Kitabı oku: «Die Dschihad Generation», sayfa 2

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DAS BÖSE AN SICH?

„Er strich mit der Klinge zart über meinen Nacken, hörte dabei nicht auf zu reden: ‚Fühlst du es? Kalt, nicht wahr? Kannst du dir den Schmerz vorstellen, wenn es dich schneiden wird? Den unerträglichen Schmerz.‘ Dann ließ er das Schwert bis zu meiner Halsschlagader gleiten. ‚Mit dem ersten Schnitt werde ich deine Adern durchtrennen. Dein Blut wird sich mit deinem Speichel vermengen‘ sagte dieser Jihadi John dann.“ Dies sind die Erinnerungen von Javier Espinosa, einem spanischen Journalisten, der diese Scheinhinrichtungen erlebte.9 Von September 2013 bis April 2014 war er Geisel des IS, wurde dabei auch gemeinsam mit Jim Foley festgehalten. „Die ‚Beatles‘, wie wir die drei britischen Kämpfer nannten, die uns bewachten, liebten dieses Theater“, so Espinosa. „Und sie wiederholten es wieder und wieder. Emwazi suchte die exzessivste Inszenierung dieses Dramas. Dazu brachte er ein antikes Schwert, eines, das muslimische Heere im Mittelalter benutzt hatten. Die Klinge war einen Meter lang, der Griff aus Silber. ‚Mit dem zweiten Schlag werde ich deinen Nacken durchtrennen. Ab diesem Moment wirst du nicht mehr durch die Nase atmen können, nur noch durch den Mund. Du wirst lustige Gluckslaute von dir geben. Ich habe das schon erlebt, ab dieser Phase hört ihr euch alle an wie Schweine‘, sagte er, und dann: ‚Mit dem dritten Schlag des Schwertes wird dann dein Kopf abgetrennt. Den lege ich dir dann auf den Rücken.‘ Er und die anderen Aufpasser nötigten mich, dabei auf dem Boden zu sitzen, barfuß. Wenn sie mit der Schwertszene fertig waren, nahmen sie eine Pistole aus dem Halfter, eine Glock. Sie drückten sie mir gegen die Schläfe. ‚Klick.‘“ Niemals, so Javier Espinosa, hätte er den Eindruck gehabt, dass sie diese horrende Einschüchterung zufriedenstellte: „Hätte ich jemals Zweifel gehabt: Diese Szenen bestätigten, dass unsere Geiselnehmer Psychopathen waren.“

Auch der französische Journalist Nicolas Hénin war eine Geisel des IS. Von Juni 2013 bis April 2014 wurde er festgehalten und wie alle anderen gefoltert. Am brutalsten quälte ihn sein Landsmann Mehdi Nemmouche, der ihm in den Pausen der Misshandlungen Ausschnitte einer französischen Fernsehserie zeigte, die er auf seinem Smartphone gespeichert hatte. Sie lief unter dem Titel „Faites entrer l’accusé!“ („Führen Sie den Angeklagten vor!“) und handelte von Massenmördern. Dabei vertraute Nemmouche seinem Opfer an, dass es sein größter Wunsch sei, selbst einmal in der Show aufzutreten. „Der Islam ist bei diesen Leuten nur ein Anstrich für abscheuliche Gewaltfantasien“, sagt Hénin heute. „Diese Folterer haben sicher mehr Horrorfilme gesehen, als Koranverse gelesen, und im Islamischen Staat nur einen Vorwand gefunden, um ihrer Neigung zu Gewalt freien Lauf zu lassen.“10

Die beiden Journalisten zählen zu den wenigen unabhängigen Augenzeugen, die über einen langen Zeitraum mit den IS-Dschihadisten konfrontiert waren. Sie erlebten, wie sie ticken, und sammelten so – trotz der fürchterlichen Erfahrungen – wertvolle Indizien, die helfen, den IS und seine Schergen zu verstehen. Doch auch wenn beide von den pathologischen Persönlichkeitsstörungen ihrer Folterer überzeugt waren, muss man davon ausgehen, dass nicht alle Dschihadisten schlicht krank sind. Manche waren hochtalentierte Schüler und Studenten, andere notorisch arbeitslos und Kleinkriminelle. Überraschend sei, wie extrem verschieden sie wären, betonen Fachleute unisono.

„Es gibt abgebrühte Extremisten genauso wie weinerliche Jammerer“, sagt etwa Shiraz Maher vom britischen Thinktank „International Centre for the Study of Radicalization“ (ICSR). Einem innovativen Forschungszugang verdankt er tiefe Einblicke in die Gedankenwelt der Dschihadisten: Über soziale Medien stehen Shiraz Maher und seine Kollegen seit 2013 kontinuierlich mit Dutzenden ausländischen Kämpfern des IS im Dialog.11 Schon deren bloße Selbstdarstellung spiegle die große Bandbreite an Persönlichkeiten, die in den IS gezogen sind, meint er: „Manche prahlen mit Fotos, die sie in Swimmingpools in Syrien zeigen, andere in Kampfmontur. Unter ihnen gibt es abgebrühte Dschihadisten, die so schnell wie möglich als Selbstmordbomber sterben wollen, aber auch weinerliche Sozialromantiker, wie ein Mexikaner, der darunter leidet, dass er in Syrien kein Restaurant mit mexikanischer Küche findet, oder ein junger Brite, der sich kurz vor seiner Abreise nach Syrien nervös erkundigt, ob es dort eh Haargel gäbe. Es gibt Körperbehinderte, die dazu angestachelt werden, in den Krieg zu ziehen, wie auch Familien mit Kindern.“ Gleichheit sei nur ein Leitmotiv: „Es geht darum, dass alle willkommen sind, weil man dabei ist, einen Staat aufzubauen.“

Auch wenn es zuvor bereits Protostaaten radikaler Islamisten – etwa die Taliban-Herrschaft in Afghanistan von 1996 bis 2001 – gab, ist der Anspruch des „Kalifats“ singulär. Seit dem Ende des osmanischen Kalifats im März 1924 war die Notwendigkeit der Wiedererrichtung dieses gemeinsamen Staates aller Muslime das Credo sämtlicher Bewegungen des politischen Islamismus – bis zu den Dschihadisten. Der IS kidnappte diese Utopie und erhob den Führungsanspruch der Sunniten, die circa 90 Prozent aller 1,7 Milliarden Muslime stellen. Inkludiert ist aus Sicht des IS, die einzig „korrekte“ Auslegung des islamischen Lebensstils zu verwirklichen. Dazu zählt, dass Schiiten genauso als Abweichler gebrandmarkt werden, wie Sunniten, die sich gegen diese Dogmen stellen. Die Folgen sind verheerend: Das Vergehen, „falsch“ zu glauben, rechtfertigt im Universum des IS, diese Menschen zu töten.

Dazu scheint die besondere Grausamkeit der Gruppe unvergleichlich. Systematische Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und Sadismus von Milizen oder einzelnen Kämpfern sind an sich – leider – keine Markenzeichen, die nur für den IS typisch wären. Doch meist folgen diese Verbrechen einer kaltblütigen, aber doch rein militärischen Logik. Sie werden als Taktik der Einschüchterung eingesetzt und besonders bei ethnischen Säuberungswellen forciert. Eines der brutalsten Videos des IS dürfte beweisen, dass dies auch Teil der Propagandalogik der Gruppe ist. Fünf Gefangene wurden im Juni 2015 in einem Stahlkäfig in einen Pool getaucht und ertränkt. Die Botschaft zum Filmmaterial: „Dies zeigt Verräter, die den Amerikanern unsere Positionen verraten haben.“

Doch die Exzesse des IS erfüllen einen weiteren Zweck: Sie sichern die maximale und kontinuierliche Aufmerksamkeit in westlichen Medien. Es ist eine Machtdemonstration, eine auf die Spitze getriebene Provokation. „Der IS inszeniert sich als barbarischer Gegenentwurf zur westlichen Zivilisation, als das andere an sich“, analysiert Professor Lia Brynjar von der Universität Oslo: „Der IS ist omnipräsent, gewann so die Propagandaschlacht gegen andere islamistische Extremistengruppen, allen voran gegen die al-Kaida, von der sich die Anhänger des Kalifats nicht bloß abspalteten, sondern sie in Syriens Bürgerkrieg massiv bekämpften. Das half, Anhänger zu finden; vor allem unter den ausländischen Kämpfern.“12 Diese sind ein wertvolles Instrument: Kanonenfutter als Selbstmordattentäter, Werbefiguren und gehorsame Diener des Kalifen, die im Kriegsgebiet keine anderen Verbindungen und Interessen haben, als „Shahid“ – Märtyrer – zu werden.

SEX & CRIME: WIE DER IS AUF PRIMITIVE TRIEBE SETZT

Doch es geht nicht nur um Gewalt, wenn der IS die Werbetrommel rührt. „Die Marke ist komplex. Von einer Minute auf die andere schaltet die Gruppe von Massakern auf Blumenwiesen und Schulkinder um“, so Charlie Winter von der „Quilliam Foundation“, der für eine Analyse der Kalifats-PR 1700 ihrer Videos analysierte. Der Sozialpsychologe Arie W. Kruglanski, der an der University of Maryland in den USA lehrt und seit Jahrzehnten Motive von Terroristen erforscht, meint, dass die Ordnung der IS-Welt in klare Schwarz-Weiß-Strukturen einen beträchtlichen Teil der Faszination für Jugendliche erkläre, die versuchen, einen Sinn in ihrem als gescheitert empfundenen Leben zu finden. Eine wesentliche Rolle spiele dabei seiner Meinung nach aber auch das Versprechen der unbegrenzten Verfügbarkeit von Frauen: „Jungen, oft sexuell frustrierten Männern wird ein erotisches Shangri-La als Preis für ihre Tapferkeit in Aussicht gestellt.“13

Wie wichtig dieser vermeintlich nebensächliche Aspekt ist, zeigte sich bei fast allen Gesprächen, die ich mit IS-Fans für dieses Buch führte und die ich noch genauer wiedergeben werde. Auch die britische Dokumentarfilmerin Deeyah Khan entdeckte dieses Muster in ihrer Arbeit mit Dschihadisten:14 „Meist hatten sie Probleme mit ihren Vätern, die mit der offenen Sexualität im Westen nicht umgehen können und ihre Frustration auf die Kinder übertragen.“ Alyas Karmani, der mittlerweile als islamischer Prediger arbeitet und versucht, der Radikalisierung entgegenzusteuern, war selbst zuvor in den Fängen der Gruppe und meint, dass in dem Moment, in dem Jugendliche dem IS beitreten, ihre gröbsten Probleme mit einem Schlag vermeintlich gelöst seien: Sie entkommen den Eltern, die sie unterdrücken, fühlen sich zugehörig und können – dies sei ein wichtiger Punkt – ihre Sexualität leben. „Die Teenager bekommen Waffen, posieren mit der MP, die auf den Fotos meist wie eine Penisverlängerung aussieht“, so Karmani. „Sie haben das Gefühl, sexy zu sein in der Rolle als Gotteskrieger, dass sie nun Eindruck auf Mädchen machen.“

Doch es sind nicht nur sogenannte „freiwillige Dschihadisten-Bräute“, die diese Bedürfnisse erfüllen müssen. Abu Ibrahim al-Raqqawi, ein syrischer Aktivist, der gemeinsam mit einem Dutzend Gleichgesinnter Augenzeugenberichte aus Raqqa, der Hauptstadt des IS, sammelt, dokumentierte dazu schier unfassbare Details: „Die IS-Kämpfer sind geradezu sexbesessen“ , sagt er. „Ein nicht unbeträchtlicher Teil, vor allem unter den Ausländern, lebt horrende Fantasien mit Frauen aus, die sie als Sklavinnen kaufen. Zu den meist nachgefragten Medikamenten gehört Viagra.“ Immer wieder, erzählt er, müssten Frauen im Spital behandelt werden, so schlimm seien die Verletzungen, die sie dabei erleiden.

Ist es angesichts dieser Gräuel überhaupt denkbar, den IS im Rahmen seiner Religion zu definieren? Der Großteil aller Muslime, die ich für dieses Buch interviewte, weist jede Ähnlichkeit ihrer Einstellung mit jener des IS entrüstet zurück. Nichts habe das mit dem Islam zu tun. Auch US-Präsident Barack Obama charakterisierte den IS als gegen die Religion gerichtet, als völlig neuartige Bedrohung, als „das Böse an sich“.15

Trotz – oder vielleicht wegen – des Schreckens, den dieser real existierende islamistische Extremismus verkörpert, haben sich seit 2011 – inklusive der geschätzten Dunkelziffer – circa 7000 junge Leute aus Europa den Dschihadisten angeschlossen.16 Ein Zehntel davon sind Frauen, jeder, beziehungsweise jede Sechste ein Konvertit, eine Konvertitin. In Frankreich liegt ihr Anteil sogar bei einem Viertel.17

Somit liefern die unzureichenden Versuche, den Kindern muslimischer Zuwanderer gute Perspektiven zu bieten, nur den Ansatz einer Antwort auf die Frage, was nun die Faszination des IS für diese Jugendlichen ausmacht. Aber es ist eine wichtige Spur: „Es gibt unzählige Formen der Radikalisierung“, sagte Peter Neumann, Direktor des bereits erwähnten „ICRC“, in einem Statement vor dem UN-Sicherheitsrat im April 2015. „Doch etwas geht jeder Radikalisierung für den IS voraus: das Gefühl, ausgeschlossen zu sein.“

Und dies wird mitunter nicht bloß durch die Herkunft ausgelöst, sondern auch durch eine brüchige Biografie. Lisa-Maries Geschichte beweist dies: An einem verregneten Maitag 2015 stand die Sechzehnjährige leichenblass und verschreckt in Wien vor Gericht, alles bis auf ihr Gesicht ist verschleiert.

Die Anklage gegen sie lautete: „Unterstützung einer Terrorvereinigung“, von diesem Verdacht wird sie freigesprochen. Zu offensichtlich ist, dass sie nicht kämpfen, sondern einen Sinn suchen wollte. Im Sommer 2014 war die nach einer abgebrochenen Lehre arbeitslose Wienerin zum Islam konvertiert und geriet in den Sog radikaler Kreise. Im Winter 2014 wollte sie in den „Islamischen Staat“ ziehen. Es scheint, als hätte sie ihrer Chancenlosigkeit den Ganzkörperschleier „Niqab“ umgeworfen, ihr so einen Namen, einen Grund gegeben.

DIE TERRORAKADEMIE „ISLAMISCHER STAAT“

„Eilt herbei! Muslime auf der ganzen Welt, kommt schnell in euren Staat!“ Am 4. Juli 2014 trat der selbst ernannte „Kalif Ibrahim“ mit diesen Worten zum ersten Mal öffentlich auf. Seine damalige Freitagspredigt in der wichtigsten Moschee der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul war eine Überraschung. Keine einzige Filmaufnahme war bis zu dem Zeitpunkt von ihm überliefert, einzig ein grobkörniger Screenshot aus einem Video kursierte. „Kalif Ibrahim“ war einst ein muslimischer Kleriker, der als Ibrahim Awad Ibrahim al-Badari 1971 in der irakischen Stadt Samarra auf die Welt kam. Unter dem Kampfnamen „Abu Bakr al-Baghdadi“ schloss er sich nach 2003 dem Terrorkrieg gegen die US-Besatzung an, ab 2010 war er Führer des „Islamischen Staates im Irak“ und so auch Boss des daraus entstandenen „Islamischen Staates“ sowie des Kalifats, das am 29. Juni 2014 ausgerufen worden war.

Ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar hatte die US-Regierung zu diesem Zeitpunkt bereits auf ihn ausgesetzt und al-Baghdadi zu einem der meistgesuchten Terroristen im Nahen Osten erklärt. Dies hatte aber auch einen kontraproduktiven Effekt: Der amtlich zum Erzfeind der USA deklarierte Iraker vermittelte mit Gestik, Outfit und Wortwahl eine klare, trotzige Botschaft.18 Seine Legitimität, als „Kalif Ibrahim“ Führer der sunnitischen Muslime zu sein, leitete er vorrangig daraus ab, aber auch von Rechtsquellen des Islam, die von führenden Klerikern allerdings völlig anders interpretiert werden. So betont Abdulfattah al-Owari, einer der führenden Experten der ägyptischen Universität Al-Azhar: „Sicher ist, dass ein Kalifat niemals durch die gewaltsame Okkupation von Land errichtet werden kann. Die Welt hat sich seit den Zeiten des Propheten Mohammed verändert, und heute gibt es Staaten mit klaren Grenzen, die zu respektieren sind.“ „Nichts im Islam würde einen solchen Herrschaftsanspruch rechtfertigen“, betont ein weiterer führender Islam-Gelehrter der al-Azhar-Universität, Ibrahim al-Hudud: „Dies gilt auch für Selbstmordanschläge, die das Leben von Unschuldigen fordern. Sie stehen im krassen Gegensatz zum islamischen Recht, der Scharia.“19

Im Universum des IS zählen solche Bedenken wenig. Die Schlagkraft des Kalifats erklärt sich vor allem daraus, dass Selbstmordattentäter als Teil eines eiskalten Kalküls im Angriffskrieg eingesetzt werden. Der „Blitzkrieg“ des Jahres 2014 war nur möglich, weil Dutzende Selbstmordattentäter die Reihen der Gegner sprengten. All dies vermittelte einen Mythos der Stärke, der noch mehr ausländische Kämpfer anzog, die darum wetteiferten, zu Märtyrern zu werden. Sprunghaft stiegen die Ausreisen ab diesem Moment an. Mindestens 20.000 Ausländer aus hundert Staaten der Welt kämpften Mitte 2015 bereits in den Reihen des IS. Da nach Beginn der Militärschläge der internationalen Anti-IS-Koalition pro Monat tausend neue Kämpfer kamen,20 blieb die Armee des Kalifats intakt, auch wenn bei Luftschlägen der internationalen Anti-IS-Allianz bis Juni 2015 laut Angaben des US-Verteidigungsministeriums mehr als 10.000 ihrer Kämpfer getötet wurden.21

Neben der Zahl von 20.000 ausländischen Kämpfern, die Sicherheitskreise in Europa und den USA nennen, kursieren aber auch andere, wesentlich höhere Schätzungen. So meint Abdel Rahman vom „Syrischen Beobachtungszentrum für Menschenrechte“, dass allein in Syrien 50.000 Ausländer aufseiten des IS kämpfen würden; das russische Militär wollte Anfang 2015 gar von 70.000 wissen. Bereits Im Juli 2014 warnte der irakische Terrorexperte Hisham al-Hashimi vor „bis zu 100.000 ausländischen Dschihadisten“. In dieser Zahl sind bewaffnete Einheiten inkludiert, die nicht im eigentlichen militärischen Konflikt eingesetzt werden: Polizeieinheiten, Leibwächter, lokale Milizen in besetzten Städten sowie Paramilitärs, die zu den verschiedenen Sicherheitskräften des IS gehören.22 Wie viele es wirklich sind, weiß niemand mit Sicherheit, denn es gibt keine Chance, unabhängig im IS zu recherchieren. Dazu kommt: Meist beziehen sich die Zahlen über ausländische Dschihadisten, die in Syrien und dem Irak aktiv sind, auf alle Extremistengruppen, die in den Konflikt involviert sind. Nur drei Viertel davon – so meine Schätzung, die auf zahlreichen Analysen basiert – kämpfen tatsächlich für den IS. Andere sind für andere Dschihadistengruppen aktiv, die auch gegen den IS Krieg führen.

So muss man sich dessen bewusst sein, dass wir auch über die wahren Zahlen aus den einzelnen Staaten nur Schätzungen der jeweiligen Sicherheitsbehörden kennen. Die meisten Ausländer im Sold des IS – circa 3000 – stammen aus Tunesien, gefolgt von Saudis, die mit 2500 Kämpfern das zweitgrößte Kontingent stellen. Militärisch eine wichtige Rolle spielen Tschetschenen und andere Milizen aus dem Kaukasus, die auch Kampferfahrung mitbringen. Die größte Gruppe der circa 7000 europäischen Dschihadisten stammt aus Frankreich, von wo ab 2011 mindestens 1400 Kämpfer nach Syrien und in den Irak zogen. Drei Viertel sind erst ab 2014 ausgereist. Aus Deutschland und Großbritannien dürften bis Juni 2015 jeweils 700 Kämpfer kommen. In Relation zur Zahl der Einwohner rangiert Österreich mit seinen 220 Dschihadisten weit oben in der Liste der Rekrutierungsländer. Sehr viele Freiwillige stammen aus den Balkanländern, besonders aus dem Kosovo. Von hier kommen in etwa so viele Dschihadisten wie aus Belgien, das mit circa 400 Kämpfern den höchsten Pro-Kopf-Anteil der europäischen Staaten hat.

Wie hoch die Diskrepanz zwischen diesen offiziellen Zahlen und der Realität sein dürfte, zeigen Recherchen des Historikers Pieter Van Ostaeyen, der die offiziellen Angaben aus seinem Heimatland Belgien penibel überprüfte. Er fand heraus, dass um ein Fünftel mehr ausgereist war, als von der Regierung angegeben.23 Im Frühling 2014 wandten sich sogar Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes an die Presse: „Die offiziellen Zahlen scheinen uns zu niedrig“, so die Einschätzung: „Das liegt daran, dass wir das Problem zu spät erkannten und so viele Ausreisen nicht registrierten. Alleine wenn man bedenkt, dass noch immer in etwa fünf Personen pro Woche nach Syrien und in den Irak reisen, dürfte es sich insgesamt um höhere Dimensionen handeln.“24

Trotz der massiven Verschärfung von Gesetzen und Kontrollen mit Beginn 2014 schafften es zahlreiche Dschihadisten nicht nur in Großbritannien auch im Jahr eins des Kalifats auszureisen und werden dies auch in Zukunft tun. Bis zu 10.000 Kämpfer aus Europa könnten bis Ende 2015 in Syrien und im Irak sein, so die Prognose von Frankreichs Premierminister Manuel Valls.25 Ähnlich schätzen auch Behörden in Österreich und Deutschland die Entwicklung ein: Laut dem deutschen Bundeskriminalamt etwa dürfte sich die Zahl der ausgereisten Dschihadisten bis Ende 2015 fast verdoppeln, also auf tausend steigen.26

Etwa ein Zehntel ist bereits wieder zurück in ihre Heimat gereist. Dies lässt die Alarmglocken schrillen. „Wir haben noch nie eine dermaßen große Terrorbedrohung erlebt“, sagt Brett McGurk, Sondergesandter von US-Präsident Barack Obama für die „Anti-IS-Koalition“.27 Von einer regelrechten Ausbildungsstelle für den globalen Dschihad ist in einem Bericht der Vereinten Nationen im April 2014 die Rede: „So wie in den 1990er-Jahren Afghanistan verwandeln sich Syrien und der Irak in eine Kaderschmiede von Extremisten.“ Die Experten fassten dafür weltweite Informationen über freiwillige Kämpfer bei islamistischen Terrorgruppen zusammen. Die Zahl der Mitglieder von Terrororganisationen ist demnach zwischen 2014 und 2015 um 71 Prozent gestiegen. „Noch nie in der Geschichte gab es eine dermaßen hohe Aktivität von Dschihadisten“, heißt es in dem Bericht. Die warnende Ergänzung: „Eine mögliche militärische Niederlage des IS könnte dazu führen, dass hoch motivierte Kämpfer in ihre Heimatländer zurückkommen und für große Sicherheitsprobleme sorgen würden: „Manche der Rückkehrer werden traumatisiert sein und im Schock, andere von kriminellen Netzwerken rekrutiert werden“, heißt es in dem Bericht.

Dieses Problem stellt sich allerdings nicht erst in der Zukunft, nach einem möglichen Zusammenbruch des IS. Die Bedrohung des Terrorexports ist bereits in der Gegenwart angekommen: Am 24. Mai 2014 wurden vier Besucher des jüdischen Museums in Brüssel ermordet. Der Attentäter: Mehdi Nemmouche. Es war jener junge Franzose, den der Journalist Nicolas Hénin nur wenige Wochen zuvor noch als sadistischen Folterknecht des IS erlebt hatte. In Nemmouches Wohnung fand die Polizei eine Kalaschnikow und ein Jagdgewehr, eingehüllt in die schwarze Fahne des IS. Während des Attentats trug er eine Kamera bei sich, auf der ein vierzig Sekunden langes Video aufgezeichnet worden war, in dem er die Verantwortung für die Morde auf sich nahm und betonte, wie sehr er es bereue, dass es ihm nicht gelungen wäre, das Massaker selbst aufzuzeichnen, um dieses Material für Propagandazwecke zu gebrauchen.28

Am 7. Jänner 2015 wurde in Paris die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo angegriffen, dann ein jüdischer Supermarkt. Siebzehn Menschen starben. Zwei der Attentäter, die Brüder Chérif und Said Kouachi, waren in Trainingslagern der al-Kaida gewesen und gaben an, im Auftrag des al-Kaida-Ablegers im Jemen die Anschläge verübt zu haben. Ihr Komplize Amedy Coulibaly bekannte sich zum IS: via eines Telefonats mit Journalisten während des Attentats.

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