Kitabı oku: «Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren», sayfa 7
2.4.3 Die Bußenkataloge der Stammesrechte
Die Stammesrechte der fränkischen Zeit enthalten umfangreiche Bußenkataloge. In großer Ausführlichkeit listen sie verschiedenste Verletzungshandlungen auf und sagen dann, welche Bußsumme dafür zu zahlen sei. Die kleinmaschige Kasuistik springt sofort ins Auge. So nennt der Pactus Alamannorum, das Stammesrecht der [<<54] Alemannen aus den Jahren um 613/623, nicht weniger als 13 Bußvorschriften über verletzte oder gelähmte Finger einer Hand. Die Folgen der Unrechtshandlungen sind in den Stammesrechten in einer bestimmten Zahl von Denaren und Solidi, Pfennige und Schillingen, wiedergegeben. Solche Münzen gab es kaum. Deshalb finden sich am Ende einiger Leges Umrechnungsregeln, wie man die Bußen in Form von Schweinen, Rindern und Schafen erlegen konnte. Abstrakt-generelle Formulierungen oder gar Ermessensspielräume auf der Folgenseite enthalten die Quellen nicht. Die jeweiligen Sätze beginnen oftmals mit der immer gleichen Formulierung si quis. Das Vorbild antiker Kaisergesetze ist handgreiflich spürbar, zumindest in den Formulierungen. Die römische Gesetzestechnik hat an solchen Stellen die Stammesrechte geprägt, wenn auch die Inhalte denkbar verschieden waren.
Bei den meisten Stammesrechten handelt es sich nicht um hoheitlich befohlene Gesetze, bei den aufgesplitterten einzelnen Bußvorschriften nicht um Tatbestand und Rechtsfolge. Deswegen ist der Sinn und Zweck der Regelungen nicht leicht zu verstehen. Soweit die in den Leges aufgeführten Bußen der gewohnheitlichen Überlieferung entsprechen, dürften die genannten Zahlen die üblichen Sätze widerspiegeln, auf die sich die Parteien im dinggenossenschaftlichen Verfahren einigten. Beim Streit um erlittenes Unrecht stand jederzeit der Weg der Fehde offen. Wenn aber die Parteien bereit waren, sich gütlich zu einigen, und dafür freiwillig die Dingversammlung anriefen, dürften sie daran interessiert gewesen sein, einen tragbaren Ausgleich zu erzielen. Hierfür bot es sich an zu wissen, was andere Widersacher in ähnlichen Fällen an Bußen gezahlt und empfangen hatten. Modern gesprochen konnte der Hinweis auf übliche Bußsätze die Transaktionskosten senken, die mit aufwendigen Verhandlungen im Einzelfall verbunden waren. Wer dasselbe zahlte wie andere Täter in gleichgelagerten Fällen, wurde nicht übervorteilt. Und wer dieselbe Summe an Vieh annahm wie andere Geschädigte, machte sich damit nicht lächerlich und wahrte seine Familienehre. Wenn die Dinggenossenschaft oder wenigstens besonders erfahrene Teilnehmer solche Vergleichsfälle kannten, dürfte es viel leichter gefallen sein, zu vermitteln und annehmbare Sühnevorschläge zu unterbreiten. Das sog. Kompositionensystem konnte insoweit durchaus friedliche Einigungen befördern und Selbsthilfehandlungen eindämmen. Hoheitlichen Zwang erforderte dies nicht, war also mit einer Ordnung vereinbar, die dem Einzelnen die freie Entscheidung zwischen Gewalt und Aussöhnung offenhielt.
Die Bußen selbst hatten verschiedene Zielrichtungen. Nach der Lex Salica fiel der größte Teil als faidus (Fehdegeld) an den Prozessgegner. Mit dieser Komposition legten die Gegner die Fehde bei. Daneben war mit dem fredus (Friedensgeld) eine Abgabe an den Richter oder König fällig, ganz so wie bereits Tacitus es geschildert hatte. Ein dritter Bestandteil, die dilatura (Weigerungsgeld), ist nur schwer zuzuordnen. Vielleicht [<<55] war es eine Art Gerichtsgebühr. Manche Rechtshistoriker sehen in der aufgefächerten Bußzahlung die Unterscheidung von strafrechtlicher Geldstrafe und zivilrechtlichem Schadensersatz. Doch so wenig dies für die ältesten Schichten in der taciteischen Zeit überzeugt, so zweifelhaft bleibt diese moderne Aufspaltung für das frühe Mittelalter. Viel eher hat man es mit einer Vermittlungsgebühr für den wiederhergestellten Rechtsfrieden zu tun, eventuell auch mit entstehenden Gerichtskosten. Die Zeitgenossen dürften dagegen Fehde und Blutrache kaum in private (zivilrechtliche) und öffentliche (strafrechtliche) Bestandteile getrennt haben.
Eine strenge Verpflichtung, die dinggenossenschaftlich vermittelten Vergleiche und Urfehdeschwüre einzuhalten, konnte ohne obrigkeitliche Gewalt nicht bestehen. Dafür galt der Bruch der Urfehde als besonders bußwürdiges Unrecht. Das Stammesrecht der Langobarden, der Edictus Rothari von 643 (auch Edictum), enthält eine Vorschrift über den Urfehdebruch. Wer nach einem Sühnevertrag die Fehde weiterführte, konnte sich danach nur noch friedlich einigen, wenn er bereit war, die zuvor schon erhaltene Komposition doppelt zurückzuzahlen (Kap. 143). Der Empfänger einer Buße sollte also nicht Kühe und Schafe einstreichen und danach weiterhin Rache üben. Auf diese Weise erwuchs der Eidbruch, die verletzte Urfehde, zum höchsten Unrecht überhaupt. Ein Wergeldgläubiger, der als Manngeld die Komposition für einen erschlagenen Menschen erhalten hatte, sah sich also einer dreifachen Forderung gegenüber, wenn er nach einer erfolglosen Fehde auf den gütlichen Weg zurückkehrte. Der Bruch des Sühnevertrages war dann, gemessen an den Folgen, doppelt so hohes Unrecht wie Mord. Mit solchen Rechtsgewohnheiten, im Fall der in Italien siedelnden und vergleichsweise straff organisierten Langobarden vielleicht sogar mit einer königlichen Anordnung, versuchten Stammesrechte, das Ansehen der Dingversammlung und die Beachtung ihrer Sprüche zu verteidigen. Die spontan ausgebrochene Fehde und die verletzte Urfehde waren keineswegs gleichwertige Gewalttaten. Wer den Weg des Friedens einmal gesucht hatte, sollte dabei bleiben, selbst wenn man ihn dazu nicht zwingen konnte.
Das Kompositionensystem, auch wenn von einem eigentlichen System kaum die Rede sein kann, könnte in einer Gesellschaft ohne echte hoheitliche Gewalt also durchaus einen erfolgversprechenden Beitrag geleistet haben, wenn es darum ging, Frieden herzustellen und Fehden beizulegen. Ob die Rechtsaufzeichnungen hierzu selbst beitrugen, steht auf einem anderen Blatt. Die rechtshistorische Forschung diskutiert dieses Problem seit längerem und fragt nach der Effektivität der Stammesrechte. In der Tat mag man genau hieran zweifeln. Die Leges sind allesamt in lateinischer Sprache überliefert. In einer frühmittelalterlichen Gesellschaft, die weitgehend schriftunkundig war, bestand schlechthin keine Möglichkeit, auf einer Dingversammlung die [<<56] Rechtsaufzeichnung als gesetzesgleiche Richtschnur heranzuziehen. Geistliche konnten zwar die lateinische Sprache lesen, nahmen aber an den dinggenossenschaftlichen Verhandlungen nicht teil. In den Einzelheiten ist es geboten zu unterscheiden. Die Lex Salica, das Stammesrecht der salischen Franken aus den letzten Regierungsjahren des Königs Chlodwig (ca. 510), enthält in einer Fassung eine sog. malbergische Glosse. Mitten in den lateinischen Text fügten die zeitgenössischen Bearbeiter germanische Rechtswörter ein, die schlaglichtartig eine einzelne Regelung bezeichneten. Ein Schweinediebstahl hieß etwa chramnecalcio, ein ritueller Erdwurf chrenecruda. Der Malberg, nach dem die Glossierung ihren Namen trägt, benennt den Gerichtshügel, auf dem die Dinggenossenschaft zusammentrat. Doch wenn kaum jemand lesen und schreiben konnte, erleichterten die bloßen germanischen Begriffe den Umgang mit einer lateinischen Rechtsaufzeichnung nicht. Ob die Lex Salica jemals überhaupt als normative Richtschnur benutzt wurde, ob die dinggenossenschaftliche Rechtsfindung sich jemals an ihr ausrichtete, ist nicht belegbar. Dennoch ließ Karl der Große knapp 300 Jahre später das Stammesrecht modernisieren und in einer Lex Salica Karolina neu aufzeichnen. Und diese spätere Fassung ist ihrerseits umfassend durch Dutzende von Handschriften belegt.
In anderen germanischen Reichen fällt es leichter, Verbindungslinien von der Rechtsaufzeichnung zur Rechtspraxis zu ziehen. Die Lex Baiuvariorum, das bayerische Stammesrecht aus der Zeit vor 748, ist im Gegensatz zur Lex Salica in etwa 30 Handschriften aus dem 9. bis 11. Jahrhundert überliefert. Bereits dies deutet auf eine größere Verbreitung und praktische Benutzung hin. Dazu enthält die Aufzeichnung eine besondere Vorschrift über einen Grafen, der in bestimmten Orten einen Richter bei sich haben soll. Dem Richter kam die Aufgabe zu, in diesem ihm zugewiesenen Gebiet zu richten. Genau dafür sollte er den liber legis, also geschriebenes Recht, bei sich tragen, damit er in richtiger Weise richten konnte (Lex Bai. II 14). Sinnvoll waren solche Regelungen nur, wenn der Schrift auch in der Rechtspraxis eine höhere Bedeutung zukam. Noch einen Schritt weiter ging das westgotische Stammesrecht, die Leges Visigothorum (verschiedene Redaktionsstufen, vor allem um 654). Dort verpflichtete der König Parteien und Richter, ausschließlich nach der königlichen Rechtsaufzeichnung zu richten und nicht nach anderen Büchern, die offenbar ebenfalls zirkulierten. Und falls sich das geschriebene Recht als lückenhaft entpuppen sollte, war der Richter gehalten, offene Fragen dem Herrscher vorzulegen, der dann das Stammesrecht erneuern sollte. Einschübe und Zusätze späterer Könige zeigen, dass genau dies tatsächlich geschah. Die Effektivität der frühmittelalterlichen Leges lässt sich also nicht über einen Kamm scheren. In einem anderen Punkt herrscht dagegen Klarheit. In keinem Fall stellte ein Stammesrecht die Verpflichtung auf, rechtliche Streitigkeiten [<<57] ausschließlich auf gerichtlichem Wege auszutragen. Die königliche Autorität stand zwar in verschieden starker Ausprägung hinter der Aufzeichnung. Doch dies hatte nichts mit Gerichtszwang oder gar einem Gewaltmonopol zu tun.
2.4.4 Gerichtsverfassung und Verfahrensrecht in der fränkischen Zeit
Die frühmittelalterlichen Stammesrechte ermöglichen vielfach Einblicke in die zeitgenössische Gerichtsverfassung und den Verfahrensablauf. Ob sie die tatsächliche Handhabung getreu abbilden, lässt sich nicht klären. Auch die Abweichungen im Einzelfall gilt es zu beachten. Einige Grundzüge aber scheinen weit verbreitet gewesen zu sein. An erster Stelle steht die Unterscheidung von Richter und Urteiler. Der Richter leitete die Dingversammlung und verkündete Entscheidungen bzw. Entscheidungsvorschläge. Vermutlich war er an vielen Orten vom Herrscher eingesetzt, oftmals handelte es sich um Grafen, königliche Gefolgsleute, die in verschiedenen Regionen des Reiches die herrscherliche Macht verkörpern sollten. Mit der Rechtsfindung selbst hatten sie freilich nichts zu schaffen. Dies blieb Aufgabe der Dinggenossen, der Teilnehmer an der Dingversammlung. Aber die Anbindung des Richteramtes an die Person des Königs lässt sich bis in die älteste Überlieferung zurückverfolgen, auch in antiken Kulturen.
Eine Spezialisierung bestimmter Personen ist zunächst nicht greifbar. Die Lex Salica nennt Rachinburgen, die besondere Aufgaben auf dem Malberg übernahmen. Möglicherweise bedeutet der Begriff „Rechenbürgen“. Vielleicht mussten diese Männer die fälligen Bußzahlungen ausrechnen und dafür einstehen, dass ihre Vorschläge den Rechtsgewohnheiten entsprachen. Jedenfalls sollten sie in der Lage sein, das salische Recht zu künden. Wenn die Parteien sie dazu aufforderten und die Rachinburgen sich weigerten, sollten sie selbst bußfällig werden (Lex Sal. 57 §§ 1–2). Die Rachinburgen wählte man zunächst wohl auf jeder Dingversammlung neu aus, bis es üblich wurde, immer dieselben Männer zu bestimmen. Sie besaßen mithin besondere Erfahrung. Alleinentscheidende Urteiler waren sie aber wohl nicht. Der Umstand, die Dingteilnehmer, konnte jederzeit die Zustimmung (Vollbort) zu ihren Entscheidungsvorschlägen verweigern. Dann war die Dingversammlung nicht in der Lage, Recht zu finden. Zugleich wahrte dieses Zusammenspiel aber die große Bedeutung des Konsenses. In einer Zeit ohne zwingende Gesetze und ohne hoheitliches Gewaltmonopol konnten rechtliche Entscheidungen nur mit breitester Zustimmung ergehen, wollten sie überhaupt Aussicht auf Befolgung haben. Dieser Konsens schloss sogar die Streitparteien ein, also selbst denjenigen, der am Ende etwas zu leisten hatte. Durch Urteilserfüllungsgelöbnisse sicherten die Parteien zu Beginn der Verhandlungen zu, sich an die späteren Sprüche der Dinggenossenschaft zu halten. Auf diese Weise gingen die [<<58] Urteilsvorschläge nach und nach in Urteile über, freilich getragen von der vorausgehenden Zustimmung der beiden Seiten. Die Rückkehr zu Fehde und Gewalt stand weiterhin offen, wenn auch nur um den Preis des Eidbruchs.
An dieser Stelle kam die richterliche Gewalt ins Spiel. Sie war schwach ausgeprägt und zeigte erste Zähne nur ganz am Ende des Rechtsstreits. Wer ein Urteilserfüllungsgelöbnis abgelegt hatte, sollte sich auch daran halten. Dies zu überwachen, scheint eine richterliche Aufgabe gewesen zu sein. Einer der ältesten Namen des Richters in der Lex Salica deutet darauf hin: Thungin. Die Herkunft des Wortes ist nicht völlig geklärt, doch sehr plausibel ist eine enge Verwandtschaft mit dem Verb „zwingen“. Der Thungin, möglicherweise zunächst ein von den Merowingern besiegter ehemaliger fränkischer Kleinkönig, konnte Zwang ausüben, anfänglich nur ganz am Ende des Prozesses, wenn es darum ging, die geschworenen Eide zu halten und die versprochene Buße zu leisten. Im Hinblick auf die Leitfrage nach der hoheitlichen Gewalt lag hier der entscheidende Durchbruch herrscherlicher Macht. Die richterliche Macht dehnte sich gleichsam rückwärts vom Ende zum Anfang des Prozesses hin aus. Im nächsten Schritt konnte der Richter die Parteien zwingen, nicht nur ihre Eide zu halten, sondern das Urteilserfüllungsgelöbnis überhaupt abzugeben. Und schließlich gebot das Stammesrecht demjenigen, der vor die Dingversammlung geladen war, dort auch zu erscheinen. Weigerte er sich, drohte die Lex Salica ihm die Vorladung vor den König an, im schlimmsten Fall hatte er die Einziehung seines Vermögens zu befürchten (Lex Sal. 56).
In der Karolingerzeit wird im Frankenreich eine königlich betriebene Gerichtsreform greifbar. Karl der Große (reg. 768–814) beschränkte zunächst das offenbar schwerfällige dinggenossenschaftliche Verfahren. Gerichtsversammlungen mit der Teilnahme sämtlicher waffenfähiger Männer des Ortes oder der Gegend sollte es nur noch dreimal pro Jahr geben. Daneben sah er kleinere Versammlungen vor, an denen nur noch sieben oder zwölf Urteiler teilnehmen sollten. Diese Urteilsfinder nannte man nun Schöffen (scabini). Rachinburgen waren wohl nicht mehr erforderlich. Die Auswahl der Schöffen oblag im Wesentlichen dem Grafen, also dem Gerichtsvorsitzenden. Zumindest indirekt waren sie somit herrschaftlich ernannt, selbst wenn die Gerichtsgemeinde ihrer Wahl zustimmen musste. Die Schöffen leisteten auch einen Eid und waren grundsätzlich auf Lebenszeit bestellt. Hier von Beamten zu sprechen3, geht aber an der Sache vorbei. Sie erhielten kein Geld und gingen ihren üblichen Beschäftigungen in der Landwirtschaft oder im Handwerk nach, wenn sie nicht zur [<<59] Gerichtsversammlung erscheinen mussten. Die Wahl zum Schöffen konnte womöglich einen sozialen Aufstieg bedeuten und das Ansehen erhöhen, war aber keine Berufstätigkeit im modernen Sinne. Ganz wörtlich hat man es mit einem Ehrenamt zu tun.
Aus der karolingischen Unterscheidung der groß besuchten Dingversammlung und des kleineren Schöffenrates scheinen mit der Zeit zwei verschiedene Arten von Gerichtsbarkeit entsprungen zu sein: das echte Ding und das gebotene Ding. Das echte Ding, die allgemeine Dingversammlung, verbunden mit vergleichsweise hohem Aufwand, konzentrierte sich mehr und mehr auf besonders wichtige Konflikte. Das gebotene Ding, die Schöffenversammlung, beschäftigte sich dagegen vornehmlich mit kleineren und leichteren Sachen. Die Zweiteilung dürfte von mehrhundertjähriger Dauer gewesen zu sein. Unter durchaus veränderten Rahmenbedingungen taucht das echte Ding im Hochmittelalter als hohe Gerichtsbarkeit, das gebotene Ding als niedere Gerichtsbarkeit in den Quellen auf. Im dörflichen Bereich haben sich Reste dieser Unterscheidung bis weit in die frühe Neuzeit hinein erhalten. Im ersten Falle, beim echten Ding, ging es später um Blutbann und Todesstrafen, also um das hoheitlich verliehene Recht, über Leben und Tod zu richten. Die zweite Grundform, das gebotene Ding, befasste sich dagegen etwa mit Schuldklagen. Davon war die fränkische Zeit noch weit entfernt. Auch geht es hierbei nicht um die Über- und Unterordnung verschiedener Gerichte.
Ein Befund aber bleibt im Hinblick auf die Leitfragen der Prozessrechtsgeschichte wichtig. Schon in der karolingischen Zeit zeigen sich erste Ansätze unterschiedlicher Zuständigkeiten. Nicht ein diffuses Thing der freien Männer, wie in der verklärenden Forschung des 19. Jahrhunderts angenommen, sondern durchaus verschieden zusammengesetzte Personenkreise mit unterschiedlichen Vorsitzenden beschäftigten sich mit der Beilegung rechtlicher Streitigkeiten. Der König selbst stand an der Spitze. Er setzte Sendgrafen (missi) ein, die darüber wachten, dass ein Graf seine richterlichen Aufgaben erfüllte. Blieb der in Rechtssachen angerufene Graf untätig, konnte der Sendgraf selbst Gericht halten. Diese jeweiligen Funktionsträger lassen sich nur schwer voneinander abgrenzen. Doch wichtiger als die Feinheiten erscheint der Grundsatz: Der Herrscher übertrug bestimmte Tätigkeiten auf seine Gefolgsleute (Graf, lat. comes, bedeutet Begleiter) und sorgte zugleich für eine gewisse Überwachung. Inwieweit sich dies alles bewährte, lässt sich kaum klären. Aber ein wichtiger Schritt zur obrigkeitlichen Ordnung des Gerichtswesens war getan.
Das Verfahren vor der Dinggenossenschaft oder dem karolingischen Schöffengericht ist in den Einzelheiten unbekannt. Öffentlichkeit und Mündlichkeit, weitgehende Parteiherrschaft und Unmittelbarkeit waren weniger bewusste Prozessmaximen als vielmehr schlichte Notwendigkeiten in einer Zeit ohne ausgeprägtes hoheitliches [<<60] Gewaltmonopol und ohne gelehrte Juristen. Streitige Behauptungen und Fragen, die einen Konsens der Beteiligten verhinderten, versuchten solche Versammlungen überwiegend durch Eid zu klären. Die Feinheiten werden in späteren Quellen freilich viel deutlicher greifbar. Doch gab die Gerichtsreform Karls des Großen den Sendboten (missi) das ausdrückliche Recht der inquisitio. Die Schöffen konnten gemeinsam mit dem Sendboten Sachverhalte ermitteln, etwa Grenzen besichtigen. Eigens bestellte Geschworene (iuratores) hatten dem Sendgrafen mitzuteilen, ob sie von begangenen Verbrechen in ihrem Bereich wussten. Wie häufig dies geschah und wie effektiv derartige Anordnungen waren, lässt sich nicht klären. Auch Urkunden, die spätere Unsicherheiten klären sollten, sind aus dieser Zeit erhalten. Sachverhaltserforschung und Tatsachenbeweis waren also nicht gänzlich unbekannt.
Der enge Zusammenhang zwischen Gerichtsverfassung und Verfassungsgeschichte lässt sich nach dem Ende der Karolingerzeit besonders deutlich beobachten. Die zunächst vom König eingesetzten Gerichtsherren (Grafen) erhielten für ihre Tätigkeit Ländereien als Lehen. In dem Maße, in dem sie innerhalb ihres eigenen Bereiches an Ansehen gewannen, stiegen sie von königlichen Vasallen mehr und mehr zu Landesherren auf. Ihre vom König abgeleitete Gerichtsgewalt nahm immer stärker die Form territorialer Gerichtsbarkeit an. Zugleich konnten oder wollten die Grafen in ihrer Grafschaft den Gerichtsvorsitz nicht weiterhin selbst ausüben. Sie benötigten Vertreter, nämlich Schultheißen oder Vögte. Diese Vögte erhielten ihre Gerichtsgewalt zunächst vom König und bewegten sich damit in einer Grauzone zwischen zwei Obrigkeiten, unterstanden sie doch sowohl dem König als auch dem Grafen. Doch die sog. Vogteirechte des Reiches gingen nach und nach an die Landesherren oder die entstehenden Städte über. Befand sich ein König in finanziellen Nöten, verpfändete er oftmals seine Rechte gegen die Zahlung bestimmter Geldsummen. Das zog sich bis weit ins Mittelalter hinein. Für die Frage nach der Gerichtsgewalt handelt es sich jedoch um entscheidende Verschiebungen. Selbst wenn im Kern die richterliche Gewalt vom König abgeleitet blieb, wurde das Bild der einzelnen Gerichtsherrschaften zunehmend bunter. In der Praxis gab es damit nicht eine einheitliche Gerichtshoheit, sondern zahlreiche und ganz verschieden ausgestaltete. Die Bedeutung der Gerichtsgewalt als oberstes Herrschaftsrecht bis weit in die frühe Neuzeit hinein zeigt sich bereits an dieser frühen Verselbständigung des Grafschaftsverbandes. Wer tatsächlich die Gerichtsgewalt innehatte, übte die Landesherrschaft aus. [<<61]