Kitabı oku: «Integrative Psychotherapeutische Diagnostik (IPD)», sayfa 9

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Nicht also nur die Arbeit und die Anhäufung von Geld sichern dem Menschen seine Stellung in der Welt und die Freiheit seiner Lebensstile (life styles). Schon für John Locke (1690) und David Hume (1739–1748) war die Institutionalisierung von Eigentum mit der Institutionalisierung von Gerechtigkeit untrennbar verknüpft. Auch im Sinne Adam Smith‘ fair play (1776) war es Ziel eines liberalen Kapitalismus, einen Wohlstand zu erwirtschaften, von dem alle gleichermaßen profitieren konnten. Dass Besitz den Menschen aber auch in konkrete Verantwortung für Besitzlose ruft, haben vor allem neuere Philosophen erst betont (Bourdieu, 1992a, b; Appiah, 2009b). Für Amartya Sen (2012) ist Gerechtigkeit durch fünf Faktoren gegeben, die dann einen bestimmten Grad an Verwirklichungschancen (capability) ermöglichen: politische Freiheit, ökonomische Institutionen, soziale Chancen, Transparenz und soziale Sicherheit. Es geht also nicht nur um Geld und Besitz. Hier wird evident, wie sehr das Thema in die sozial- und kulturphilosophische Ebene hineinspielt. Dieser wird unten ein eigener Abschnitt gewidmet. Zunächst soll ein spezifischer Aspekt der Gesellschaftlichkeit des Menschen eine Rolle spielen – die barocke Trias von Macht, Gewalt und Autorität.

Macht, Gewalt, Autorität

Macht tritt in unterschiedlichsten Gestalten in Erscheinung, sie weist außerdem zeitepochal und lokal ein diversifiziertes Kolorit auf. Dies hatte über die Geschichte hin nicht nur eine Fülle, sondern auch eine Disparität erklärender Theorien zur Folge, die bis heute andauert (Anter, 2012). Das Thema der Macht wird gewöhnlich in soziologischen und politischen Kontexten diskutiert (Chomsky, 2004). Hier wird es in den anthropologischen Zusammenhang gestellt, weil der Aspekt beleuchtet werden soll, dass es der Mensch ist, durch den Machtverhältnisse konstituiert werden – persönlich, in sozialen Kontexten und in komplexen Systemen –, und es der Mensch ist, der sich Machtverhältnissen anpasst, sich ihnen unterwirft, fügsam ist, unter ihnen leidet, der mit einer Entwicklung von Souveränität auf sie reagieren kann oder gegen sie – mit Gegenmacht – revoltiert (Beck, 2009; Camus, 1953).

Macht soll hier nicht dämonisiert werden, denn dies macht in der Regel blind für ihre semantische Wirkung im Sozialen (Nietzsche, 1889). Machtverhältnisse entstehen in dem Augenblick, in dem Menschen miteinander zu kommunizieren beginnen (Sofsky & Paris, 1991). Subjektivität ist somit zunächst konstitutiv für die Macht und stellt sich in der Begegnung mit anderen Subjekten als der Ausgangspunkt von Machtdynamiken dar (Habermas, 2011). Eine zweite Existenzbedingung der Macht stellt die Freiheit von Individuen dar, ihr Leben, ihre Beziehungen und ihre Welt gestalten zu können (Höffe, 2015). Ohne diese Bedingungen, also im Falle der Unterwerfung oder Versklavung unfreier Menschen, wird hier von Gewalt oder von Herrschaft gesprochen (Weber, 1921a). Die, wenn auch nur minimale, Freiheit, nein sagen zu können, begründet erst ein mögliches Machverhältnis zwischen Menschen (Foucault, 2008; Dreyfus & Rabinow, 1994).

Machtstrukturen organisieren sich um ein Zentrum und auf Ziele hin, ein solches Zentrum kann eine Person sein oder eine Gruppe oder eine Organisation, die Gestaltungsinteressen verfolgen (Tillich, 1956). Im Falle größerer Systeme wie Unternehmen oder dem Staat bilden sich diversifizierte Machtzentren um verschiedene Interessengruppen herum. Es bilden sich Organisationen, die arbeitsteilig der Entlastung des Subjekts dienen, gleichzeitig aber Macht monopolisieren, so wie etwa der Staat das Monopol für die Verwaltung oder die physische Gewalt beansprucht (Foucault, 1977). Komplexe Systeme erzeugen kontingente Rahmenbedingungen der Macht, die mit den Prinzipien personaler Verantwortlichkeit oft nicht mehr erfasst werden können (Heidbrink, 2003).

Byung-Chul Han (2005, 14) stellt an den Beginn des Machtinteresses das Motiv des Individuums, seinen Raum, sein Selbst und seine Kontinuität über den Anderen hin auszuweiten und so „im Anderen bei sich selbst“ zu sein bzw. sich „im Anderen zu kontinuieren“. Derrida (2005) meinte, dass schon im Begriff der Selbstheit der Impuls zu Macht und Herrschaft enthalten ist. Dies erklärt aber noch nicht das Motiv der Ausweitung von Macht über den Anderen. Um dies zu erfassen, muss man in archaische Ängste blicken. Der Mensch ist bedroht, ganz primär durch die Natur und sekundär durch den Anderen. Um diese Bedrohung zu vermindern, hat er sich die Natur unterworfen. Um sich von der physischen Bedrohung durch den Anderen zu schützen, versucht er ihn zu bannen oder ihn seinem Willen zu unterwerfen. Dies gilt im weiteren Sinn auch für die mögliche Bedrohung seiner Identität durch den Anderen. Je mehr er in der Natur „bei sich“ sein kann, je mehr er im Anderen „bei sich“ sein kann, je mehr er sich in beidem „ausweiten“ und „kontinuieren“ kann, umso kleiner werden ihm die Bedrohungen durch die Negativität des „Anderen“ (Hegel, 1807; vgl. Huth, 1995).

Dem Machtmotiv als solchem fehlt somit die Sicherheit, der Mut, die Zuversicht und Offenheit für Andersheit (Han, 2005, 123). Je weniger sich das Subjekt daher durch das Andere, das Fremde bedroht fühlt, je mehr es das Fremde des Anderen auch als „das Fremde in sich“ annehmen kann, umso weitreichender kann der Verzicht auf solche Ausweitung ausfallen (Jullien, 2014a). Es nimmt also nicht wunder, dass der neurotische Mensch entweder mehr Ohnmacht erlebt, weil ihm die Souveränität fehlt, oder seinen Machtbereich versucht auszudehen, weil er den Anderen unterwerfen will, bevor dies ihm selbst geschieht.

Dabei muss Macht nicht notwendig demonstrativ sichtbar werden oder mit Gewalt korrelieren. Im Gegenteil. Die Macht ist dort am größten, wo dem Machthaber gar kein Widerstand entgegenschlägt (Han, 2005). An dieser Stelle trennen sich Macht und Gewalt und bilden zwei vollständig unterschiedliche Kategorien. Dass das Ego der Macht einfach nur den Willen von Alter unterwirft und Alter zu einem Handeln zwingt, das es nicht will, ist eine vereinfachte Sicht. Wer die Macht – so wie in der modernen Philosophie durchgängig, etwa bei Luhmann, Habermas, Arendt, Baudrillard, Foucault, Bourdieu und Han – als ein symbolisch konfiguriertes Kommunikationsmedium versteht, für den gehört Gewalt nicht notwendig in den Köcher der Machtmittel (Anter, 2012).

Wirklich mächtig ist nicht derjenige, der seinen Willen gewalttätig durchsetzt. Ausdruck und Anwendung von Gewalt sind genau genommen das Scheitern der Macht, weil das Fehlen von Alternativen Schwäche und Ohnmacht ausdrückt. Despotismus und Tyrannei sind daher eher der Nullpunkt der sozialen Ordnung (Weber, 1921b). Wer Macht haben will, wird also nicht von Gewalt Gebrauch machen, sondern eher von der Freiheit des Anderen. Nach Luhmann (2013) kommen Machtverhältnisse zustande, wenn beide, Alter und Ego, „auch anders handeln könnten“; er nennt dies „doppelte Kontingenz“. Gewalt und Freiheit bilden so gesehen die beiden Endpunkte der Machtskala (Han, 2005). In der Postmoderne des Westens hat die Macht außerdem Gesicht und Wirkungsweisen geändert, Feindschaft und offene Angriffe benötigt sie nur noch ausnahmsweise. Sie hat sich vom Brachialen, Frontalen ins Subkommunikative, Mediale zurückgezogen, in Formen unsichtbarer passiver Ansprüche und Destruktivität (ders., 2015a).

Zeichen höherer Machtausübung ist es, wenn der Unterworfene aus freien Stücken und ausdrücklich genau das will, was der Machthaber von ihm will, wenn er den Interessen des Machthabers folgt, wie er seinem eigenen Willen folgt oder dem sogar vorgreift. Bei der Ausübung von Macht als Zwang wird Alter sich zumindest mental verweigern, so findet das Ego der Macht keine Ausweitung in Alter. Dagegen wird das emphatische „Ja“, das subjektive Empfinden von Freiheit bei der Ausübung des Willens des Machthabers, zur passenden Antwort auf höhere Macht (Han, 2005, 10). Das ist alltägliche Erfahrung: Wir wollen mit Google im Internet suchen, Menschen wollen sich von Amazon beliefern lassen, auf facebook, Twitter, YouTube etc. posten; sie wollen damit genau das, was diese Unternehmen wollen: Konsum und die Preisgabe der Intimität für die Datensätze von Marktforschung und Industrie. Somit ist es die Illusion des freien Willens, die die Macht von Zwang und Gewalt unterscheidet. Die Wirkung der Macht kann in der Umwandlung und Neutralisierung des Willens bei den Unterworfenen (Luhmann, 2013) bestehen, mit Goethe (1809): „Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.“

Während hier das Motiv der Hörigkeit also in einer Art Gehirnwäsche liegt, kommen in Feldern expliziterer Machverhältnisse, etwa im Arbeitskontext, bewusstseinsnahe Beweggründe zum Tragen. Im Gegensatz zur Gewalt kann die Macht sich mit Sinn verbinden. Sinn wird hier mit Han (2005) als ein Phänomen sozialer Semantik gefasst. Macht schreibt sich so einem Verstehens- und Vermittlungshorizont ein. Ein alltäglicher Anlass bewusster Fügsamkeit im Arbeitsleben etwa besteht darin, dass der Untergebene sich als Teil einer größeren Einheit versteht, seine Fähigkeiten und Motivlagen in den Dienst der Sache stellt und sich außerdem von der Verantwortung für sein partikuläres Handeln zum Machthaber hin entlasten kann. Somit kann auch Sinnproduktion ein Machtgeschehen darstellen.

Dem Vorgesetzten wird im Rahmen einer Organisation Macht zur Bewältigung einer Funktion zugesprochen. Er trägt Verantwortung, und zur Durchführung seiner Aufgabe benötigt er Macht, die er über andere ausüben kann. Akzeptanz dieser Macht durch seine Mitarbeiter erhält er dagegen nur, wenn er diese Macht ausschließlich für diese Funktion ausübt und seine Autorität in den Dienst der Sache stellen kann. In dem Augenblick, in dem er sie für persönliche Interessen missbraucht, verliert er Akzeptanz und somit auch Anteile der Macht (Sofsky & Paris, 1991; Sennet, 2008). Der Übergang zur Gewalt ist an dieser Stelle beinahe obligatorisch.

Man kann dabei positive Autorität von negativer unterscheiden. Negative Autoritäten sind hochmütig, herabsetzend und entwertend. Da sie selbstbezogen denken und handeln, können sie ihr Gegenüber schlecht empathieren und verhalten sich verbal, atmosphärisch oder im Handeln offen und verdeckt grenzverletzend oder pejorativ. Sie fürchten um ihre Autorität und agieren daher rivalisierend, sie können durch ihre emotionale Unzuverlässigkeit nicht zu Vorbildern werden. Positive Autoritäten dagegen stützen und strukturieren, sie handeln wertschätzend und bieten als Interaktionspartnerinnen Zuverlässigkeit und emotionelle Stabilität. Sie sind fördernd und maßvoll fordernd und haben ihr Gegenüber in menschlicher Weise ,auf dem Schirm‘. Ihre Werthaltung ist grundlegend pluralistisch, so dass sie sich souverän, kritikannahmefähig und in jedem Sinne uneitel verhalten können (Osten, 2017b).

Im Übergang der Ausübung von Macht im Persönlichen hin zu größeren Systemen ist Macht auf das Funktionieren formaler Organisation angewiesen. Steigerung und Ausweitung der Macht, sachliche Diversifikation und die Verfeinerung der Raster ausübender Macht müssen in formalen Strukturen definiert werden (Luhmann, 2017) – Parteien, Verbände, Wissenschaftsbetriebe, Jurisdiktion, Exekutivorgane usw. Obwohl die Macht weiter einer sogar möglicherweise anonymen Spitze zugeschrieben wird, herrschen diffizile und komplex motivierte Machtbalancen zwischen den Organisations-, Verwaltungs- und Exekutivapparaten. Dabei müssen diese das Prestige der Spitze pflegen, weil andernfalls die Umgebung keine Ordnung im Ganzen mehr wahrnehmen würde. In totalitären Staaten oder solchen mit defekten Demokratien ist dies beobachtbar.

Da Prozesse in Organisationen dennoch durch Subjekte gelenkt werden, können subjektiv motivierte, sogar illusionäre Überzeugungen den Fluss der Kommunikation blockieren und in Richtungen umlenken, die legitimationswirksame, institutionalisierte Macht ausüben, sich gegen die Umgebung oder sogar gegen die Mitglieder der Organisation selbst wenden können. Jürgen Habermas (1987a, b) spricht in diesem Zusammenhang von „struktureller Gewalt“, wenn diese Prozesse auch über strategisches Handeln eingesetzt werden.

In ähnlicher Weise funktionieren internationale Beziehungen zwischen Staaten, sofern Motive zur Diplomatie bestehen oder eine übergeordnete Macht, wie etwa in Europa, sie reguliert. Wo dies nicht der Fall ist, kann sich Macht nicht etablieren; Macht ist auf kommunikatives Handeln abgestellt. In diesem Zusammenhang ist das Internet eine interessante Größe, weil hier Machtprozesse völlig ungerichtet sind bzw. noch nicht durch eine hindurchregierende Macht organisiert werden. Man spricht in Einzelfällen von Influenzern, die aber eher partielle Bedeutung haben. Was und wie Menschen in breiter, empirischer Globalität denken und wollen, das war bis vor 30 Jahren noch gar nicht beobachtbar. Hier schließt die Thematik der Macht in der Masse an, die hier aber nicht weiter ausgearbeitet wird (vgl. hierzu Canetti, 1980; LeBon, 2009; Moscovici, 1987).

Zur Ethik der Psychotherapie gehört ein achtsamer und sensibler Umgang mit dem Thema der Macht. Insbesondere gilt das für die Diagnostik, die auch ein soziologisches Machtinstrument darstellt. Krank ist nicht nur, wer sich so fühlt, sondern auch, wer in gesellschaftlichen Funktionsdynamiken auffällig wird und so definiert wird (Petzold & Schuch, 1992). Die Psychotherapeutin bekommt nicht nur Expertenmacht zugesprochen. Die therapeutische Beziehung ist auch durch Übertragungsprozesse angereichert, nicht nur mit destruktiven Machtdynamiken, sondern auch mit positiven Übertragungswünschen aus der Biografie von Klienten. Menschen wachsen in Machtverhältnissen auf und verarbeiten diese adaptiv oder produktiv. Hier ist Souveränität im Umgang mit beiden Seiten der Machtdynamik vonnöten, ein Einsetzen von Macht im Sinne des Wohls des Menschen, der zur Therapie erscheint.

Kreativität, Vision, Utopie

Dem Determinismus von Macht- und Konfliktdynamiken begegnet der Mensch mit seiner Kreativität, seinen Visionen und Utopien, lange bevor er zur Revolte greift. In dieser Hinsicht stellen die nächsten drei Themenbereiche wichtige Ressourcen des Subjekts dar. Mit der Frage, was Kreativität eigentlich ist und unter welchen Bedingungen sie in Erscheinung tritt, wird es notwendig, ihre umfassenden Rahmenbedingungen zu definieren. Es ist nicht möglich, das Phänomen der Kreativität zu erfassen, ohne das große Bild der Kosmologie mit einzubeziehen (Hiller, 2017; Laszlo, 1995). Im Rahmen dieser existenzialphilosophischen Überlegungen wird daher kurz in komplexitätstheoretische Überlegungen eingeführt.

Nach den Beobachtungen der Ausdehnung des Universums durch Edwin Hubble im Jahr 1929 formulierte der Physiker Georges Lemaître 1931 im Rückschluss aus dieser Ausdehnungsbewegung hinsichtlich der Entstehung des Universums die Urknalltheorie. Diese Theorie bezeichnet die gleichzeitige Entstehung von Materie, Raum und Zeit aus einer Singularität heraus (unendliche Dichte von Materie und Energie). Im Rahmen dieser Theorie werden Dynamiken im Universum als „Nicht-Gleichgewichtssysteme“ verstanden (dissipative Strukturen), die über kontingente Resonanzphänomene wechselseitige Anpassungen und damit kreative Bewegungen erzeugen (Prigogine & Stengers, 1999; Cramer, 1998; Lee, 2012). Es wird angenommen, dass unser Universum im Sinne einer „fraktalen Geometrie“ sich von den größten bis hinunter zu den kleinsten Teilen in seinen Bausteinen und auch in seinen Bewegungen ähnelt (Mandelbrot, 1987; Heisenberg, 2011). So werden auch Entwicklungs- und Veränderungsprozesse in der Natur unter diesen Gesichtspunkten verstanden. Diese drei Beobachtungen – dissipative Strukturen, fraktale Geometrie, Kontingenz- und Resonanztheorie – haben es auch der Evolutionstheorie erlaubt, die Entstehung der Arten theoretisch weiter zu präzisieren (Eidemüller, 2016; Toepfer, 2005), weil ihre Gesetzmäßigkeiten sich möglicherweise sowohl in den biologischen als auch in den atomaren bzw. subatomaren Strukturen bis hinein in die Quantenmechanik wiederfinden (Cramer, 1998; Haken, 1997; Hedrich, 2005).

In der Physik wird Kreativität mit ihrem Bezug zum Chaos im subatomaren Bereich erkennbar, dort nämlich, wo sie mit dem szientifischen Realitätsbegriff kollidiert. Unterhalb einer bestimmten Schwelle ins Kleinstdimensionierte des Atoms ist nicht mehr feststellbar, ob ein beobachtetes Phänomen eine Schwingung oder ein Teilchen ist, besser gesagt, das Urteil hierüber hängt von der Art des Beobachtens ab, sodass es scheint, als ob jederzeit beides (und noch Weiteres) möglich wäre. Diese Schwelle, den Übergang des Chaos in die manifeste Realität physikalischer Gesetzmäßigkeiten, kann die Physik noch nicht genau ausmachen.

Beim Menschen kann diese Schwelle beim Übergang des Unbewussten oder nur leiblich Gespürten in die Sprache ausgemacht werden. Unterhalb der Sprachschwelle herrscht kreatives Chaos, das heißt, alle Möglichkeiten stehen hologrammartig miteinander in Verbindung, beeinflussen einander, sind weder distinkt noch disjunktiv. In Anlehnung an die Heisenberg’sche Unschärferelation könnte man im Falle des Unbewussten von einer epistemischen Unschärfe sprechen: Im eigenleiblichen Spüren und Fühlen, im subliminalen Intuieren und im prozeduralen Denken gibt es noch kein „Nein“, die Dinge existieren kontingent mit-, neben- und ineinander. Erst durch die Sprache werden „überflüssige“ Inhalte vom „Wesentlichen“ getrennt, erst die Sprache bringt das Chaos „in Ordnung“ und definiert so das „Manifeste“ augenblicklicher Bewusstseinsinhalte (Mahrenholz, 2011). Komplexitätstheoretisch handelt es sich hier in beiden Phänomenbezirken also um einen Ordnungsübergang (Petzold, 2010f), der erkenntnistheoretische Relevanz besitzt. Zwischenmenschliche Erkenntnisprozesse, wie sie in der Psychotherapie von elementarer Bedeutung sind, können als ein permanenter Prozess von Konstruktion (,Sender‘) und Rekonstruktion (,Empfänger‘) eines so verstandenen kreativen Chaos aufgefasst werden, als ,Schöpfung‘ in beiden Richtungen (siehe II/2.5).

Diese Erkenntnisse der Physik wurden auch in die Systemtheorien aufgenommen, die in Äquivalenz hierzu annehmen, dass in sich komplex aufgebaute Systeme (Gesellschaften, Organismen) zusammen mit den sie umgebenden Systemen (selbstorganisierend) mittelfristig stabile Fließgleichgewichte aufbauen, die unter kontingenten Einflüssen von außen spontane Fulgurationen (plötzliches Entstehen neuer Eigenschaften) oder Bifurkationen (Hin- und Herschwanken zwischen Zuständen oder Gabelung in zwei oder mehr Zustände) ausbilden können. Dieser Prozess wird Emergenz genannt (Stephan, 2016; Prigogine, 1979). Die Phänomene von Fließgleichgewichten sowie die Bildung neuer oder veränderter Strukturen und Muster in Gemeinschaften oder Gesellschaften (Anokhin, 1978; Thom, 1975) können auf diese Weise ebenso erklärt werden wie die Funktionsmechanismen des menschlichen Verhaltens oder des Organismus (Haken, 2014; Haken & Schiepek, 2010), weil innerhalb der fraktalen Logik der komplexe Aufbau der inneren Strukturen in all diesen Systemen, zusammen mit den Resonanzphänomenen untereinander, für dieselbe Dissipativität bzw. Adaptivität sorgt (Krohn & Küppers, 1992). Grundlage für die Kreativität des Subjekts stellt die ungeheure Komplexität des neuronalen Systems dar, das Eindrücke von innen und außen in stetiger Interaktivität adaptiv zu verarbeiten vermag (Fuchs, 2018; Waldenfels, 1976).

Mit dieser etwas dichten Einführung werden nun Phänomene der Kreativität in ihrem Gesamtzusammenhang des „kreativen Kosmos“ gesehen und können Stufe um Stufe von den umfassenden zu den pragmatischen Strukturen heruntergebrochen (Kosmologie, Natur, Evolution, Biologie, Körper/Leib, Verhalten, Bewusstsein, Psyche) und komplexitätstheoretisch eingebunden werden (Görnitz & Görnitz, 2016). Grundlage kreativer Prozesse bildet im engeren Sinne nicht das Subjekt oder die Person an sich, sondern unsere Natur, sprich die Resonanz zwischen Leiblichkeit und Umwelt, die uns über das Emergenzphänomen des Bewusstseins quasi einen Einblick in das Innere ihrer selbst gewährt (Dehaene, 2014; Bateson, 1985). Sich leiblich spüren, Emotionen und Affekte fühlen, Wahrnehmen, Denken, Wollen, Urteilen, Handeln, leiblicher und sprachlicher Ausdruck, soziales Verhalten, Bewusstsein usw. müssen in diesem Sinn als prinzipiell bewegliche, instabile, dissipative, von Umgebungen durch Resonanzprozesse beeinflussbare Strukturen verstanden werden, die sich in diskreten Grenzen auch durch den freien Willen beeinflussen lassen (Scheidegger, 1997).

Kreativ Denken ist also nicht bloß ein persönlicher Vorgang. Denken bleibt darauf angewiesen, dass einem etwas einfällt (Böhme, 1985). Diese Kontingenzbewegungen sind Natur, an der wir auch in unseren kreativen Vollzügen nur teilhaben. Sie finden nicht nur auf neurologischer Ebene, sondern im dissipativen System der Leiblichkeit mit ihrer Umwelt im Ganzen statt. Kreativität arbeitet mit den Balancierungen zwischen Aktivität und Rezeptivität, zwischen Chaos und spontaner bzw. volitiver Ordnungsbildung. Wer zu chaotisch denkt, findet keinen Ausgang, wer dagegen zu wenig dynamische Instabilität in seinem Denken hat, gilt als starr, als nicht kreativ. Die Extrempole werden unter Umständen sogar als Krankheit definiert. Ohne die Instabilität von Subsystemen kann sich keine passagere Ordnung im Gesamtsystem herausbilden (Schmidt, 2005). Inhalte und Dauer bestehender und neuer Strukturen sind schwer oder gar nicht prognostizierbar. Das phänomenologisch erlebbare (Leib-) Selbst des Menschen ist ein kreativer Fließprozess, den das Subjekt in ständigem Austausch mit seinem sozialen und ökologischen Raum ausbaut und verändert (Thyen, 2005). Diese Bewegung ist größtenteils unbewusst und ihre Resultate sind in aller Breite und Tiefe nicht intentional verfügbar, Metzinger (1996, 148 u. 150) spricht von „selbstreferenzieller Opazität“, innerhalb derer nur eine „präreflexive Selbstvertrautheit des Ich“ möglich ist. Wir begegnen diesem Thema noch einmal im Abschnitt über den Zufall, der quasi ein „Naturprodukt“ dieser Dynamik darstellt.

Ob Kreativität etwas Neues hervorbringt oder ob es tatsächlich „Nichts Neues unter der Sonne“ (Pred. 1,9; EU) gibt, muss mit Blick auf ein Verständnis von Wandel und Metamorphose in den Welt- und Selbstbezügen offen bleiben (Reckwitz, 2012). Therapeutische Prozesse, Persönlichkeitsveränderungen oder Symptomverbesserungen müssen jedenfalls in der komplexitätstheoretischen Perspektive gesehen und gedeutet werden. In derselben Form trifft das für Wahrnehmungs-, Erkenntnis-, Verstehens- und Interpretationsprozesse zu, die niemals statisch, niemals objektiv und niemals überdauernd sein können. Wenn ein dissipativ geordneter Geist im Strom der Ereignisse dissipativ strukturierte Wirklichkeiten beobachtet, kann das Ergebnis seiner hermeneutischen Interpretationen nur kreativer Natur sein (vgl. Ricœur, 1969). Auch Erkenntnisgleichgewichte sind instabil, prozesshaft; lässt ihre Bewährung nach, durchlaufen sie erneut Ordnungsübergänge in etwas Neues, Verändertes (Mahrenholz, 2011).

Gadamers (1960, 280) Verständnis zur Auslegung von Texten war, dass es möglich ist, den Autor eines Textes im hermeneutischen Sinn besser zu verstehen als dieser sich selbst verstanden hat, auch insofern als „nicht nur gelegentlich, sondern immer der Sinn eines Textes seinen Autor übertrifft“. Diese Auffassung ist auch auf die erzählte Lebensgeschichte von Klienten anwendbar. Eine voraussetzungslose Wahrnehmung, die das rein Gegebene in absoluter Unmittelbarkeit erfassen könnte, ist nicht denkbar. Untrennbar ist die Vermittlung von Wahrnehmungen mit dem Gebrauch von Symbolen und Sprache verbunden: „Mithilfe von Symbolen unterscheiden wir, grenzen voneinander ab, vergleichen und gewichten wir, strukturieren und ordnen wir“ (Ammon, 2005, 286; vgl. Krappmann, 2005). Verstehen ist also nicht nur ein reproduktiver, sondern auch ein produktiver, kreativer Prozess: Wenn man überhaupt etwas versteht, versteht man anders (Przylebski, 2005). Begreifen und Schöpfen gehen somit Hand in Hand. Das Erschaffen der eigenen Welt ist ein „Umschaffen“ aus schon bestehenden Welten, also eine subjektive, meist intersubjektive Revision, eine „Weltveränderung“ (Ammon, 2005, 287). Im Fluss der Ereignisse gibt es nur Momentaufnahmen. Im Versuch, seinen Erkenntnisgegenstand festzuhalten und ihm eine faktizistische Realität zuzuschreiben, tötet man ihn (Steinweg, 2015). Das bedeutet, „um zu erkennen, muss man geschehen lassen“ (Schmidt, 2005), heißt auch: vorüberziehen, vergehen und wirken lassen. In der Sicht seiner Welterzeugung kann der Mensch somit als Homo creator bezeichnet werden (Landmann, 1961).

Daher ist Kreativität im Grunde omnipräsent, und schöpferische Kräfte sind nur mit großem Aufwand effektiv zu unterdrücken (Mahrenholz, 2011). Im anthropologischen Sinn gehört Kreativität zu den Megaschutzfaktoren menschlicher Gesundheit und des Wohlbefindens. Dies wird deutlich, wenn man zentrale Eigenschaften und Verhaltensformen kreativer Menschen betrachtet. Sie zeichnen sich durch intelligible Wachheit und schnelle Auffassungsgabe aus, haben Freude an komplexen Situationen, denen sie mit hoher Ambiguitätstoleranz begegnen können. Sie betrachten ihre Situationen stets unter vielfältigen, divergenten Gesichtspunkten, ihr Denken zeichnet sich durch hohe Assoziativität und Spontaneität sowie die Fähigkeit aus, Situationen und konventionelle Herangehensweisen zu dekonstruieren. Dank dieses Querdenkens erscheinen sie problemsensitiv und ideenflüssig, sie sehen meist mehrere Optionen, Probleme anzugehen, erkunden angstfrei künftige Möglichkeiten und fürchten sich nicht davor, alte Strategien innovativ, ungewöhnlich und originell zu überschreiten (Lenk, 2000).

Psychologisch gesehen wirken in der Kreativität mehrere Faktoren zusammen, zu denen Intelligenz, Begabung, Wissen und Können ebenso gehören wie intrinsische Motivationen. Das Auftreten kreativen Verhaltens kann durch unterstützende Situationen hervorgerufen werden. Sicherheit und die Wertschätzung von Vielfalt (Pluralismus) etwa sind solche Faktoren. Nicht selten dient eine kreative Betätigung auch den Bewältigungs- und Transformationsversuchen problematischer Spannungen und kritischer Lebenssituationen (Furnham, 2015). Meistens ist es jedoch an Grenzsituationen gebunden, in denen ein notwendiges Zusammenspiel von Wettbewerb und Kooperation hinsichtlich der Lösung von Aufgaben, hohen Herausforderungen oder sogar ausweglos erscheinenden Situationen im Raume stehen (Hiller, 2017).

Kreativität kann durch Erziehungs- und Sozialisationsstile gefördert, sie kann aber auch durch vielfältige Einflüsse und Umgebungen durch das Leben hindurch verstört und blockiert werden. Schwache Bindungen, dysfunktionale familiäre Umgebungen, verstörende Kommunikationsstile (Blaming, Debasing, Mobbing) sowie generell soziale Distanz, die eine Verstörung von Sicherheitsbedürfnissen nach sich ziehen, hemmen kreative Bewegungen. Perfektionismus, Zeit- und Leistungsdruck, rigide Ziel-, Effizienz-, Lösungsweg- oder Erfolgsorientierung oder -fixierung sowie Ängste vor Bewertung und Misserfolgen können kreative Assoziativität massiv eindämmen. Konformitätsansprüche und fehlende Autonomie können die Freiheit assoziativer Bewegungen unterdrücken (Amabile, 1996).

Innere, mentale Prozesse können den Ideenfluss und innovatives Denken verhindern: gedankliche Blockaden, einengende Überzeugungen, Denkverbote (die Schere im Kopf), negative Kontrollerwartungen, generalisierende Negativität und fehlendes Selbstbewusstsein. Kreativität braucht nicht nur Räume im Inneren und Äußeren, um sich entfalten zu können, sie benötigt auch Zeit. Wer in sich, bei seiner Partnerin oder etwa in Teams synergetisch aufkommende Assoziationsketten und Ideenäußerungen zu schnell unterbricht oder verwirft, stört den Ablauf kreativer Prozesse (Flow). Mehr noch als vom angestrengten Nachdenken kann man von der Kontingenz der Dinge an sich weitere Aufschlüsse und Lösungen erwarten. Oft verhindern Macht-, Dominanz- und Konkurrenzdynamiken Kokreativität und Synergien in Arbeitsgruppen. Die mentale Trennung von Arbeit und Spiel (suggeriert z. B. im Begriff der Work-Live-Balance) kann sich nachteilhaft auf die Kreativität auswirken (vgl. Gardener, 1989; Runco, 2007).

Auf Basis dieser Überlegungen stellt im integrativen Denken neben der Symptombehandlung die Förderung von kreativen Lebensvollzügen eine der zentralen Aufgaben von Psychotherapie dar (Petzold, Goffin & Oudhof, 1993). Nicht zuletzt liegt hier auch die Begründung für den Einsatz vielfältiger kreativer Methoden und Techniken (Malen mit weichen Ölpastellkreiden, Skulpturieren mit Ton, szenische Techniken, therapeutisches Theater, Bewegungsimprovisation, Poesie usw.; vgl. Petzold & Orth, 1994). Mit Blick auf die Theorie des kreativen Kosmos, der kreativen Evolution, der komplexitätstheoretischen Fundierung von Biologie, Leiblichkeit und Bewusstsein, wäre es verfehlt, in der Kreativität etwas zu sehen, was man im strengen Sinne lernen müsste. Vielmehr stellt sie eine conditio humana dar, die, wenn sie von Konflikten, Traumata und Verstörungen verschüttet wurde, wieder freigelegt werden kann.

Der Kontrolle und Herbeiführbarkeit von kreativen Prozessen sind naturgemäß Grenzen gesetzt. Die Darstellung des kreativen Prozesses in vier Phasen (Vorbereitung, Inkubation, Illumination, Verifikation) durch Wallas (1926) hat lange Zeit die Illusion ihrer Machbarkeit befeuert. Viele Untersuchungen zur Korrelation von Kreativität und Persönlichkeitseigenschaften, neuronalen Prozessen und Umgebungsfaktoren verfolgen dasselbe Ziel (Kaufmann, 2010). Kreative Denk- und Handlungsfreiheit indes ist von Subjekten zu erwarten, die freien Zugang zu den archaischen und anarchischen Ressourcen des Menschseins besitzen. Das meint das souveräne oder radikale Denken ebenso wie die Fähigkeit, sich etwas widerfahren zu lassen (Baudrillard, 2013). Diese Form des ,Bei sich‘-Seins und die Möglichkeit, sich in der eigenen Mitte einzufinden, führt schließlich zu einem Punkt, den Friedlænder (1918) die „Schöpferische Indifferenz“ genannt hatte. Ein Punkt, von dem aus weitgehende Zustimmung zu den Phänomenen und zur eigenen Existenz besteht und der kreative Bewegungen gleichermaßen frei in alle Richtungen zulässt, ja, in dem nicht einmal mehr eine ,Person‘ vorhanden ist, die durch eine wie auch immer geartete ,Identität‘ das Subjekt determiniert. So könnte das ideale Programm kreativer Denk- und Handlungsfreiheit beschrieben werden.