Kitabı oku: «Integrative Psychotherapeutische Diagnostik (IPD)», sayfa 10

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In der ins Soziale, Gesellschaftliche und Politische ausgeweiteten Dimension dieser Überlegungen finden nun Visionen und Utopien des Subjekts das eigene Leben und das Sein mit Anderen betreffend statt. Unter „Visionen“ sollen hier persönliche Lebensentwürfe im Nahraum des Subjekts verstanden werden, unter „Utopien“ dagegen Entwürfe ins Gesellschaftlich-Politische. Beide Begriffe ähneln sich dort, wo Visionen und Utopien als kreatives Startkapital für persönliche Entwicklungen, als Hoffnungen (Bloch, 1918) auf ein besseres Leben hin entworfen werden. Persönliche Visionen ordnen das Denken, Wollen und Urteilen des Subjekts hin auf sein Handeln (Joas, 1996). Depressive Menschen etwa zeigen diesbezüglich ein pathologisches Muster der Verneinung. Insofern ist das Entwickeln von Phantasie und persönlichen Visionen (Prospektion) ein zentraler Persönlichkeitsprozess, dessen Bedeutung und Förderung kaum zu unterschätzen ist (Kunz, 1946).

In der Dimension ihres Veränderungspotenzials treten Visionen und Utopien immer auch als gesellschaftliche, ethische und politische Kritik in den Raum. Weil sie Umwertungen konservativer Vorstellungen intendieren, werden sie von der hegemonialen Macht skeptisch beobachtet sowie teils als naiv und sinnlos entwertet (do Mar Castro Varela, 2007). Kreativität aber stellt immer auch das substanzialistische Denken in Frage (Mannheim, 1952). Dies zeigt sich aktuell etwa in der negativen Ausarbeitung der Migrantenthematik, die durchwegs (falsch) pathologisiert wird (do Mar Castro Varela, 2016). Der unter Umständen wertvolle „kreative Blick diasporaler Menschen“ (Han, 2011) aus den „Dritten Räumen“ (der Hybridisierung zweier oder mehrerer Kulturen) auf unsere Gesellschaft wird durchweg angstvoll abgeblendet (Bhabha, 2000; Choudhury, 2017). Konservativer Machtanspruch und Kreativität stehen sich im Wege.

Dies ist der Grund, weshalb politische Utopien zum Teil zu Ideologisierung, sogar zum Totalitarismus neigen, selbst dann noch, wenn sie ein im Grund positives Ziel avisieren: Die Utopie muss ihre Kraft gegen konservative Mächte bündeln. Ein Beispiel hierfür ist die Frauenbewegung aus den 1960er Jahren mit dem sich anschließenden Feminismus. Politische und Staatsgesellschaftliche Utopien dagegen können hochambivalent oder auch durchweg destruktiv sein. Bismarcks Utopie und Politik für den Deutschen Staat waren höchst fragwürdig, Hitlers Utopie des Nationalsozialismus und der Vernichtung des Judentums in seiner brutalen Unmenschlichkeit grotesk und absurd, die sozialistische Utopie von Marx und Engels verfehlte mit dem Ideal ihres Menschenbildes die Wirklichkeit des Subjekts – zum Humanismus ließ der Mensch sich nicht mit Gewalt zwingen (vgl. Waschkuhn, 2003; Abosch, 1998; Popper, 1996). Daher entwickeln Visionen und Utopien nur dann konstruktives Potenzial, wenn sie in diskurs- und tragfähigen Gemeinschaften entwickelt werden und wenn Zeit für ihr prozesshaftes Heranreifen gegeben ist.

Freiheit und Verantwortung

In der Thematisierung von Macht und Gewalt wurde die Rolle der Freiheit als Phänomen der persönlichen und gesellschaftlichen Zwischenmenschlichkeit bereits angesprochen. Hier soll sie in ihrer Komplementarität zu den Rechten und Pflichten, der Verantwortung, der Vernunft und dem ethischen Handeln weiter ausgearbeitet werden. Dies wird nicht der Ort sein, um die interessante und komplexe Ideengeschichte dieser Themen auszubreiten (Berlin, 2001, 2006). Es werden vielmehr diejenigen Aspekte herausgehoben, die dem Menschen Aufgabe und Herausforderung sind, an denen er wachsen oder scheitern kann, je nach Kontingenz und Konstitution.

Unser zeitepochales Verständnis von Freiheit hat lange Wurzeln, die wenigstens andeutungsweise ins Bewusstsein gerufen werden sollen. In der Antike galt Freiheit ausschließlich als ein Privileg der Bürger und Gebildeten, im Mittelalter hieß Freiheit vor allem physisch frei sein von Leibeigenschaft und Sklaventum. Erst ab der Neuzeit sorgen die Aufklärung, die staatliche Gewaltenteilung, die Trennung von Staat und Kirche sowie Prozesse der Säkularisierung für einen Freiheitsbegriff, der dem Neuzeitlichen zumindest nahekommt – eine Geburt der Freiheit aus der Entfremdung (Gehlen, 1975). Damit zusammenhängend wurden Entwicklungen der Wissenschaftsfreiheit, des Liberalismus, der Demokratisierung und Wirtschaftsfreiheit, am Ende die Freiheit der Künste ermöglicht. Das Denken in Kategorien personaler Freiheit ist also eine durchaus junge Errungenschaft, die als schrittweise Anerkennung von Freiheitsbedürfnissen gesehen werden kann.

Strukturell kann negative Freiheit von positiver differenziert werden (Constant, 1819). Negative Freiheit ist „Freiheit von …“, z. B. physischer Gewalt und Unterdrückung (Unversehrtheit), Zwängen verschiedenster Art, etwa Fremdbestimmung, Einmischung und Bevormundung. Als positive Freiheit („Freiheit zu …“) wird die Möglichkeit zur Selbstbestimmung nach eigenen Vorstellungen (Handlungsfreiheit, Bewegungsfreiheit) und selbstgewählten Zielen (Strebensfreiheit; Beziehungen, Arbeit, Freunde, Gesellschaft, Politik) verstanden, dazu gehört auch die Freiheit, sich von Anderen zu unterscheiden (Gedankenfreiheit: Wissenschaften, Forschung), freien Zugang zu Informationen zu haben und die eigene Meinung frei äußern zu können (Willensfreiheit). Nicht zuletzt die schöpferische Freiheit, sich etwa in Literatur, Kunst, Musik usw. auszudrücken. Freiheiten müssen also im Plural gedacht werden.

Zunächst sollen Themen der personalen Freiheiten besprochen werden, anschließend jene in gesellschaftlichen Dimensionen. Freiheit und Verantwortung stehen in einem rekursiven Bedingungsverhältnis. Für jede Freiheit, die der Mensch sich herausnimmt, muss er entweder vernünftigerweise die Verantwortung übernehmen oder er wird unter Zwang von außen zur Verantwortung herangezogen. Umgekehrt setzt die Entscheidung, Verantwortung zu übernehmen, die Möglichkeit einer freien Wahlmöglichkeit des Handelns voraus. Orientierungen für eine solche Entscheidung erhält der Mensch einesteils aus den Rechten und Pflichten, die in seiner Umgebung moralisch und rechtlich Gültigkeit beanspruchen, andernteils aus seiner Vernunft und den ethischen Werten, die er aus seiner Lebensgeschichte heraus internalisiert hat oder selbst vertritt (Bühler, Ekstein & Simkin, 1998).

Legte man zugrunde, dass Freiheit das höchste Gut des Menschen sei und dass sie seine Würde ausmache, setzte man sie damit implizit als ein Naturrecht fest. Gewärtigt man indessen, dass dieses Verständnis der Freiheit als Naturrecht auch die Kehrseite ihrer Entgrenzung beinhaltet, wird deutlich, dass sie doch weitreichender Apologien bedarf. Personale Freiheit stellt sich nicht als ein Besitz dar, den der Mensch hat und über den er verfügen kann. Vielmehr besitzt er von Natur aus nur das Potenzial hierzu und muss erst lernen, frei zu werden, also seine Freiheit verantwortlich zum eigenen und zum Wohl seiner Mitwesen zu nutzen. Hierbei spielen Sozialisation, Gesellschaft und Zeitepoche die größte Rolle. Grundlage hierfür ist die anthropologische Erfahrung, dass der Mensch seine Freiheit in konflikthafter Auseinandersetzung mit seiner äußeren und inneren Natur zu erbringen und zu bewahren hat. Das Verständnis hierzu erbringt eine Betrachtung seiner „Doppelnatur als Kooperations- und Konfliktwesen“ (Höffe, 2015, 155ff.).

Menschen sind in vielfältigem Zusammenwirken aufeinander angewiesen, das beginnt von der frühen Zeit an mit der Angewiesenheit des Kindes auf elterliche Fürsorge, setzt sich fort in Freundschaften und der Praxis wechselseitiger Herausforderung, Unterstützung und Anerkennung, führt weiter in Spezialisierung und Arbeitsteilung und mündet im Verlangen nach Liebe und Reproduktivität erneut in Dynamiken intensivster wechselseitiger Kooperation. Auf der anderen Seite stehen extensive Bedürfnisse kooperativen Motivationen harsch im Wege. Geschwisterliche Konkurrenz um die knappen Ressourcen der Eltern etwa stellt nicht ein persönliches, sondern ein evolutionäres Problem dar, dem alle Menschen ausgesetzt sind (Trivers, 1974). Die Spielräume kindlicher Freiheit werden durch sozialisative Werte und Leistungsnormen begrenzt. Dieser Schmerz muss vom Subjekt angenommen werden können. Selbst Liebe, Lob und Zuwendung werden verteilt, weil sie knapp sind. Dasselbe gilt für Güter und materielle Ressourcen. Knapp sind außerdem der Boden, auf dem die Menschen leben, die Erträge der Arbeit, außerordentliche Begabungen und die Bereitschaft, Wagnis und Mühen auf sich zu nehmen – wofür auch immer –, weiterhin Aufmerksamkeit und Anerkennung durch Mitmenschen, ohnehin Reichtum, Ruhm und Ehren (vgl. Höffe, 2015, 115).

Diese Knappheit von Ressourcen ist eine anthropologische Grunderfahrung des Menschen, die auf ihrer Kehrseite eine Wurzel eher unangenehmer Eigenschaften darstellt – Ungeduld, Egoismus, Stolz, Wut, Neid, Gier, Eitelkeit, Ignoranz usw. In diesem Konfliktfeld stellt sich dem Menschen die Herausforderung ethischen Handelns. Subjektwerdung im Sinne der Reifung zur Freiheit tritt mit der unverzichtbaren Versagung und Reglementierung kindlicher Wünsche in das Leben ein. Zunächst werden Werte internalisiert, meint unbewusst aufgenommen, mit wachsender Reflexionsfähigkeit werden sie als bewusste Werteorientierungen intereorisiert, meint, als bewusste Haltungen angenommen (Petzold, 2012; Bühler, Ekstein & Simkin, 1998). Zum Freiheits- und Verantwortungswesen muss man sich also wesentlich selbst erschaffen (Schönherr-Mann, 2010; Nancy, 2015b). Moralische Determinierung führt eher zu Ablehnung und Opferbewusstsein, also Unreife, sie blockiert bewusste Verantwortungsübernahme (Breitenfellner, 2013). Den Ausweg bietet vielleicht die „existenzielle Selbstwahl“, wie Sartre (1952) sie verstand: „Nicht das, was man aus uns gemacht hat, ist das Entscheidende, sondern das, was wir selbst aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.“

Praktische Vernunft besitzt hierbei nicht derjenige, der sein Handeln nach Gesichtspunkten des moralisch Guten beurteilen kann, sondern erst, wer auch danach zu leben vermag (Höffe, 2015, 360). Als Betroffener muss der Mensch das in sich wahrnehmen können, im schlechten Fall als Scham (Lotter, 2012), Schuldgefühl und Reue (Buber, 1958; Boss, 1965), im positiven als moralische Genugtuung (vgl. Höffe, 2015). Zu bedenken bleibt, dass der für den Menschen sichtbare Verantwortungshorizont auch bei gewissenhaftester Prüfung der möglichen Folgen seines Handelns immer limitiert bleiben muss (Spaemann, 2002). Ausreden und Sich-schadfrei-Halten können Strategien persönlicher Vermeidung darstellen, oft genug aber sind sie bloß notwendiges Übel (Breithaupt, 2012).

Der „kleine Preis der Freiheit“ (Höffe, 2015, 364ff.) besteht somit in der Herausforderung, zu entscheiden – nach selbst erwählten, anerkannten Gründen und Erwägungen. In einer Zeit, in der ,alles erlaubt‘ ist und es an traditionellen Vorgaben fehlt, wird das nicht von allen Menschen als freudvoll erlebt. Lebensformen stehen zur freien Wahl an, Berufsbiografien verlaufen nicht mehr unidirektional, erfordern beschleunigte Flexibilität (Rosa, 2013), hohe Trennungsraten belasten die reproduktive Phase, der Wissenschaftsbetrieb überholt seine eigene Einschätzungsfähigkeit. So kann Freiheit auch zur Last werden. Sinnverlust, Burnout und der Anstieg psychischer, psychosomatischer und suchtbezogener Erkrankungen belegen dies.

Der „große Preis der Freiheit“, meint Otfried Höffe (2015, 370), ist das Böse. Der Mensch ist zum Missbrauch seiner freiheitlichen Möglichkeiten fähig, von der Willkürfreiheit bis hin zur radikalen Perversion, zum Bösen. „Eine missbrauchsfreie Freiheit lässt sich nicht denken“ (ebd.). Sowohl auf personaler, auf gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene als auch in globaler Hinsicht werden wir dessen gewahr, dass wir von der Realisierung eines „aufgeklärten Liberalismus“ (ebd.), zu dem eine kosmopolitische Vernunft gehört, die die Freiheitsrechte des Anderen respektiert, noch immer weit entfernt sind.

In milderer Lesart des Bösen ist umgekehrt nur derjenige frei, der offenen Bewusstseins auch Schuldgefühle auf sich nehmen kann. Hier bedeutet Freiheit, sich nicht immerzu vom Willen anderer bestimmen oder einschränken zu lassen, sondern es auf sich nehmen zu können, den Anderen in gewissen Grenzen zu enttäuschen, ohne sich aus der Verantwortung zu stehlen. Frei ist nicht nur, wer sich von der Außenwelt emanzipiert und nach eigenem Gutdünken handelt, sondern in gesteigertem Maß, wer sich auch vom Zwang innerer Mächte befreien, Verzicht leisten und sein Selbstsein in eine ethische Richtung lenken kann, z. B. in Tugenden wie Achtsamkeit, Großzügigkeit, Aufrichtigkeit, Geduld und Mäßigung, Gerechtigkeit, Mut und Tatkraft, Klugheit und Besonnenheit, Toleranz, Dankbarkeit, sich also vom Bösen abzuwenden vermag (Safranski, 2015; Badiou, 2015a; vgl. Comte-Sponville, 1998). Hier ist der Übergang zu gesellschaftlichen Diskursen der Freiheit gegeben, in erster Linie im Rahmen einer diskursethischen, transversalen Vernunft, die für ihre Entscheidungen in ethischer Hinsicht das ,Ganze‘ im Blick behält und möglichst viele der zugänglichen Wissensstände konsultiert (Foucault, 2012; Welsch, 1996; Apel, 1990; Habermas, 1983).

Spätestens mit dem Deutschen Idealismus (Kant, Fichte, Hegel) wird Freiheit auch zu einem Schlüsselbegriff der Moderne (Höffe, 2015). In der Ethik wird die personale Freiheit, in der Sozialphilosophie die wirtschaftliche, gesellschaftliche und wissenschaftliche, in der politischen Philosophie die innen- und kosmopolitische, in der Religionsphilosophie die innere Freiheit des Menschen und in der Philosophie der Kunst die ästhetische Autonomie zu einem Grundbegriff der Moderne zusammengefasst (ebd., 31). Aus dieser Bewegung entstehen eine Liberalisierung der Wirtschaft sowie ein Aufschwung der Wissenschaften. Ein partizipatorisches Verständnis des Lebens auf der Welt lässt Freiheits- und Menschenrechte hervortreten sowie politisches Mitwirkungsrecht. Der Freiheitsdiskurs in gesellschaftlicher Hinsicht folgt in der Gegenwart im Wesentlichen drei Strömungen – dem Ausbau eines aufgeklärten Liberalismus (Höffe, 2015) im eigenen Land, den Tendenzen der Globalisierung und hierin vor allem dem Diskurs über Gerechtigkeit und der Verteilung von Gütern (Rawls, 1979) bzw. den Befähigungstheorien (Sen, 2012).

In der Idee eines aufgeklärten Liberalismus können es immer nur freie Individuen sein, die als Akteure und betroffene Andere den letzten rechtfertigenden Fixpunkt einer Ethik der Freiheit darstellen. Nur freie Bürger können eine freie Gesellschaft hervorbringen. Die Freiheit einschränkenden Zwangsbefugnisse von Institutionen und öffentlichen Gewalten, beruhend auf ihrer demokratischen Legitimation, werden von freien Bürgern als notwendig erachtet, weil sie soziale und distributive Vorteile erbringen. So werden Recht und zwangsbefugte Regeln akzeptiert, solange das Recht auf die Prinzipien politischer und sozialer Gerechtigkeit verpflichtet wird. Sodann wird dem „freien Spiel der Kräfte“ Raum gegeben – ökonomisch, politisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich und kulturell –, von dem ein Aufblühen zu erwarten ist (Bieri, 2003). Zu einer Vision von Frieden tritt auf diese Weise eine zweite Vision von vielgestaltigem Wohlstand hinzu, in der die physische Gewalt in ökonomische und kulturelle Kräfte sublimiert wird. Hinsichtlich staatlicher Interessen wird das Prinzip einer Subsidiarität wirksam: Was die Individuen in ihrem freien Zusammenwirken vermögen, darf der Staat nicht übernehmen. Nur, was sie für sich selbst oder mit anderen überhaupt nicht oder nur schlechter zustande bringen, darf er reglementierend an sich ziehen (Höffe, 2015, 116f.).

Globalisierungsprozesse dürfen hingegen nicht allein auf den Faktor des freien Marktes‘ reduziert werden. Globalisiert sind schon lange, in positiver Sicht, die Wissenschaften, die Künste, die Medizin, die Technik, Bildung und Ausbildung, Weltreligionen und – Tourismus und Sport. Globalisiert sind aber auch die Waffenentwicklung, die Umweltschäden, der Terrorismus und die organisierte Gewalt; Tyrannei und Vernichtung (Sofsky, 2005; Bataille, 2008; Snyder, 2018; Baberowsky, 2018). Zur globalisierten Kooperationsgemeinschaft gehören die Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitswelt, die „freiheitliche Entwicklungen“, so sie ins Katastrophale abzugleiten drohten (Ölkrise, Finanzkrise, Kriegsgefahren), bislang abpuffern konnten (Höffe, 2015, 131). Der Westen konnte es jahrzehntelang nicht unterlassen, mit jovialer Geste sogenannte unterentwickelte Länder zu unterstützen. Es war klar, dass diese Form der Hilfe zu mehr Abhängigkeit führen würde und nicht zu mehr Freiheit. Hier standen politische und wirtschaftliche Vorteilserwägungen im Vordergrund, obwohl Programme zur Selbstbefähigung schon lange bekannt waren (Sen, 2012; Appiah, 2009a, b; Chomsky, 2014). Somit stellt sich der Liberalismus nur als Idealvorstellung, gleichzeitig als Herausforderung globaler Entwicklungen dar.

In der gesellschaftlichen Organisation des „Prinzips Verantwortung“ (Jonas, 1979) wird in Übertragung der Prinzipien der personalen Verantwortung davon ausgegangen, dass auch in wachsend komplexen Systemen sich „konkrete Verantwortlichkeiten lokalisieren lassen, es identifizierbare Akteure und Instanzen gibt, denen sich nach Maßgabe geltender moralischer Prinzipien und rechtlicher Gesetze die Konsequenzen ihres Handelns zurechnen lassen“ (Heidbrink, 2003, 257). Dies ist ein Trugschluss. Im Zusammenwirken der sozialen, politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Selbstorganisation entstehen auch nichtlineare Prozesse, die ihre Eigendynamik entwickeln. Auf diese Weise treten Operationsvollzüge in Erscheinung, die sich mit den traditionsgerechten Prinzipien personaler Verantwortlichkeit nicht ohne Weiteres mehr beschreiben lassen (siehe II/2.3). Es entstehen nichtintendierte Wirkungen, die aus kausalen Zurechnungshorizonten herausfallen und die dazu führen, dass in jedem Fall der Westen den Kredit seines Verantwortungskontos schon lange überzogen hat (Heidbrink, 2003, 18ff.).

Personale Verantwortlichkeiten entgleiten in Globalkontexten mehr und mehr in kontingente Sachzusammenhänge (Finanzkrisen, entgleister Generationenvertrag, Umweltkatastrophen, Virenseuchen usw.), deren Steuerung auch niemand mehr überblickt. Je unübersichtlicher etwa Dynamiken schon allein des Finanz- und Wirtschaftsgeschehens werden, umso mehr Konjunktur hat sowohl der Ruf nach als auch die Proklamation von Verantwortlichkeiten. Einerseits schon lokal, vor allem aber in globaler Hinsicht mangelt es jedoch an der Verbindlichkeit der Kriterien, welche Akteure vor welchen Instanzen rechenschaftspflichtig sind. Zuständigkeiten werden in Sphären hineinreklamiert, in die niemandes Handeln mehr hineinreicht. So ist der Ruf nach Verantwortung hier nicht Ausdruck ethischer Souveränität und Zuverlässigkeit, sondern ein Symptom normativer Ratlosigkeit (ebd., 19). Die Frage der Legitimierbarkeit von Verantwortungsforderungen steht somit in komplexen Systemen erneut zur Disposition (ebd., 258). Eine „Diätetik der Verantwortung“ ist gefragt (ebd., 23; vgl. Marquard, 1986c).

Altruismus und Engagement

Wozu verhelfen uns Freiheiten? In welche Richtung lenken wir unser verantwortliches Denken und Handeln? Erbringen wir damit nur den eigenen oder sollten wir nicht auch den Nutzen für andere damit erbringen? Oder vielleicht sogar darüber hinaus? Nahe am Thema der Verantwortlichkeit liegen die Möglichkeiten des Altruismus und des Engagements. Für den Namensgeber Auguste Comte (1883) war Altruismus ein uneigennütziges Verhalten, das dem Geber mehr Kosten abverlangt, als es ihm Nutzen erbringt; er setzte den Begriff in Opposition zum Egoismus. Diese Perspektive beinhaltet jedoch nur den Gegenwartsbezug. Evolutionsforscher und Neurobiologinnen bringen schon seit Längerem zu Bewusstsein, dass zumindest die Anlagen zu Kooperation und altruistischer Vernunft eine naturgeschichtliche Angelegenheit darstellen (Maturana & Verden-Zöller, 1993), und weisen mit großer Evidenz den Nutzen altruistischen Verhaltens in Langzeitperspektiven nach (Tomasello, 2010, 2011). Dass diese Anlagen der Erziehung und Sozialisation bedürfen, um zu einer ethischen Haltung zu werden, hat niemand nachdrücklicher gezeigt als Immanuel Kant (1803). Wenn außerdem ethisches Denken und Handeln vollgültig sein will, darf es niemals erzwungen sein, es muss aus freien Stücken, aus innerer Überzeugung heraus geschehen (Comte-Sponville, 1998).

Nicht der Nutzen, sondern der Sinn altruistischen Verhaltens erschließt sich in erweiterter Bedeutung, wenn man ihn aus dem normativen Antagonismus von Altruismus und Egoismus heraushebt und ihn in die handlungsethische Komplementarität von Altruismus und Selbstfürsorge hineinprojiziert. Dann wird deutlich, dass sowohl ein gesundes wie auch ein gelungenes Leben beides braucht: Sorge für mich und Sorge für den Anderen (Fenner, 2004). Altruismus hat dann nicht mehr mit (kostspieliger) ,Menschliebe‘ zu tun, auch nicht mit irgendeiner Art des ,Gutmenschseins‘. Er entsteht nicht als Gefühl, auch nicht nur aus Sympathie (Nagel, 2005), ist keine Persönlichkeitseigenschaft (Mikulincer & Shaver, 2005), stellt keinen Utilitarismus (Singer, 2016; Mill, 1976) dar und er geht auch nicht aus der reinen Vernunft hervor (Kant, 1798). Das alles sind Sekundärphänomene. Altruismus entsteht primär aus der Wahrnehmung von Fehlbarkeit, Verwundbarkeit und Angewiesenheit beim Menschen (Osten, 2017a) – bei mir selbst und beim Anderen –, hat also mit Resonanz und Responsivität (Petzold, 2017a) zu tun. Dies wiederum wird mit der Phylogenese des Menschen in Zusammenhang gebracht (Tomasello, 2016; Wright, 1999).

Resonanz ist ein Einfühlen und Mitfühlen, ein Sich-anrühren-Lassen, das in ein instinktives Ahnen (Hogrebe, 1996) oder sogar Wissen darum führt, dass der Andere ,von derselben Art‘ ist wie ich, auf dieselbe Weise Leiden und Schmerz empfindet; sie führt zu einem altruistischen Wahrnehmen, Erfassen und Denken, dass ich hierin mit dem Anderen verbunden bin – Resonanz bewegt. In der Responsivität führt diese Bewegung im Sinne eines Antwortens auf die innere Bewegtheit zum Ausdruck im Sinne einer altruistischen Handlung. Im mitmenschlichen Engagement wird diese Spontanbewegung in einer bewussten, geplanten Haltung und Handlung tätigen Mitgefühls in die Zeit gestellt, unter Umständen auch mit langfristigen Zielen verbunden. Somit unterscheidet sich Altruismus von prosozialem Verhalten dadurch, dass in Ersterem nicht nur eine beobachtbare Handlung enthalten ist, sondern auch eine innere, persönlich elaborierte, ethische Haltung (Breithaupt, 2009; Schuchter, 2016).

Sozialpsychologisch gesehen verhalten sich Menschen nur unter spezifischen Bedingungen altruistisch, darüber hinaus finden sich geschlechtersensible Unterschiede. Diese querschnittsanalytische Betrachtung kann hier aber nicht Thema sein (siehe hierzu Bierhoff, 2010; Bierhoff & Montada, 1988; Bilsky, 1989; Eagly, 1987). Unter längsschnittlicher, evolutionärer Perspektive wurde evident, dass Menschen auf dem Weg ihrer Phylogenese nur unter selbst- und fremdfürsorglichen Motivationen bis zu dem Punkt gelangen konnten, wo sie heute stehen. Lange bevor Altruismus also eine moralische Kategorie wurde, hat er sich vermutlich in kooperativem Verhalten als schlichte Notwendigkeit dargestellt, die für Arbeitsteilung, Verbundenheit, Sicherheit, somit für das Überleben sorgte. Man kann annehmen, dass sein Funktionieren unter sozialer Kontrolle stand und sein Fehlen in Gemeinschaften der Frühzeit sanktioniert wurde (Tattersal, 1997).

Äußerlich besehen ist eine derartige Intensität wechselseitiger Angewiesenheit in unserer Gesellschaft nicht mehr gegeben, noch weniger in Mittelschichten. Die phylogenetischen Motivationen sind aber immer noch aktiv, aus ihnen haben sich Sinnstrukturen entwickelt, eine das Überleben sichernde Wertschöpfung. Dies zeigen Studien unter anderem zur Bindungssicherheit (Mikulincer & Shaver, 2005) und zum Selbstwert (Erol & Orth, 2011; Leary et al., 1998). Soziale Einbindung wird durch Altruismus verstärkt, auf beiden Seiten, jener der Gebenden und jener der Nehmenden (Hill & Holmbeck, 1986; Baumeister & Leary, 1995; Kahn & Antonucci, 1980). Was als selbstwertdienlich zu Buche schlägt, sind nicht die Werte, die man sich selbst zuschreibt, sondern der Wert, den andere in uns sehen. Den Spitzenfaktor der Selbstachtung stellt die Wahrnehmung dar, ob andere das, was wir sind, denken, fühlen oder tun, als wertvoll beurteilen (vgl. Schachinger, 2005; Schütz, 2000).

Altruistisch zu sein, also nicht nur so zu denken, sondern auch so zu handeln, ist gesund, es macht gesund, es hilft, psychosoziale und ökologische Vitalität zu erhalten, ist somit psychotherapeutisch relevant. Der Zynismus, mit dem Wolfgang Schmidbauer (1977, 1983) altruistischen Helfern Eigennutz und Hilflosigkeit unterstellte, zeigte sich im Nachhinein als persönliches Problem des Autors (ders., 2016). Altruismus ist so wenig notwendig eigennützig wie Selbstfürsorge notwendig egoistisch sein muss (Schmid, 2004). Unter den gezeigten Prämissen stellt er sich, weit bevor er eine moralische Tugend wird, als schlichte Klugheit dar (Lumer, 2000). Nichtsdestotrotz zeigt Altruismus sich als eine Herausforderung, weil beim Menschen die kooperativen Motivationen, wie im vorherigen Abschnitt gezeigt, mit konkurrierenden Motivationen changieren. Was also zu Beginn Natur ist, muss, wenn es Tugend werden soll, ausgebildet und gefördert werden.

Altruismus und Engagement als Haltung und Handlung spielen auch in gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen eine große Rolle (Petzold & Sieper, 2011). Aus den genannten Gründen haben im Verständnis des integrativen Denkens psychische Gesundheit und Wohlbefinden in unbedingter Weise damit zu tun, dass Menschen sich engagiert in ihren sozialen und ökologischen Bezügen verorten, unter Umständen mit auf gesellschaftlicher Ebene, überdies konkret handlungsrelevant. Es gehört zu dem irrigen „Mythos des Menschen als isoliertem Subjekt“ (Fellmann, 2005), dass menschlich zu erreichendes Glück reine Privatangelegenheit sei.