Erst mit der besseren Erschliessung und dem Auto war es unter günstigen Umständen möglich, dass eine Person die zwei räumlich getrennten Güter betreute.
2.3 Soziale Verhältnisse und Ungleichheit innerhalb der Bauernschaft
Schon aus den bisherigen Ausführungen dürfte hervorgegangen sein, dass die Bauernschaft in Innerrhoden und Obwalden eine relativ homogene war und es keine grossen sozialen Unterschiede gab, jedenfalls geringere als in den Ackerbaugebieten des Mittellandes. Dieser Meinung waren auch praktisch alle Interviewpartner, wobei viele nicht von einer bäuerlichen Mittelschicht sprachen, sondern meinten, es seien eigentlich fast alle gleich arm gewesen. Einige machten ferner darauf aufmerksam, dass der Schein auch trügen konnte: Von nach aussen hin reich scheinenden, gut gekleideten und spendablen Bauern mit grossen Gütern wusste man nicht, ob sie nicht daneben vielleicht auch grosse Schulden hatten.
Grossbauern mit wesentlich mehr Land, dazu schönen Alpen und merklich mehr (oder auch bloss schöneren) Kühen als im Durchschnitt gab es zweifellos, aber sie waren Ausnahmen. In Appenzell gab es 1969, also zu einer Zeit, wo sich der Trend zur Flächenvergrösserung bereits bemerkbar machte, nur 42 Betriebe mit über 20 Hektaren Land; das waren 3,6 Prozent aller Betriebe.27 In Engelberg wurden von den Interviewten einige wenige Grossbauern in der Talebene genannt; dasselbe galt offenbar auch für die Sarner Ebene. Solche Güter waren gelegentlich durch eiserne Sparsamkeit oder glückliche Erbschaften zustandegekommen; bei mehreren Söhnen wurde dann aber der eventuell mehrere Liegenschaften umfassende Betrieb meist wieder aufgeteilt und somit auf das Normalmass zurückgeführt. Oder die Grossgüter gehörten reichen Viehhändlern,28 welche mit ihrer Tätigkeit ansehnliche Gewinne gemacht hatten und damit andere Liegenschaften von tief verschuldeten Bauern aufkaufen konnten. Diese reichen Bauern waren schon von der Grösse ihrer Betriebe her auf Dienstboten angewiesen.29 Sie verfügten häufig über Pferde, hatten eventuell sogar eine auswärtige landwirtschaftliche Schule besucht und waren daher innovativer, insbesondere schon in den 1940er-Jahren als Vorreiter der Mechanisierung.30 Sie trugen gute Kleider und ihre Frauen hatten eine teure Tracht. In Obwalden verfügten sie wohl auch über ein «Chremmli», einen eigenen Sitz in der Kirche, und konnten sich vor dem Kirchgang beim Coiffeur rasieren lassen. Im Gasthaus konnten sie sich Fleisch und Wein leisten, und gelegentlich lag auch eine Reise drin. Sie trugen aber auch finanziell zum Kirchenprunk bei, und ebenso erwartete man von ihnen eine freiwillige Mitbeteiligung an den sozialen Lasten, denn sonst hätten sie sich des Geizes, bekanntlich eine Todsünde, schuldig gemacht. Vor allem aber repräsentierte diese Schicht auf der politischen Ebene die Bauernschaft, als Gemeinde- oder Bezirksräte oder sogar als Präsidenten, als Vorsteher anderer Körperschaften (Kirchgemeinde, Kommissionen, Korporationen, landwirtschaftliche Vereine usw.), bis hin zur kantonalen Ebene, zuletzt in der Regierung, namentlich im Landwirtschaftsdepartement.31 Daneben aber gelang in den Landsgemeindekantonen nicht selten auch einem «Kleinen» der Aufstieg in offizielle Ämter.
Unbestritten bleibt jedoch, dass es am anderen Ende des sozialen Spektrums arme Leute gab. Ihr Prozentsatz ist schwierig abzuschätzen, war aber sicher grösser als derjenige der Reichen. Doch waren diese Leute nicht in erster Linie unter den Bauern zu finden und wenn schon, dann eher bei den Nebenerwerbslandwirten, vor allem aber bei der dörflichen Unterschicht der einfachen Arbeiter oder Ungelernten. Der Grossteil der Bauern führte eine Existenz im mittleren Einkommenssegment: «Es reichte gerade: genug zum Leben, aber keinen Luxus», so oder ähnlich lautete die Antwort der meisten Interviewten zur Frage der Auskömmlichkeit. Die Aussage entsprach ziemlich genau den damals auf dem Lande noch einigermassen verbindlichen Idealen der christlichen Lehre, die Genügsamkeit predigte und das Ansammeln von Reichtümern verurteilte. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Definition der Armut in den letzten 50 Jahren massiv verschoben hat, darf man im Rückblick die zitierte Feststellung so interpretieren, dass damit die Lebensverhältnisse einer breiten Schicht umschrieben wurden, die sich selber vermutlich nicht als arm fühlte, aber heute, gemessen an unserem gewohnten Lebensstandard und aufgrund der amtlichen Kriterien für Armut, sicher zu dieser Kategorie gezählt würde. Soziale Gleichheit gehörte nicht zu den unbedingt erstrebenswerten Gütern dieser ländlichen Gesellschaft, jene predigten nur die Sozialisten in den Städten und praktizierten die Kommunisten im Osten, mit furchtbaren Folgen. Die «Roten» waren ja in der Nachkriegszeit der ideologische Gegner Nummer eins, wie Geistlichkeit und konservative Politiker bei jeder Gelegenheit hervorhoben.
Die Landwirtschaft bot ihren Beschäftigten in jedem Fall eine minimale Subsistenzbasis, die, wenn nicht gerade zehn und mehr Kinder am Tisch sassen, wenigstens knapp zum Leben ausreichte. Vor allem von den Obwaldnern wurde betont, dass zwar viele bäuerliche Haushalte (relativ) arm gewesen seien, aber trotzdem nie Hunger gelitten hätten. Die dort übliche Selbstversorgung mit Kartoffeln, Gemüse und Obst trug wesentlich zu dieser vergleichsweise günstigen Situation bei. Die ärmeren Appenzeller Familien waren hier schlechter dran, denn sie mussten praktisch alle Lebensmittel, ausser den tierischen Produkten, zukaufen. Gerade Bargeld war aber in solchen Haushalten rar, kam allenfalls von Nebenverdiensten. Deswegen hatte hier auch die Stickerei der Frauen eine viel grössere existenzielle Bedeutung als die Heimarbeit in Obwalden. Sie war notwendiger Teil des Familieneinkommens, nicht bloss Zustupf. Dass diese ländliche Mittelschicht auf vieles verzichten musste, war selbstverständlich – dieser Verzicht wurde aber nicht als Armutsmerkmal betrachtet. Man hatte in vielen Fällen wenigstens die Wahl, wo man sparen und was man sich als «Luxus» trotzdem leisten wollte: beim Essen und Trinken, beim Heizen oder der Wohnungseinrichtung, bei der Bekleidung oder beim Reisen.32 Gelegentlich wurden spezielle Begrenzungsstrategien angewandt: Das Milchgeld, das Einkommen aus dem Verkauf von bestimmten Produkten (Obst, Eier) oder der Lohn der Frau und so weiter mussten bestimmte Ausgabeposten ohne andere geldliche Zuflüsse abdecken. In sehr vielen Fällen waren notwendige Einschränkungen auch nur vorübergehend: Der Bauer hatte kein fixes Einkommen, für ihn war selbstverständlich, dass es gute und schlechte Jahre gab, die Ernten und Viehpreise schwankten und dass dementsprechend die Einkünfte unterschiedlich waren.
Die tatsächliche Armut, also ein Zustand, wo eine Familie wirklich zeitweise Hunger litt und die Frauen kaum wussten, womit sie am nächsten Tag Brot kaufen oder den Kochtopf füllen sollten, wo die Kleidungsstücke vor allem Löcher hatten und die Kinder einen grossen Teil des Jahres barfuss gingen, die Wohnräume erbärmlich ausgestattet und im Winter eher kalt waren, wurde verschieden bewertet. Die Kinderzahl spielte bei solchen Zuständen zweifellos eine entscheidende Rolle. Aber dieses Thema war tabuisiert und wurde von den meisten als unabänderliches Schicksal hingenommen. Es gab Arme, deren Notlage man als selbstverschuldet betrachtete – etwa bei Trinkervätern und anderen unordentlichen Verhältnissen – und die deshalb wenig Erbarmen, sondern im Gegenteil Verachtung hervorriefen. Umgekehrt stiess unverschuldete Armut auf Mitleid und Hilfsbereitschaft in verschiedenen Formen. Solche Fälle waren infolge mangelnden Versicherungsschutzes vor allem für Personen damals nicht selten.33 Längere oder komplizierte Krankheiten sowie Unfälle mit nachfolgender teilweiser oder gänzlicher Arbeitsunfähigkeit konnten eine Familie an den Rand der Existenz bringen. Besonders schlimm war der Verlust eines Elternteils durch unerwarteten Tod. Wenn, aus welchen Gründen auch immer, keine Wiederverheiratung des überlebenden Ehepartners erfolgte, so wurden die Kinder, wenn nicht Verwandte oder die Paten sich ihrer annahmen, ins Waisenhaus gegeben. In Obwalden gab es mehrere davon. Im zentralen appenzellischen Waisenhaus «auf der Steig» waren 1948 noch rund 100 Kinder untergebracht.34 In diesen Häusern erhielten sie von Ordensschwestern eine strenge und oft lieblose Erziehung, besuchten aber im Übrigen die reguläre Dorfschule. Das im Mittelland früher übliche Verdingkindersystem kannte man dagegen in unserem Untersuchungsgebiet kaum. Männliche Waisen wurden allerdings häufig Bauernknechte.
Nachdem die wesentliche Ursache struktureller Armut, nämlich die hohe Kinderzahl, nicht hinterfragt werden konnte und durfte, waren die Kirche und ihre Repräsentanten ebenso wie die einfachen Gläubigen gefordert, die in der Bibel vorgezeichnete Karitas zu üben. Diese war im katholischen Raum sehr ausgebaut. Es gab neben der staatlichen und gemeindlichen Armenpflege und neutralen Organisationen (Winterhilfe usw.) auch kirchliche Institutionen, welche sich der Fürsorge der Armen widmeten. In Appenzell etwa half ihnen der Vincentiusverein mit Sach- und Geldspenden. So konnten sie zum Beispiel bei einem Bäcker einen Monat lag unentgeltlich Brot beziehen oder bekamen einen Sack Kartoffeln.35 Andere Vereine machten dort alljährlich Weihnachtsbescherungen für die Kinder armer Familien. In Obwalden existierten alte Spendstiftungen und das «Elisabethengeld» für Arme.36 Wie auch anderswo, gab es beiderorts in jeder katholischen Kirche einen speziellen, dem Antonius von Padua gewidmeten Opferstock. In diesen warf man vor allem Geld, wenn man einen Gegenstand verloren hatte und den mit Hilfe des Heiligen wieder zu finden hoffte. Die Erträgnisse gingen an die Armen. Ferner gab es sonntägliche Kirchenopfer zu deren Gunsten. Eine in der ganzen katholischen Welt bekannte und bis in die 1960er-Jahre noch viel benutzte Einrichtung war ferner die Klostersuppe. Es gab sie in den beiden Kapuzinerklöstern von Appenzell und Sarnen, ebenso in den beiden dort ansässigen Frauenklöstern sowie im Stift Engelberg. Die nicht allzu weit entfernt wohnenden Dorfarmen konnten sie dort mittags in einem besonderen Stübchen einnehmen oder sogar in einem Kesselchen nach Hause tragen37 und hatten damit wenigstens eine warme Mahlzeit im Tag. Es war ferner üblich, dass die Armen an die Türen der Pfarrhäuser klopften, um eine Gabe zu erbitten. Das Verhalten der geistlichen Herren dabei wird von den befragten Leuten unterschiedlich geschildert: Es gab neben zugeknöpften, ja geizigen, auch solche, die trotz ihrer damals nicht seltenen geringen Entlohnung sehr mildtätig waren, ja in Ausnahmefällen die Bettelleute sogar zu Tisch luden.38 Ein solches Verhalten konnte selbstverständlich von «Berufsbettlern» auch missbraucht werden und dann auf die Dauer lästig, ja fast erpresserisch werden. Dreiste Bettler wie in früheren Jahrhunderten gab es allerdings nur mehr selten; die meisten schämten sich ihres Zustands. Bei grossen und katastrophalen Unglücken, die sogar mehrere Familien betrafen, wurden, wie anderswo auch, spezielle Aktionen in Gang gesetzt, um den Betroffenen zu helfen.