Kitabı oku: «Integrative Psychotherapeutische Diagnostik (IPD)», sayfa 3

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1 Wissenschaftstheoretische Vorbemerkung

Weil es im Rahmen psychotherapeutischer Diagnostik um spezifische Episteme (Foucault, 2003) des Menschlichen geht, ist zu Beginn des Kapitels über die Hintergründe der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik (IPD) eine kurze wissenschaftstheoretische Positionierung angezeigt. Der naturwissenschaftliche Diskurs ist einem Streben verpflichtet, das Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit innerhalb seiner Beschreibungssysteme systematisch und möglichst vollständig erfassen und erklären will. Im Foucault’schen Verständnis der Episteme sind Erkenntnisakte und ihre Inhalte (Noemata) sowohl kulturhistorisch durchfiltert als auch durch Machtdiskurse imprägniert. Dies trifft vor allem für den Wissenschaftsdiskurs zu. Innerhalb der Prozesse methodisch nachvollziehbaren Forschens gelten nur empirische Erkenntnisse als wissenschaftlich, als gültig, überprüfbar und gesichert.

Wert und Bedeutung der Naturwissenschaften sind an sich unbestritten, im Phänomenbezirk des menschlich Wahrnehmbaren gibt es jedoch Themenfelder, die der Positivismus auf seinem Weg nicht erreicht (Bataille, 1994). Hierzu zählen etwa sozialpsychologische Probleme der Beziehungs- und Übertragungsdynamik, das Problem des Unbewussten oder subjektiver Bedeutungssysteme, Themen des geistigen Lebens (Liebe, Hoffnung, Dankbarkeit) usw., innerhalb derer Erkenntnisse nur intersubjektiv erschlossen werden können. Im positivistischen Diskurs kann eine Tendenz entstehen, derartigen Phänomenen generell ihren ontologischen Status abzusprechen. Dem Thema der Kontingenz (Zufall, Fügung, das Nicht-Notwendige alles Bestehenden) etwa, das im Bedeutungssystem von Subjekten Evidenz beansprucht, wird in den empirischen Wissenschaften nur noch ein marginalisierter Platz in der „Wahrscheinlichkeitsrechnung“ zugebilligt (Janke, 2002; Niederberger, 2007). Versuchen der Objektivierung derartiger Erfahrungen sind strenge Grenzen gesetzt (Albert, 1974).

Jeder Blick auf die Welt ist an sich schon begriffs- und theoriegeleitet und muss daher konsequent als aspektiv angesehen werden. Das heißt, theoretische Konstruktionen entstammen Beobachtungen, sind gedankliche Bildungen und damit immer nur eine mögliche Perspektive unter vielen, deren Verhältnis zur Wirklichkeit des unmittelbar Gegebenen im einzelnen Fall sogar problematisch sein kann (Weber, 1904; Feyerabend, 1976). Weder unser Bewusstsein noch unsere Episteme stellen einen „Widerhall der Existenz in Echtzeit“ dar (Baudrillard, 2013, 5ff.; vgl. Schnädelbach, 2013). Vielmehr kämpft das Denken mit dem, was unser Bewusstsein als Realität bezeichnet. Die Naturwissenschaften intendieren die Parteinahme für eine (subjektlose) „objektive Illusion der Welt“ (ebd.). Dieser Kampf des Bewusstseins aber ist in der Tat substanzieller als der Glaube an eine Wahrheit, weil er unhintergehbar in einen perspektivischen Pluralismus führt (Goodman, 1990). Das Signum reflektierenden Urteilens im integrativen Ansatz ist daher ein multiperspektivischer und multiparadigmatischer Ansatz.

Dies folgt zunächst Karl Poppers (1934) Idee, in der Tendenz nicht immer noch mehr Beweise für die Richtigkeit einer Theorie anzuhäufen, sondern im Gegenteil zu versuchen, diese zu dekonstruieren oder zu falsifizieren, weil nur so Fortschritte in der Theoriebildung möglich werden. Es verlässt Poppers Denken allerdings an der Weggabelung zwischen dem reinen Positivismus auf der einen und dem induktiven und hermeneutischen Denken auf der anderen Seite, weil menschliche Wirklichkeit immer nur diskursiv und annäherungsweise erschlossen werden kann (Sölter, 1995; Kuhlmann, 1975). Psychotherapeutische Erkenntnisprozesse sollten von daher stets auf dem Boden einer stringenten Verbindung von Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften stehen, die unter den Prämissen einer transversalen Vernunft (Petzold, 2004) versucht, heterotope Wissensstände1 miteinander zu verbinden.

Auch wenn der Materialismus in seiner (historischen) Infragestellung illusionärer Glaubenssysteme immer ein emanzipatorisches Ansinnen verfolgte (Bunge & Mahner, 2004), ist Wissen heute mannigfaltigen Gefahren von Missbrauch ausgesetzt. Empirie ist nicht mehr nur liberal-universitär, sie ist zielgerichtet, soll Zwecke erfüllen. Wissen wird präzisiert, also partialisiert und damit vielfach verfremdet. Weil sie jeweils nur Signifikanzen und Korrelationen produzieren, sind empirische Erkenntnisse für sich alleine stehend kategorial weder in der Lage, die charakteristische Seinsweise (Sartre, 1952) des Menschen zu untersuchen, noch, seine Sinnbedürfnisse (Husserl, 1954) zu befriedigen. Missbrauch von Signifikanz- und Korrelationsergebnissen liegt vor, wenn diese als Faktum oder Kausalität hybridisiert (gebündelt, gekreuzt, unzulässig gedeutet) werden und die Varianz verleugnet wird (Wasserstein & Lazar, 2016; Amrhein, Korner-Nievergelt & Roth, 2017).

Erkenntnisinteressen von Forschern müssen weder bewusst sein noch deklariert werden (Habermas, 1973; Schnädelbach, 2013). Forschungsfragen können gezielt ,designed‘ werden, um bestimmte erwünschte Ergebnisse zu erzielen. Forscher präzisieren ihren Forschungsgegenstand (lat. präcidere = vorne wegschneiden), aber sie betten das, was sie der Wirklichkeit entnommen haben, um es beforschen zu können, nicht notwendig sinnstiftend wieder zurück in diese Wirklichkeit ein (Janke, 1999, 2002). In dem Augenblick, in dem solche Wissensbestände in den „anonymen Diskurs“ (Foucault, 2012 [1970]) einer Gesellschaft übergehen, werden diese zu Faktoren, die auf die zuvor untersuchte Wirklichkeit evaluativ und normativ zurückwirken. Individuen überwachen und kontrollieren sich gegenseitig in Bezug auf die Einhaltung empirisch generierter Theorien oder sie machen sich von Expertenmeinungen abhängig. Instinkt, Intuition und Leibwissen sowie Erfahrungen mit deren lebenspraktischer Performanz können unter solchem „Evidenzterror“ (Steinweg, 2015) marginalisiert, entwertet werden und verarmen.

Paradoxerweise sind es gerade die Humanwissenschaften, die systematisch Erkenntnisse über den Menschen und sein Verhalten in der Gesellschaft sammeln, die dann wiederum als Kontroll- und Herrschaftswissen zur Disziplinierung von Individuen, bis hinein in deren Leiblichkeit, verwendet werden (Foucault, 1987 [1976]). So stellen sie ein Programm zur Reglementierung und Gleichschaltung sozialer Prozesse dar. Das Soziale verliert hier das Orientierende und wird zur Verstörung (Baudrillard, 1978, 2010b). Wenn Menschen das selbsttätige, souveräne, an Lebensklugheit (Luckner, 2005) orientierte Denken aufgeben, opfern sie ihre Wirklichkeit hegemonialen Machtdiskursen. Marcus Steinweg (2015) hat das zynisch den „Pseudosubstanzialismus der Tatsachenesoteriker“ genannt.

Obwohl Geisteswissenschaften large scale theories darstellen, bringen sie doch nicht weniger zeitepochale Denkströmungen zum Ausdruck, als dies empirische Wissenschaften tun. Sie sind kulturell, ethnisch, gesellschaftlich und religiös imprägniert, von den Werten, Orientierungen und Sinnattraktoren ihrer Zeit durchsetzt, in unserer Zeit auch politisch und wirtschaftlich „engagiert“ – im doppelten Wortsinn (Gadamer, 1960; Bühler, Ekstein & Simkin, 1998). Man denke hierbei an Fragen der Ethik, die neuzeitlich von Wirtschaft, Politik und Wissenschaften an die Philosophie herangetragen werden, in denen sie bloß noch die Rolle einer „Magd der Notwendigkeiten“ spielt (Badiou, 2015a, 47f.; Fuchs et al., 2010).

Unsere Philosophie ist eurozentrisch, mittelschichtspezifisch und tendenziell an den Geschlechterstereotypien orientiert. Sie hat stets versucht, den „Armen Möglichkeiten und Muße des Denkens zu nehmen, um das Privileg der Philosophie vor der unheilvollen Vermischung mit Zwitterwesen und Bastarden zu bewahren“ (Rancière, 2010). Sie ist daher weder vor Ideologisierungen noch vor Mythenbildungen geschützt und ihren Nutzern, wie die Psychotherapie eine ist, wird hiermit eine dekonstruktivistische Haltung ihren Entwürfen gegenüber angeraten (Petzold & Sieper, 2014; Williams, 2011).

Erkenntnisinteressen von Psychotherapeutinnen richten sich auf die intersubjektive Erfassung von Bedeutungen in den Lebensläufen ihrer Patienten. Lebensgeschichte aber wird subjektiv erinnert und in Begegnungen erzählt (Schacter, 1996; Röttgers, 1992; Bläser, 2015). Psychotherapeutische Einsicht ist daher durch das Maß sozialkonstruktivistischer Erkenntnismöglichkeiten limitiert. Das ist nicht etwa wenig, impliziert aber einen Verzicht auf Objektivierung. Erlebte, erinnerte und erzählte Wirklichkeit ist immer individuelle und soziale Konstruktion, sie ist narrativ, das heißt, nie faktizistisch deutbar (Bläser, 2015). Im Erzählen selbst erfüllt sie die naturwüchsige Funktion, dass die sich erinnernde und erzählende Person in einem Zuge ihre Identität narrativ ,neu erfindet‘ und zusammen mit dem Zuhörer eine entsprechende sequenzielle Wirklichkeit erschafft, eine Wirklichkeit, auf die man sich bezieht, weil sie im intersubjektiven Raum unmittelbarer emotioneller und kognitiver Bezogenheit ko-kreativ erschaffen wurde (Berger & Luckmann, 1969; von Tiling, 2008; Röttgers, 1992).

Dabei spielen die Sprache und das Sprechen nicht die einzige, aber eine zentrale Rolle (Petzold, 2010f.). Hinsichtlich dessen wäre es naiv zu glauben, dass sie bloß dazu da seien, Gedanken, Gefühle oder Bedeutungen zum Ausdruck zu bringen, denn gleichzeitig konstruieren wir im Geflecht ihrer Strukturen und Verwerfungen unser Sein (Jullien, 2010; Krämer, 2001; vgl. Krappmann, 2005). Wie das erlebt wird und wie das intersubjektiv (zurück-)wirkt, hängt ganz vom Erleben und den Attributionen der beteiligten Subjekte ab (Försterling & Stiensmeier-Pelster, 1994). Subjektive Vorstellungen, ihre Bedeutung und ihre Wirkungen auf das Erleben und Handeln sind aus der positivistischen Außenperspektive der Naturwissenschaften schlichtweg nicht erfassbar (Putnam, 1998; Searle, 1991).

Die spezialisierten Gebiete der Natur- und Sozialwissenschaften untersuchen stets nur partialisierte Phänomene (Kühn & Petzold, 1992). Die kürzlich von den Neurowissenschaften aufgeworfene Infragestellung des freien Willens und weitere hegemoniale Deutungsansprüche dieser Teildisziplin zeigte dies überdeutlich (Libet, Freeman & Sutherland, 1999; Libet, 2005; Singer, 2004; Roth, 2003). Der Wille als Epiphänomen neurophysiologischer Vorgänge: Mereologische (Verhältnis vom Teil zum Ganzen), perzeptiologische und deterministische Fehlschlüsse der Hirnforschung konnten schnell nachgewiesen werden (hierzu: Pothast, 2016; Janich, 2009; Pauen, 2004; Bieri, 2003; Schuch, 2012). Das Hirn ist weder die „Seele“ noch der Mensch, schon gar nicht die Person, und es ist auch nicht das handlungssteuernde Organ. Die ehrgeizigen Neurowissenschaften denken, den Menschen allein in biologischen Begrifffen erklären zu können. „Darwinitis und Neuromanie“ (Tallis, 2016) minimieren die Unterschiede zu unseren nächstverwandten Tieren, leugnen die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen und verhindern damit ein klares Denken darüber, wer wir sind und, vor allem, wer wir sein könnten (ebd., 16).

Die Inanspruchnahme wissenschaftlich „geliehenen Wissens“ kann zu Zwecken der Manipulation und Fremdentmündigung angestellt werden, etwa um mit solchem „Faktenobskurantismus“ (Steinweg, 2015) persönliche Interessen in Einzelne, Gruppen oder die Gesellschaft hinein zu kolportieren. Jede Theorie muss an der Erfahrung scheitern können, nur so können sich Erkenntnisprozesse weiterentwickeln (Popper, 1971). In jedem Fall zeigt sich „starkes Denken“ (Arnold, 2018) darin, dass es Alterität, Pluralität und Diskursivität zulassen kann, somit den „Abschied vom Prinzipiellen“ (Marquard, 1986a) vollzogen hat.

Ob aus korrelativen Zusammenhängen und Signifikanzergebnissen in einem Organ des Köpers die Deutung der Unfreiheit des Menschen als Ganzes zulässig ist, dafür sind Metaüberlegungen, der Einbezug anderer Teilwissenschaften erforderlich. In Deutung und Übertragung ihrer Geltungsansprüche sowie in ihren Anwendungen sollten naturwissenschaftliche Erkenntnisse daher plurale hermeneutische Diskurse durchlaufen (Petzold, 1994a). Dies bringt die Aufgabe mit sich, die multiparadigmatische Vielfalt von Begrifflichkeiten aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften unter das Dach von „Integratoren“ zu bringen, wie dies im integrativen Ansatz geschehen ist (Petzold, 1993). Es ist traditionell die Aufgabe der Philosophie, in Einzelbefunde zersplittertes Wissen wieder zu kontextualisieren und sie unter das eine Dach des menschlich Wahrnehmbaren zusammenzuführen (vgl. Petzold & Sieper, 2008; Fuchs, 2012; Höffe, 2015).

2 Humanwissenschaftlicher Hintergrund

Mit dieser Hinführung beginnt die Darstellung derjenigen geistes- und humanwissenschaftlichen Ansätze, die eine klinische Relevanz für das Thema der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik ausweisen. Obligate Lebensthemen, die den Menschen und seine Lebensgestaltung betreffen, wurden ausgewählt und in aller Kürze essayistisch ausgeführt. Sie sollen in dieser Art der Darstellung nicht nur informieren, sondern vor allem zu eigener Auseinandersetzung anregen. Es werden zum Teil starke Positionen bezogen, mit denen man ringen, ja streiten sollte. Erst so erschließt sich der Sinn der Texte. Bei allem steht eine pragmatische Ausrichtung der Philosophie im Vordergrund (Kant, Böhme), die der klinischen Praxis den Vorrang vor der Auseinandersetzung vergleichender theoretischer und metatheoretischer Reflexion gibt. Bestehende Verhältnisse werden nicht einfach nur beschrieben, sondern kritisch beleuchtet und mit einer Tendenz zu transversalen Entwicklungen dargestellt (Petzold, Sieper & Orth, 2013b). Hauptintention dieser Ausführungen „Klinischer Philosophie“ (Petzold, 2003) ist, ein Bewusstsein für ein weiträumiges Menschenbild zu schaffen, das Individuumszentrierung und Solipsismus überschreitet, mit entsprechenden Orientierungen die Haltung der Therapeutin betreffend. So kann jedes der behandelten Themen als diagnostische und klinische Kategorie angesehen werden, die sich auch interventiv nutzen lässt.

Von seiner Charakteristik her präferiert der integrative Ansatz durchgängig ein existenzialistisches, phänomenologisch-hermeneutisches, leibphilosophisches und an Intersubjektivität orientiertes Denken. Der Existenzialismus – als Erbe der Metaphysik (Tugendhat, 2010) – tritt als Versuch des Menschen auf, sich ohne Gott und ohne Seele, nur aus sich selbst heraus zu erklären. Es handelt sich dabei um eine Konkretisierung des Subjekts (Waldenfels, 1987), aber nicht im strukturalistischen Sinn, auch nicht im Sinne eines szientistischen Naturalismus oder im Sinne der Suche nach weiteren genetischen Theorien, sondern im Sinne dessen, was sich dem Subjekt als lebendige Evidenz seiner Selbst- und Welterfahrung, also seiner Wahrnehmungen und Verarbeitungsmöglichkeiten zeigt. In der phänomenologisch-hermeneutischen Leibphilosophie wird eine anthropologische und mundanologische (auf die ganze Welt, z. B. auf Wirtschaft und Ökologie bezogene) Sicht vertreten (Welsch, 2012). Ihr gilt der Leib in der Lebenswelt als der erste, unhintergehbare Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen (Merlau-Ponty, 1966; Bischlager, 2016; Fuchs, 2018). Von dort aus wird das Menschenbild im integrativen Denken aus Ansätzen der philosophischen und evolutionären Anthropologie sowie aus benachbarten Disziplinen heraus beschrieben. Auch hier werden nur jene Themen bearbeitet, die hinsichtlich des Verstehens des Menschen mit seiner Verwundbarkeit für multiple Entfremdungsprozesse bedeutsam sind.

Wenn hierfür der Leib der erste Ausgangspunkt ist, so wird als der nächstdringende die Angewiesenheit des Menschen auf die Einbettung in zwischenleibliche, soziale, gesellschaftliche und ökologische Welten verstanden. Im Kleinen ist damit das erste Biotop gemeint, die Familie, im weiteren Sinne aber die Kultur, die Gesellschaft und die Zeitepoche, das ,Ökotop‘, in das der Mensch hineingeboren ist. Persönlichkeit und Identität des Menschen wurzeln in seiner Leiblichkeit und sind zutiefst durch eine produktive zwischenleibliche und psychische Auseinandersetzung mit seiner sozialisatorischen und kulturellen Umgebung geprägt. In der Zeitepoche der Moderne, der Postmoderne oder der transversalen Moderne ragen aus dieser Ebene auch verstörende Schatten in Entwicklungsräume und Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums hinein, die zum Teil weit abseits des „Unbehagens in der Kultur“ liegen, wie es Sigmund Freud (1999c [1930]) verstand. Globalisierung, Fundamentalismus, Beschleunigung von Arbeitswelten, entgrenzte Machbarkeitsvorstellungen und Entleiblichung von Kommunikation, Überflutung durch Information, Quantifizierung sozialer Beziehungen (social network), Entgrenzung sozialer Transparenz, Erosion der öffentlichen Räume, die Erosion und Agonie der Innerlichkeit aufgrund eines ständigen „Nach-außen-gewand-Seins“ sind nur einige Stichworte hierzu (Kleiner et al., 2003).

Unter diesen Bedingungen wird sowohl die Epigenese der Person als auch die Genese ihrer Störungen als ein komplexer Prozess verstanden, als ein Wechselspiel von Handlung und Wille auf der einen, Widerfahrnis und Kontingenz auf der anderen Seite (Birgmeier, 2007; Seel, 2014). Dem psychotherapeutischen Nachvollzug dieser Metamorphosen, also der Diagnostik, sind damit Limitierungen gesetzt, die mit dem Verständnis des Subjektbegriffs, der hier verwendet wird, noch deutlicher werden. Insofern der Leib mit den Sinnen, seinem Bewusstsein, seiner Ausrichtung auf die Welt hin (être au monde; Merleau-Ponty, 1966) als der unhintergehbare Ausgangspunkt des Subjekts betrachtet wird, kann dieses nicht der „selbstmächtige Grund aller seiner Setzungen“ sein, wie Henrich (2016, 18) im Sinne Heideggers (1929) erläutert. Das Subjekt wird auch nicht allein durch seine Selbstgegenwart (Sartre, 1952) definiert. Dem Subjekt fehlt ganz offensichtlich „jene Fülle, von der jeder Zweifel ausgeschlossen sein könnte“ (Henrich, 2016, 25). Das sich selbst bewusste Subjekt besitzt in diesem Verständnis immer auch Präpersonales, aus dem es schöpft, das es nicht kennt und von dem es nur weiß, dass es als „Chaotisches“ oder „Mannigfaltiges“ in ihm existiert (Schmitz, 2017).

Dies führt in diesem Kapitel zuletzt zu Fragen der Erkenntnistheorie unter solchen Bedingungen. Entsprechend dieser Grundannahmen kann der Weg vom Bewusstsein, von der Wahrnehmung über das Lernen bis hin zum ,Wissen‘ (als ein Festhalten von Bewusstseinsinhalten) nur über phänomenologische, (meta-)hermeneutische und sozialkonstruktivistische Verstehensweisen erfolgen, die den subjektiven Erfahrungs- und Deutungsmöglichkeiten des Menschen keine objektivierende Diagnostik entgegenstellen – in der Terminologie des Verfahrens: über „diskursive Hermeneutik“ (Petzold, 2017a).

Es ist trivial, dass mit der Darstellung geisteswissenschaftlicher Haltungen immer auch Weltanschaulichkeit transportiert wird. Menschen gewinnen ihre Anschauung meist aus traditionellen, kulturellen und religiösen Werthaltungen und Zeitgeistströmungen – bei Psychotherapeutinnen müssen wissenschaftliche Überzeugungen hinzukommen. Alle diese von Foucault so genannten „Diskurse“ beinhalten jedoch deterministische und tendenziell entmündigende Auffassungen, je nachdem, wie weit man an sie glaubt. Eine philosophische Weltanschauung muss es dabei wagen, sich immer wieder auf die eigene Vernunft zu stellen, sie wird alle hergebrachten Meinungen versuchsweise bezweifeln und darf nichts anerkennen, was ihr nicht persönlich einsichtig und begründbar ist (Scheler, 1929; Petzold, 2014e, f). Hierzu soll dieser Abschnitt beitragen.

Im Text verwende ich aus pragmatischen Gründen immer wieder die Termini „wir“ oder „der Mensch“ oder „man“ oder „das Subjekt“. Damit nehme ich eine gewisse Prekarität in Kauf, denn der Einschluss aller Subjekte in eine einzige Aussage ist genau genommen nicht statthaft. Leserinnen und Leser sollten für den Fall, dass sie sich unter eine Aussage nicht subsummiert wissen wollen, sich dieser souverän entziehen. Weibliche und männliche Artikel verwende ich in derselben Weise, in lockerer, intentionaler Folge.

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