Kitabı oku: «Integrative Psychotherapeutische Diagnostik (IPD)», sayfa 4

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2.1 Einbettung des Psychischen: Leibphilosophie

In der westlichen Welt erleben wir eine Zeit des erst allmählichen Zurückgehens von Vermeidung und Verdrängungen der Erfahrung leiblicher Existenz. Dabei ist die stereotype Art und Weise, wie die Begriffe von Körper und Seele bis vor kurzem gedacht wurden, nicht erst mit dem cartesianischen Denken entstanden. Die Herabsetzung leiblicher Existenz war schon in Platons Metaphysik impliziert, in der nicht die Gegenstände der Sinneserfahrungen die Wirklichkeit abbildeten, sondern deren maßgebliche Urbilder, die „vollkommenen Ideen“ (Vonessen, 2001). Diese Herabsetzung wurde danach lange Zeit in der christlichen Leibfeindlichkeit tradiert, bevor René Descartes zwischen einer denkenden und einer ausgeweiteten Substanz (res cogitans und res extensa) unterschied und diese Differenz als Grundlage des neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens festsetzte (Descartes, 2009 [1641], 79f.).

Dadurch kam es im Deutschen zu einem Bedeutungswandel von dem älteren Begriff des Leibes zu dem des Körpers. Derweil verschwand in der Transzendentalphilosophie (Kant) der Begriff des Leibes fast vollständig. Erst durch Arthur Schopenhauer (1819; Die Welt als Wille und Vorstellung), Friedrich Nietzsche (1883; Also sprach Zarathustra) und die neuere Phänomenologie in Frankreich (Marcel, Lévinas, Sartre, Merleau-Ponty, Henry, Derrida) und in Deutschland (Husserl, Buytendijk, Plessner, Schmitz, Petzold, Böhme, Fuchs, Waldenfels) wurde der Begriff des Leibes, dem noch immer eine religiöse Konnotation anhaftet, in eine andere und erweiterte Bedeutung gefasst.

Diese Bewegung wurde forciert einerseits durch die cartesianische Spaltung, andererseits durch die neuzeitliche Wahrnehmung der Faktizität von Leiblichkeit, eine unhintergehbare und unaufhebbare Konkretheit des Menschen in seiner eigenleiblichen Wahrnehmung, seiner ökologischen Welt- und Selbsterfahrung. Die globale Bedrohung der Leiblichkeit durch Umweltzerstörung, Krieg und Atomrüstung dürfte in diesem Prozess eine Rolle gespielt haben (Beck, 1986, 2008). In den Entwürfen der Phänomenologie suchte man einen kraftvollen Ausdruck, der der cartesianischen Spaltung etwas Wirksames entgegenzusetzen hatte – dieser fand sich im Leibbegriff (Petzold, 1986).

Körper und Leib

Insofern der frühzeitliche Mensch, zu Zeiten Platons Ideenlehre, den Körper als Materie, als Gefäß oder Fahrzeug für die Seele verstand und die Seele als eine den Körper gebrauchende Instanz‘, entfernte er sich vom einheitlichen Leiberleben, sah im schwer zugänglichem Dunklen seiner Leiberfahrungen, in dessen diffusem, irrationalen Wollen eine Art Gegenspieler der Seele oder des Geistes. In der Konstruktion verschiedener Instanzen sind der Alpdruck der Natur und der Versuch seiner Verdrängung zu finden. Auch wenn es unter den Stoikern, etwa mit Hierokles (Inwood, 1984), Philosophen gab, die bereits in die neuzeitlichen Richtungen eines „Selbstbesitzes und der Zugehörigkeit“, sogar eines „Bei-sich-zuhause-Seins“ (griech. oikeiosis) dachten, schlug diese Angst vor dem Leiblichen erst mit der Renaissance in eine wissenschaftliche Erkundung und Entdeckung des Körpers im heutigen Sinne um (Böhme, 1985).

Was man hier im Wortsinn ,ent-deckte‘, ist aber nicht der eigene, lebendige Leib, sondern der Körper des Anderen, ein Körperding, das sich dem ärztlichen Blick preisgibt. Der Körper wird als Maschine konzipiert, die sich über verschiedene Organe und Stoffwechselvorgänge am Leben erhält. Dafür sind Transportsysteme (Blut, Lymphe), Informations- und Steuerungssysteme (Nerven, Gehirn, Hormone), Austauschsysteme (Haut, Immunsystem), reproduktive Systeme (Geschlechtsorgane) und Bewegungssysteme (Gelenke, Muskeln) vonnöten. Innerhalb dieser zergliedernden Vorstellungen werden gleichzeitig mögliche therapeutische Zugangsweisen zum Körperlichen festgelegt. Der Stoffwechsel muss versorgt und reguliert, die Transportsysteme müssen beschleunigt oder gebremst, in die Steuerungssysteme muss eingegriffen, die Immunsysteme müssen unterstützt, die Bewegungssysteme trainiert oder apparativ substituiert werden (ebd., 117).

Die Verwissenschaftlichung des Körpers zeigt sich hier als die radikalste Verdrängung des subjektiv Leiblichen. Wahrnehmungen und Zeugnisse des eigenleiblichen Spürens, die sich durch das anatomische Wissen nicht mehr deuten lassen, werden als bloße Epiphänomene in die Seele oder ins Geistige abgedrängt.

Dabei sind es bezeichnenderweise leibliche Phänomene, die zur Aufnahme einer ärztlichen oder psychologischen Behandlung führen: Unwohlsein und Schmerzen. In cartesianischer Sicht sind Schmerzen Begleiterscheinungen‘, Korrelate nicht funktionierender Systeme, ihre Ursachen werden im Körperlichen gesucht, auch im Rahmen psychischer Symptomatik. Die primäre leibliche Anmutung und das Auf-sich-zusprechen-Lassen des Schmerzes werden als unsinnig gedeutet. Psychosoziale Aspekte von Krankheit, seien sie verursachender Natur oder deren Folgen, werden marginalisiert oder in eine Wechselwirkung hineingedeutet, deren Mechanismus man nicht mehr versteht, weil die Schnittstelle‘ nicht aufgefunden werden kann. Dabei wird gerade die affektive Betroffenheit in der Art und Weise, wie wir leibliche Empfindungen erfahren – der Umstand, dass wir ihnen nicht ohne Weiteres ausweichen können –, zum Anlass, ihnen eine unabhängige Substanz zuzuschreiben, die ,Seele‘. Von dem Moment an aber drängt sich die Frage auf, wie das Problem vom einen in den anderen Bereich hinüberwechseln kann. Und als ob dies nicht alles schon ausreichend kompliziert wäre, wurde dieser Übergang, das ,Somatisieren‘, etwa durch die frühe Psychoanalyse, auch noch als neurotisch und unreif gedeutet.

Damit wird verständlich, dass man von Leib nur sprechen kann, wenn man erstens die Seele – als metaphysisches Konzept, das rein phänomenologisch vom Menschen nicht wahrgenommen werden kann – verneint, zweitens die Rede vom Körper von der über die Leiblichkeit und das eigenleibliche Spüren trennt. Die Existenz des Mentalen scheint an den Körper gebunden zu sein, seine Wahrnehmung an den Leib und die Bedeutungssysteme des Subjekts. Den Körper als solchen kann man nur im Modus der Fremderfahrung wahrnehmen: als den toten Körper des Anderen, als materielles Ding unter anderen Dingen. Leiblichkeit dagegen ist vom Grund her lebendige Selbsterfahrung. Als Leib ist dasjenige zu verstehen, als was ich mich selbst spüre, mit dem Bewusstsein, dass ich es selbst bin, das ich da spüre (Schmitz, 2007a; Böhme, 1985, 120).

In diesem ,eigenleiblichen Spüren‘ ist immer schon das Bewusstsein um sich und die Ökologie des Leibes enthalten, außerdem phylogenetische Informationen – im integrativen Denken spricht Petzold (2011a) vom „informierten Leib“. Die Strukturen eigenleiblichen Spürens entsprechen dabei selten den körperlich-biologischen. In der Selbstwahrnehmung der Leiblichkeit spüren wir die Grenzen des Leibes nicht so, wie wir sie etwa im Spiegel wahrnehmen. Vielmehr zeigt sich eigenleibliches Spüren als ein lockeres Ensemble wahrnehmbarer Leibesinseln mit unklaren Rändern, die schwankend mehr oder weniger stark hervortreten, die okkasionell auftauchen und wieder verschwinden. Hermann Schmitz (2007a) spricht von Engung und Weitung, von Spannung und Schwellung, ergänzend könnte man von Schwere und Leichtigkeit, auch von Hellung und Dunkelung sprechen.

Den eigenen Leib spürt man weder vollständig noch andauernd. Im alltäglichen Tun verschwindet die Wahrnehmung eigenleiblichen Spürens bisweilen fast vollständig. Sie kann sich auf das Spüren einer gerade verrichteten Tätigkeit zuspitzen, hin und wieder verschwindet sie im Rücken hoher Konzentration. Weil es vom Spüren her keine feste und kontinuierliche Konstitution gibt, gilt dieses Phänomen auch für andere Formen eigenleiblicher Wahrnehmung, etwa das Ich, das Bewusstsein, die Identität usw., die in ihrer räumlichen Ausdehnung auch über Körpergrenzen hinaus ausgreifen können. So etwas geschieht etwa in der Wahrnehmung von Atmosphären, beim gemeinsamen Musizieren oder in gemeinsam verrichteter handwerklicher Tätigkeit. Diesen Prozess nennt Hermann Schmitz (ebd.) „Einleibung“.

Obwohl eigenleibliches Spüren eine eigene Kategorie der Wahrnehmungen darstellt, wird es natürlich vom empirischen Wissen über den Körper überlagert. Wenn wir etwa unter den letzten Rippenbögen in der Mitte des Körpers Schmerz wahrnehmen, vermuten wir, dass es der Magen sei, den wir da spüren, aber den Magen als solchen und als Ganzen spüren wir nicht. Wenn wir Lustempfindungen haben, spüren wir den eigenen Leib in der Gegend der Geschlechtsorgane, aber mit ausgeweiteten Rändern. Beim Schreiben dehnen wir unsere Leiblichkeit durch die Hand hindurch bis in die Bleistiftspitze hinein aus. In dieser und ähnlicher Weise betrifft dies das Gesamt des eigenleiblichen Spürens.

Entfremdungsprozesse vom eigenleiblichen Spüren registrieren wir, wenn wir uns im Falle von Unwohlsein nicht mehr zutrauen zu wissen, was mit uns los ist. Der Mensch hochtechnisierter Gesellschaften weiß entweder nichts mehr von seinem Leib, will nichts von ihm wissen oder er möchte die Verantwortung für ihn an Wissenschaftsexperten delegieren. Seine Leiblichkeit ist ihm unheimlich, er kann die leiblichen Regungen nicht mehr als Empfindungen und Gefühle deuten, weiß sich in ihnen nicht zurechtzufinden, noch weniger, sich ihnen hinzugeben, sich vom Angenehmen oder Unangenehmen führen zu lassen. Er hat die Vertrautheit darein verloren. Das kann zu Ängsten und weiter bis zur ständigen Besorgnis, krank zu werden, führen. Bedingungslos begibt er sich dann in die Hände von Spezialisten.

Dort aber wird nur der Körper behandelt. In der neuzeitlichen Medizin geht die Entfremdung von Leiblichkeit so weit, dass in Form evidenzbasierter Behandlungsleitlinien nicht mehr der Mensch, sondern nur noch die vermeintlichen körperlichen Ursachen von Funktionsstörungen medikamentös oder instrumentell manipuliert werden. Obwohl also die Stimmungen und Gefühle leiblich erfahren werden – sie den eigentlichen Grund zur Aufnahme einer ärztlichen Behandlung darstellen – und auch körperliche Schmerzen immer mit affektiver Betroffenheit einhergehen, richtet sich die Behandlung nicht mehr an den phänomenologisch wahrgenommenen Symptomen aus, die den Menschen unmittelbar betreffen.

Begriff und Vorstellung von Leiblichkeit heben mit diesen Überlegungen den Dualismus auf. Der Leib wird zum ersten, unhintergehbaren Ausgangspunkt der Verstehensweisen des Menschen. Dies hat weitreichende Konsequenzen für Diagnostik und Therapie psychischer und psychosomatischer Krankheiten. Wenn der Leib die Einheit darstellt, die die Kategorien des Körpers, der Gefühle, des Geistes, der Erinnerung, der Wahrnehmungen, des Willens und des Verhaltens in das Bild einer einzigen, in sich komplex aufgebauten Entität fasst, ist es nicht mehr nötig, einen wie auch immer gearteten Übergang vom Geistigen ins Körperliche zu suchen. Rein phänomenologisch drücken sich Befindlichkeiten und Verstörungen des Menschen dann auf irgendeiner dieser Ebenen aus und sind nur noch drauf angewiesen, dass sie vom Subjekt oder von Spezialisten richtig verstanden und gedeutet werden, nämlich als vitaler Ausdruck des Lebendigen selbst. Von dort aus beginnt die Suche nach den Sinnimmanenzen von Symptomen auf dem Weg des Sicheinlassens auf die Kontingenz eigenleiblichen Spürens und auf intersubjektive Validierungen der Erfahrungen.

Dennoch bleibt es Aufgabe des Menschen, Körper und Leib zu integrieren. Das gilt für alle Aspekte naturwissenschaftlicher Erkenntnis, etwa der Anatomie und Physiologie, heute insbesondere für die Genetik und Epigenetik, die Resultate der Hirnforschung und der neurohumoralen Prozesse. Und es gilt natürlich auch für Identitätsprozesse, die zum Teil im eigenleiblichen Spüren wurzeln. Leiblichkeit kann nicht ohne ihre Bettung in soziale Kontexte und Ökologie, daher auch nicht ohne ihre Intentionalität gesehen werden. Merleau-Ponty (1966) sprach von einem „Sein zur Welt hin“. In dieser Form ist unsere gesamte phylogenetische Ausstattung auf die Anpassung an unsere Umwelten ausgerichtet (Stefan, 2019). Dies alles will in einen Selbstentwurf im Sinne der Leiblichkeit überführt werden (Petzold, 2011a).

Eingedenken der Natur im Subjekt

Die Philosophie der Neuzeit zeigt umgekehrt ein entschiedenes Desinteresse dem Thema „Natur“ gegenüber. Sie überließ dieses Feld lange Zeit kritiklos den empirischen Wissenschaften, so als hätte sie mit der Natur des Menschen nichts mehr zu tun. Erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde die Thematik wieder aufgegriffen, etwa durch Merleau-Ponty, Plessner, Buytendijk, Petzold, Waldenfels und Böhme. Böhme (1985) arbeitete das Programm des „Eingedenkens der Natur im Subjekt“, das ursprünglich in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno formuliert wurde, für die Leibphilosophie weiter aus. Sein Diktum in der Sache ist, dass der „Leib die Natur ist, die wir selbst sind“ (ebd., 119ff.).

Was in leibphilosophischer Hinsicht als Natur verstanden wird, ist unterschieden von dem, was einerseits die Biologie, andererseits die platonische Philosophie darunter subsummierten. Das ist zunächst einmal wenig spezifiziert als geboren werden, atmen, essen, trinken, schlafen, behütet werden, später spüren, sich bewegen, erkunden, lieben, leiden, wachsen und reifen, denken, wollen, fühlen, handeln und schließlich wieder sterben. Die Wiederentdeckung der Leiblichkeit muss als eine Folge der Entwicklungen in der technischen Zivilisation verstanden werden. Dass sie in diesem basalen Sinne heute auffällig wird, liegt etwa am sogenannten „Umweltproblem“. Das ausbeuterische und zerstörerische Verhalten des Menschen der Natur gegenüber schlägt auf den Menschen selbst zurück: Es wird am ,eigenen Leibe spürbar‘. Es zeigt sich hier als unhintergehbares, eigenleibliches Erleben, „dass die Beziehung zur äußeren Natur im Kern eine Beziehung des Menschen zu sich selbst ist“ (ebd., 120). Betrachtet man die Umgangsformen des Menschen mit der äußeren Natur, so zeigt sich, dass er mit der eigenen Natur nicht viel anders umgeht: objektivierend, instrumentalisierend, ausbeuterisch, destruktiv.

Auf der anderen Seite haben die platonische Philosophie und die Theologie die Natur als etwas betrachtet, wovon der Mensch sich abheben muss, um Mensch zu sein. Kultur und Tugenden waren Resultate der geistigen Distanzierung von Natur, sodass Natur als etwas Äußeres, ja, als eine Gegeninstanz der Tugenden gesehen wurde (Aristoteles, 2009). Die bewusste Rekognition des Umstandes, dass das Leben nicht nur Handlung, sondern auch Widerfahrnis ist, hat unter Umständen als Wunsch, sich von der Unmittelbarkeit dieser Erfahrung herausnehmen zu wollen, viel dazu beigetragen, dass Instanzen wie das Ich und die Seele erfunden wurden. Bei Hegel (1807) wird die Naturerfahrung als ein Außer-sich-Sein des Geistes bestimmt; bei Helmut Plessner (1975) wird das Charakteristikum des Menschen als Möglichkeit zur Exzentrizität beschrieben. So erscheint die Natur in klassischen Selbstdefinitionen des Menschen (Gehlen, 1950) als etwas Äußerliches oder zu Überwindendes. Natur wird zu etwas, ,was wir nicht selbst sind‘. Aber diese Bewegungen entfremden den Menschen seiner selbst und machen ihn in Hinsicht auf seine eigene Natur heimatlos (Böhme, 2008, 123).

Mit diesen Überlegungen wird eine neue Sicht auf Natur gefordert. Dadurch, dass wir durch unsere Leiblichkeit selbst Natur sind, ist uns quasi eine Möglichkeit gegeben, die Substanzialität von Natur von innen her zu sehen und zu spüren (Bischlager, 2016). Diese Sicht wird Kontrolle und Ausbeutung hinter sich lassen können, auch die Idee, in einer Art „Gehäuse“ zu sitzen, das wir nach unseren Vorstellungen benutzen könnten. Was daher Natur für uns ist, hängt davon ab, wie wir uns zu ihr verhalten (ebd., 158). In unserer Kultur und Zeitepoche steht es weder um die Kultivierung der Innerlichkeit noch um Orientierungen des eigenleiblichen Spürens besonders gut. Die deutsche und die österreichische Kultur pflegten ein intensives Nach-außengewandt-Sein und höchste Leistungsbereitschaft, um eine ganze Epoche traumatisierender politischer, gesellschaftlicher und persönlicher Ereignisse aus dem letzten Jahrhundert ins Vergessen zu bringen.

Der moderne Mensch der Hochleistungsgesellschaften lebt als cartesianischer Mensch größtenteils über seinen Leib hinweg. Er glaubt, über seinen Körper wie über ein Eigentum verfügen zu können, er konzipiert sich als biologische Maschine, die ihm im Leben Möglichkeiten eröffnet. Um den Erhalt dieser Optionen zu sichern, muss er die Maschine irgendwie am Laufen halten. Bei allem, was er für sich selbst, seine Mitmenschen oder die Natur entscheidet, sind Vorteilserwägungen im Vordergrund und nicht das Bewusstsein um eine singuläre oder kollektive Dimension der Leiblichkeit. Die Regungen des Leibes sind ihm fremd und er kann damit wenig oder gar nichts anfangen. Er kann sie weder als Empfindungen erleben noch als Hinweise, die ihn orientieren könnten. Im Umgang mit unangenehmen Widerfahrnissen denkt und deutet er sie schnell als Symptome einer Störung, als Folge seiner Fehler. Über Schwächen und die Unveräußerlichkeit des eigenen Leibes tröstet der moderne Mensch sich mit den Handlungsmöglichkeiten der Hochleistungsmedizin hinweg.

In Hinsicht auf Verantwortlichkeit und Selbstfürsorge macht es also einen Unterschied, ob ich im Bild meiner Vorstellungen einen „Körper habe“ oder in selbstverantwortlicher Regie „mein Leib bin“. Mit Medikamenten jeder Art die Maschine wieder zum Laufen zu bringen, macht in Krisen Sinn, genauso viel Sinn macht es aber, sich zu vergegenwärtigen, dass diese Vorgehensweise die implizite Idee propagiert, dass für die Widerfahrnisse des Lebens keine subjektiven oder sozialen Kompensations- und Regulationsmöglichkeiten zu Verfügung stünden. Unter psychopharmakologischer Dauermedikation können mentale, emotionelle und leibliche Möglichkeiten atrophieren, die Herausforderungen des Lebens direkt auf sich zusprechen zu lassen, der Bewegung, die daraus entsteht, zu folgen und auf diese Weise ein sich stellendes Problem auch als Startkapital für die eigene Entwicklung zu betrachten. Manchmal geht es nicht anders, aber Lernerfahrungen und organismische Anpassungen wirken. All diese Vorstellungen bleiben nicht nur eine persönliche Angelegenheit, sie treten als Einstellungen zum Anderen hin und als handlungsrelevante Vorstellungen auch ins Gesellschaftliche und Politische hinüber.

Auch wenn ich Leib bin, kann ich in Exzentrizität hierzu treten und meinen Leib zum Gegenstand der Aufmerksamkeit machen (Plessner, 1982). Ein Resultat von Bewusstheit und Exzentrizität, von Aneignung eigenleiblichen Spürens, Reflektierens und Konnektivierens ist das, was die Psychologie mit großer Selbstverständlichkeit wie eine eigene Entität behandelt und das „Selbst“ nennt. Bei Sokrates war das die Seele, die den Körper und alle Dinge benutzt. In platonischer und auch in cartesianischer Tradition nimmt dieses Selbst vom Körper Gebrauch und vergisst, dass es selbst Leib ist. So wie das Ich jedoch eine Bezeichnung für eine Konstruktion ist, so wird auch das Selbst als eine Konstruktion des Geistes verstanden. Allerdings stellt diese sich als eine durchaus selbstbewusste, sich verselbständigende dar: Das Ich und das Selbst haben nicht das Selbstverständnis, eine Konstruktion zu sein. Damit aber das Selbst als ein Eigenes erfahren werden kann, müssen wir es uns erst aneignen. Diese Aneignung ist aber genau nicht als Inbesitznahme zu verstehen, sondern als eine Hinwendung, als ein Versuch, Einvernehmen damit zu erreichen, dass das Leben nicht nur Handlung, sondern auch Widerfahrnis ist. Dies bezeichnet die „Urtatsache, dass uns etwas zustößt, zufällt, auffällt oder einfällt, dass uns etwas glückt oder auch verletzt“ (Waldenfels, 2015, 20). Somit geht es also darum, aus der Entfremdung von der Leiblichkeit in eine Form der Teilhabe oder sogar Vertrautheit mit ihr zurückzufinden.

Vom Kopf auf die Füße gestellt, müssten wir daher aus leibphilosophischer Sicht von einem „Leib-Selbst“ sprechen (Petzold, 2011), in philosophischer Hinsicht von einem „Selbst-Sein, das sich selber denkt“ (Henrich, 2016), und weiter von einem Selbst, das weder transzendent noch naturalistisch, sondern rein phänomenologisch verstanden werden kann (Metzinger, 1995, 1996). Dieses könnte sich dann zumindest auch als Natur denken – als ein Teil von etwas – und seine Biologie als eine Kategorie der Leiblichkeit verstehen. In Identifikation mit seiner eigenen Grundlage müsste dem personalen Selbst mit dem ,Körper‘ nicht notwendig etwas Fremdes entgegentreten, wodurch die Person ihrer Kraft und Produktivität beraubt werde. Es könnte sich synthetisieren mit der Natur der eigenen Leiblichkeit, sich sogar eingemeinden lassen, das heißt, sich eingelassen und verbunden fühlen.

In dieser Verbundenheit besteht das Selbst-Sein im Natur-Sein vor allem darin, dass die Lebensvollzüge eine latente Selbstbezüglichkeit erhalten. Wie der Mensch seine Natur erfährt, hängt nicht nur von seiner Ökologisation, seiner Sozialisation in Lebenswelt und Einbettung in die Natur, ab (Petzold, 2016), sondern auch von seinem Verhalten zu sich selbst. Herrmann Schmitz (2007a) nennt das „leibliche Betroffenheit“, Gernot Böhme (2008, 165ff.) auch die „betroffene Selbstgegebenheit“. Sie zeigt sich im Schönen und in der Emphase genauso wie im Leiden. Sie zeigt sich außerdem in der Erfahrung des Getragen-Seins von einer Natur, die auch „nicht ich selbst bin“. Hier geht es also nicht nur um das Erlangen eines „partnerschaftlichen Verhältnisses“, sondern um das unhintergehbare Verständnis, dass die eigene Natur weder vollständig zu verinnerlichen noch vollständig zu veräußerlichen ist (Thürnau & Barkhaus, 1996). In diesem Sinn, und auch weil der Leib dem Menschen damit erste und letzte Autorität ist, stellt sich die Beziehung des ,autonomen Subjekts‘ zu ihm oft als scharfkantige Herausforderung dar.

Reflektierend nimmt der Mensch von sich Abstand und wird so zum bewusst Handelnden. Diese Reflexivität aber schießt über ihr Ziel hinaus, der postmoderne Mensch vergisst, dass er auch Kontingenzen und Widerfahrnissen ausgesetzt ist, und er versteht sich in der Moderne nur noch als handelndes Subjekt. Für alles, was ihm widerfährt, glaubt er nicht nur final Verantwortung übernehmen zu müssen – das wäre hinzunehmen –, sondern er hält sich auch kausal für alles verantwortlich. Hierin zahlt er den Preis dafür, sich vom Leib, von der eigenen Natur, die ihn trägt, von der Welt als ein autonomes Selbst distanziert zu haben. Regungen und Bewegungen des Leibes aber setzen sich durch, unbeachtet und unbewegt vom Ich, das im Gespinst seiner Ideen gefangen bleibt (Böhme, 2017).

Vom Menschen muss der Leib daher als etwas Gegebenes betrachtet werden. Er ermöglicht innerhalb der Grenzen, die ihm gesetzt sind, Handlungsspielräume, er zeigt aber auch Limitierungen auf, die wir nicht ohne Schaden zu nehmen überschreiten können. Man wird sich daher mit Gernot Böhme (ebd.) fragen, ob in der Moderne nicht eine gewisse Bereitschaft, sich etwas geben zu lassen, notwendig ist, um den Ernst der eigenen Existenz zu wahren – Gutes wie Herausforderndes.

So behandeln auch die Naturwissenschaften das Menschsein in einem Modus, der das Selbst-Sein ausblendet. Bei all dem ist freilich zu bedenken, dass der Cartesianismus, der in unserer Kultur gelebt wird, uns spaltet in ein Ich und ein Körperding, das dieses Ich zu seinen Zwecken nutzt. Das Programm der Leibphänomenologie will aufzeigen, wie tief diese Differenz in unserem Denken eingesenkt ist und wie ungesund diese Entfremdung wirkt.