Kitabı oku: «Die Dschihad Generation», sayfa 4

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DAS BEUTESCHEMA DER „CATCHER“

Nur wo und wie genau passiert diese Erstinfektion mit extremistischem Gedankengut? Wie kommt jemand wie der junge Wiener Oliver überhaupt auf die Idee, Dschihadist zu werden? Hier könnte ein Detail aus seiner Biografie zu einem entscheidenden Mosaikstück werden: Oliver hatte neben seiner Tätigkeit als Lehrling einen Nebenjob in einem Fitnesscenter angenommen. Exakt dieser Aspekt zählte zu den überraschendsten Ergebnissen während der Recherche für dieses Buch: In Österreich kamen IS-Fanboys kurz vor Beginn ihrer Begeisterung für den IS oft mit von jungen Migranten besuchten Sportclubs in Kontakt.

Dies zieht sich wie ein roter Faden durch viele Anwerbungsstorys in mehreren Ländern Europas. In Winterthur in der Schweiz zum Beispiel: Sandro war so wie Oliver sechzehn, als er Ende 2014 nach Syrien in den Dschihad zog,40 auch er war kurz zuvor zum Islam konvertiert. Unter seinem neuen Namen „Abu Malik“ posierte der Teenager auf abscheulichen Fotos im Netz. Er war offenbar bei Enthauptungen dabei und hielt den Kopf eines Opfers in die Kamera. Neben ihm lag der Torso eines Mannes. Er war mit Klebeband und Kabelbindern an einem kreuzartigen Holzgestell befestigt. Szenen wie diese beweisen, wie unfassbar schnell die Metamorphose vom harmlosen Teenager zum kaltblütigen Terroristen gehen kann.

Die Reise ins Kalifat unternahm Sandro mit zwei Freunden und einer jungen Frau; alle stammten aus der gleichen Stadt. Wie sich die Radikalisierung des jungen Schweizers vollzogen hat, war Fahndern und Familie über Monate ein Rätsel. Fast ein halbes Jahr später jedoch tauchte ein Anhaltspunkt auf. Sandro und seine drei männlichen Reisegefährten übten alle denselben Sport aus: Sie trainierten „Mixed Martial Arts“ in einem Club, den der Thaibox-Weltmeister Valdet Gashi betrieb. Auch vom 29-jährigen Gashi fehlte seit Jänner 2015 jede Spur. Der zweifache Familienvater wurde in Thailand vermutet, doch mit Mai 2015 war das Geheimnis gelüftet: Er hatte sich bereits im Juli 2014 dem IS angeschlossen. Ab diesem Zeitpunkt arbeitete er als „Catcher“, sein Coming-out erfolgte über Facebook, da lebte er schon in der IS-Hauptstadt Raqqa: „Es ist schöner, den Märtyrertod zu suchen als seine neugeborene Tochter aufwachsen zu sehen“, schrieb er. Er fand diesen Tod am 4. 7. 2015, wahrscheinlich bei einem Luftangriff auf die syrische Stadt.

Zwischen den drei jungen Männern aus Winterthur gab es neben ihrem zum IS abgedrifteten Trainer eine weitere Verbindung: Sie beteten in der ultrakonservativen „An’Nur“-Moschee. Atef Shanoun, Präsident des Moscheevereins, will aber nichts davon wissen, dass er und der Verein die Radikalisierung beeinflusst hätten, sondern spricht von „unsichtbaren Leuten“, die junge Menschen in „schwarzen Momenten“ rekrutierten.

So zeigt dieses Beispiel, wie groß die Lücke zwischen Radikalisierungstheorien und dem Wissen über die Praxis noch ist: welche Rolle einschlägige Moscheen spielen, wo eine radikale Form des Islams gepredigt wird und welche Rolle Figuren spielen, die scheinbar so gar nicht in den Kontext der religiösen Fanatiker passen, wie eben ein Kickbox-Weltmeister.

Die europäischen Sicherheitsbehörden sind ebenso weit davon entfernt, mit konkreten Profilen gefährdeter Personen operieren zu können, und diese Unsicherheit betrifft nicht bloß jene, die drohen, ins Netz des IS zu geraten. Ebenso schwierig ist es, vorherzusehen, wer aus dem Kreis der Sympathisanten sich dazu entschließt, im Land zu bleiben, vor Ort zu rekrutieren oder gar Anschläge vorzubereiten, und wer ausreist. In Großbritannien etwa gab es laut dem Inlandsgeheimdienst MI5 mit Stand 2015 ungefähr 3000 möglicherweise verdächtige Personen, die man mit 5000 Mitarbeitern zu überwachen versucht. „Das Schwierige dabei ist aber nicht nur die Größenordnung“, so ein MI5-Mitarbeiter: „Das Phänomen IS lässt sich mit der physikalischen Theorie der Brown’schen Bewegung vergleichen: Dabei wird die unregelmäßige und ruckartige Bewegung von Teilchen in Flüssigkeiten und Gasen beschrieben. Es gibt dafür kein Muster. Und genauso wenig sind die Interaktionen der Mitglieder des IS-Netzwerkes voraussagbar: Manche sind verbunden, manche nicht, manche bewegen sich gänzlich anders als erwartet.“41

Dazu kommt: Die Struktur des IS-Netzwerks wandelt sich von Monat zu Monat, von Land zu Land. In Europa ist Letzteres besonders ausgeprägt, deshalb wird sich dieses Buch in einem eigenen Abschnitt den jeweiligen Strukturen in diesen Staaten widmen. So spielte in Belgien, einem zentralen Rekrutierungsland, die Extremistengruppe „Sharia4Belgium“ eine wesentliche Rolle; in Österreich wiederum wurden potenzielle IS-Fans nicht bloß im Umfeld einiger berüchtigter Moscheen rekrutiert, sondern auch in nahegelegenen Parks, beziehungsweise wurde eine ethnische Radikalisierung außerhalb der klassischen Muster in der hier besonders großen Gruppe der Tschetschenen beobachtet. In Norwegen wurden die Behörden stutzig, als ausgerechnet in Lisleby, einem Stadtteil von Fredrikstad, eine signifikant hohe Zahl an Dschihadisten ausreiste. Hier fand man heraus, dass ein junger Fußballstar namens Abdullah Chaib sich dem IS angeschlossen hatte und seine Mannschaftskameraden „infizierte“.

Dies verdeutlicht ein weiteres Problem: Aus Angeworbenen werden rasch Anwerber. Durch diesen Schneeballeffekt potenziert der IS derzeit seine Anhängerschar binnen kurzer Zeit. Wie dies im Detail funktioniert, konnte das deutsche „Gemeinsame Terrorabwehrzentrum der Bundesregierung“ – ein Gremium, in dem sich Polizei und Geheimdienste über Terrorismusfälle austauschen – im Sommer 2015 aufzeigen:42 Es wurden die Aktivitäten ausgereister Dschihadistinnen untersucht. Dabei zeigte sich, dass diese von Syrien aus alte Freundschaften aktivieren und dazu in sozialen Netzwerken gezielt nach jungen Mädchen suchen. Eine einzelne Anwerberin hält laut dieser Analyse oft Kontakt mit bis zu zwanzig Mädchen. Sie verherrlicht in privaten Nachrichten das Leben im IS, sucht nach Schwachstellen bei ihren potenziellen Opfern und versucht, sie für ein Leben in Syrien zu ködern. Beunruhigend dabei ist: Rekrutierte Frauen und Mädchen sind oft noch jünger als die männlichen Ausreisenden.

EINE VERLORENE JUGEND?

Zwar sind nicht alle, die in den „Heiligen Krieg“ ziehen, Jugendliche, aber diese stellen den Löwenanteil. Etwa zwei Drittel der knapp 780 deutschen Dschihadisten waren nicht einmal achtzehn, als sie ausreisten, österreichische „Kämpfer“ sind im Schnitt ein wenig älter, doch wie überall in Europa sind gerade die weiblichen Fans der Bewegung sehr jung. Dies sind Daten, die sich mit jenen der SOUFAN-Gruppe decken, die regelmäßig präzise Analysen zu den Ausländern im IS vorlegt. Demnach sind die meisten zwischen achtzehn und 29 Jahre alt, es gäbe aber zahlreiche Fälle von Fünfzehn- bis Siebzehnjährigen, so die SOUFAN-Analyse. Manchmal muss man von regelrechten Kindersoldaten sprechen, die gezielt für Selbstmordaktionen angeworben werden. Im Vergleich dazu waren die freiwilligen Gotteskrieger, die in den 1980er-Jahren nach Afghanistan zogen, oder jene, die im Bosnienkrieg kämpften, im Schnitt um fast ein Jahrzehnt älter.43

Das Phänomen von Terrorsöldnern ist keine Erfindung des IS. Nur gibt es hier zahlreiche neue Aspekte: ihre Jugend, ebenso der hohe Anteil von Frauen, von Konvertiten, die große Gruppe von Sympathisanten, die dem Pop-Dschihadismus-Kult in ihren Heimatländern verfällt, sowie die große Bandbreite ihres Backgrounds. Die Kämpfer des IS waren in ihren früheren Leben vieles: Boxer, Pizzaboten, Verkäuferinnen, IT-Experten, Buddhisten, Muslime, Gelegenheitsdiebe, Ärzte oder Schülerinnen – aber nur in den seltensten Fälle schon lange zuvor gläubige Muslime. „Freunde oder Familienmitglieder können sich selten einen Reim darauf machen, warum jemand plötzlich Dschihadist wird“, sagt Hassan Hassan, der weltweit zu den renommiertesten Experten in dem Metier zählt. Für sein 2015 erschienenes Buch „ISIS. Inside the Army of Terror“ hat er mit Koautor Michael Weiss zahlreiche Biografien von Dschihadisten durchleuchtet. Dabei stieß er trotz der Vielfältigkeit auf gewisse Muster: „Der Großteil war vor der Radikalisierung besonders zurückgezogen, nahezu passiv. Und da war noch etwas, das auffällt: ein überwältigendes Gefühl, eingesperrt zu sein.“ Hassan verweist dazu auf ein Zitat aus einer E-Mail, die Mohammed Emwazi vor seiner Ausreise schrieb: „Ich habe das Gefühl, ein Häftling zu sein. Mein Gefängnis ist keine Zelle, sondern London.“44 So die Worte jenes IS-Henkers, der später als „Jihadi-John“ europäische Journalisten sadistisch tötete.

Emwazis Eltern stammen aus Kuwait. In Großbritannien konnten sie sich eine Existenz aufbauen, wie viele der Einwandererfamilien, deren in Europa geborene Kinder und Enkel später in den IS zogen. Der deutsche Islamwissenschaftler Marwan Abu Taam meint deshalb, dass es trotz jeweils unterschiedlicher Gründe für die Radikalisierung doch einen signifikanten Trend gebe: „Bei den Ausreisenden handelt es sich oft um Jugendliche mit Identitätsproblemen auf der Suche nach starken Gruppenerlebnissen und Lebenssinn. Sie wollen eine Rolle in der Gesellschaft haben, die ihnen oft – so ihre eigene Wahrnehmung – verwehrt wird. Von ihren Eltern bekommen sie den Vorwurf zu hören ‚wie die Deutschen zu sein‘, von der Gesellschaft werden sie als ‚Muslime‘ problematisiert.“ Eine große Bedeutung habe laut seiner Erfahrung ihre Politisierung: „Viele leben in medialer Verbindung zu ihren Herkunftsländern. Sie solidarisieren sich mit den dortigen Sorgen und definieren ihre Konflikte durch die Religion entlang einer ethnisch-religiösen Trennlinie. Diese Konflikte werden mit ihren eigenen in der Diaspora kombiniert und gedeutet.“45

Meine Gespräche mit muslimischen Jugendlichen für dieses Buch, besonders mit jenen, die offensichtlich an der Kippe zur Radikalisierung standen, bestätigen Abu Taams Befund. Wie ein Mantra wird dabei von einem schon lange dauernden Krieg gegen Muslime gesprochen, der Konflikt in Syrien sei eine neue Etappe, viele hat auch der Konflikt im Gazastreifen vom Sommer 2014 massiv beschäftigt. Indem sie sich mit solchen Fragen identifizieren, bekommt mitunter ihr Scheitern, die Benachteiligung, die sie erfahren, einen Kontext, der Sinn stiftet. Was den IS-Kult für junge Frauen und Männer gleichermaßen verlockend macht, lässt sich dann mitunter erschreckend einfach skizzieren: etwa durch diese kurze Passage aus einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom Juni 2015. „In Dscharabulus, einem kleinen Ort in Syrien, ist Riza nicht mehr der junge, unbedeutende Mann aus dem Problemviertel in Frankfurt, der wegen Drogen und Körperverletzung im Knast saß. In Dscharabulus trägt er Uniform, hat eine Wohnung, eine Waffe und Elif, seine blutjunge Frau. Sogar seine alten Freunde hat er um sich, die er seit Kindertagen vom Bolzplatz im Gallusviertel kennt. Die sind auch nach Syrien ausgewandert.“46

Es ist einer von mittlerweile Tausenden Texten, darunter brillante Analysen, Reportagen, Bücher und Studien zum Thema. Sie alle sind faszinierend zu lesen, einleuchtend geschrieben und vermögen doch nicht im Geringsten das Weltbild jener Dschihadisten ins Wanken zu bringen, die sich in die Gegenwelt des IS flüchten. Denn an einem Punkt scheitern bisher alle – ein Gegenmittel aufzuzeigen: Berater, Antiterrorkämpfer, besorgte Eltern, Lehrer. Der IS zieht seine Fangemeinschaft in einen Bann, der sie förmlich hypnotisiert.

„Sie sind wie Sirenen. Sie singen in dein Ohr, tagein, tagaus. Ich konnte nicht anders und hörte zu und irgendwann hatten sie mich“, so schildert Ahmad Walid Rashidi, ein junger Däne, wie er um Haaresbreite in den Sog des IS geraten wäre.47 Dabei glaubte er, immun dagegen zu sein. Der 23-jährige Medizinstudent sagt, er hasse seit seiner Kindheit nichts so sehr wie Extremisten: Mit fünf hatte er in Afghanistans Hauptstadt Kabul bei einem Bombenanschlag der Taliban ein Bein verloren. Mit zehn fand er als Flüchtling Zuflucht in Dänemark und war unendlich froh darüber.

In Berührung mit dem IS kam er auf ungewöhnliche Weise: Bekannte baten ihn, nach deren Töchtern zu suchen, die nach Syrien ausgereist waren, und sie zurückzuholen. Er war naiv genug, dies für machbar zu halten, fuhr dorthin, wurde jedoch binnen weniger Stunden als „Spion“ von der Terrormiliz gefangen genommen. „Nach und nach“, erzählt er, hätte sein Aufseher zu ihm Vertrauen gefasst. „Deshalb brachte er mich zu einem der Kommandanten, einen 28-Jährigen, der aus Großbritannien gekommen war. Wir fanden sofort einen Draht zueinander. Wie Schulkollegen, wir scherzten, lachten, quatschten. Wir waren zwei Testosteronbomben.“ Alte Wunden wären in den Gesprächen zutage getreten, sagt Ahmad. „In der Schule habe ich einmal versucht, die Anzahl der Opfer vom Anschlag des 11. September 2001 mit denen im Krieg in Afghanistan zu vergleichen. Und mein Lehrer sagte, diese Menschen zählen nicht.“ Plötzlich entwickelte die unterdrückte Wut in dem jungen Mann ein Eigenleben, wurde Treibstoff seiner Faszination für die Bewegung; einem Gefühl, dem er nur schwer entkommen konnte. Doch es gelang. Er ist zurück in Dänemark und verurteilt den IS und seine Kämpfer mit der gleichen Inbrunst, mit der er einst gegen die Taliban wetterte. „Meine Erfahrungen zeigten mir allerdings sehr deutlich auf, wie es den Dschihadisten gelingt, die richtigen Töne anzuschlagen, bei jungen Muslimen, die sich und ihre Welt als diskriminiert erleben.“

Weshalb die Ideologie auch bei Nichtmuslimen so rasch auf Anklang stößt, ist ein weiteres Rätsel, das zeigt, wie wenig wir vom System IS eigentlich wissen. „Jetzt reden alle von Deradikalisierung, aber wir wissen nicht einmal wirklich, wie die Radikalisierung vonstatten geht“, so Gilles Kepel, Frankreichs renommiertester Islamwissenschaftler. Es ist eine gewichtige Stimme, die sich mahnend zu Wort meldet. Seit Jahrzehnten forscht er über den Islam im Westen, gilt als Koryphäe in dem Metier: „Von Frankreichs Dschihadisten, die in den Krieg auf die syrischen und irakischen Schlachtfelder zogen, sind etwa 25 Prozent Konvertiten und 30 Prozent Frauen. Dieser Bewegung gehören also nicht nur kleine maghrebinische Drogendealer, sondern auch Leute aus der Mittelschicht und sogar konvertierte Juden an.“48 Etwa der 23-jährige Raphael Amar, der im Sommer 2014 aus dem südfranzösischen Lunel nach Syrien aufbrach, wo er wenige Monate später ums Leben kam.

PSYCHOLOGEN AN DIE ANTITERRORFRONT!

Wie viele Experten betont auch Kepel, dass massive Integrationsprobleme muslimscher Jugendlicher eine Hauptrolle spielen. Aber nicht nur das: Die in den gettoisierten Vorstädten herrschende Arbeitslosigkeit, die Armut, die geringen Bildungs- und Aufstiegschancen seien maßgeblich, doch seien familienpsychologische Faktoren ebenso wichtig: „Wenn ich Angehörige der in den Dschihad gezogenen Jugendlichen treffe, habe ich es fast ausschließlich mit Müttern zu tun, weil die Väter die Familien längst verlassen haben.“

Die britische Dokumentarfilmerin Deeyah Khan beobachtete bei den Dschihadisten, die sie interviewte, ein ähnliches Muster: „In neun von zehn Fällen entdeckte ich in der Biografie von IS-Anhängern, dass Väter – ihre Abwesenheit oder ihre Ignoranz – eine massive Rolle spielen.“49 Hassprediger und Terrorrekrutierer, mit denen übers Internet Freundschaft geschlossen wird, erlangen die Funktion von Ersatzeltern. So habe ihr ein Jugendlicher erzählt: „Ich war so berührt, endlich hat sich jemand um mich so richtig gekümmert, mich gefragt, ob ich eh gut nach Hause gekommen bin. Mein Dad hat das nie getan.“ Und Ex-Dschihadist Alyas Karmani sagt: „Wenn dir zum ersten Mal jemand den Arm um die Schultern legt und dich so annimmt, wie du bist, übt das eine fast magische Anziehungskraft aus.“

Als „kriminelles Hochhausmilieu“ bezeichnet Imam Husamuddin Meyer das Milieu, wenn er auf Biografien deutscher Dschihadisten zu sprechen kommt.50 Der Imam hat als Seelsorger in der Justizanstalt Wiesbaden spätere Dschihadisten betreut, die nach oder schon während Gefängnisaufenthalten plötzlich von Salafisten-Gruppen, Vertretern der ultrakonservativen Strömung des Islam, umgarnt wurden. Meyer teilt den Kreis der IS-Sympathisanten in „Manipulierte“ und „Manipulierer“ ein. Letztere seien oft sehr intelligent, innerlich gefestigt und gingen clever beim Umwerben der Zielgruppe vor. Zahlen belegen dies: Von 378 Dschihadisten aus Deutschland, die von den Radikalisierungsexperten genau durchleuchtet wurden, waren 249 als Kleinkriminelle aufgefallen; meist waren es Raubdelikte oder Körperverletzung.51

Sollten also neben Antiterrorexperten oder kundigen Imamen verstärkt Psychologen den Feldzug gegen den IS antreten? „Ja“, meint Brian Michael Jenkins. Der Experte der „RAND Corporation“ legte dem US-Senat ein Dokument vor, in dem er psychologische Forschung zu Terrorismus in Zusammenhang mit dem IS-Kult brachte: „Die religiöse Überzeugung spielt bei den Motiven junger Menschen, die sich dem Islamischen Staat anschließen, eine wesentliche Rolle“, so Jenkins. „Wer dies abstreitet, verleugnet eine wesentliche Ursache. Viele Fanatiker, die es nach Syrien und in den Irak zieht, wissen auffällig wenig über ihren Glauben.“52 Es geht also um mehr. Jenkins meint weiter, dass die gewaltbereite Auslegung der Religion auch als Legitimierung von aggressiven Tendenzen benutzt werde, die schon zuvor vorhanden waren. „Die Identität der Person vermengt sich dabei mit der Akzeptanz von brutaler Gewalt im IS.“ Ebenso würden jene Erfahrungen eine wichtige Rolle spielen, die eine neue Generation von Muslimen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 im Westen gemacht hätte: Sie fühlten sich plötzlich als Fremdkörper, unter Generalverdacht. „Der IS gibt ihnen die Chance, sich auf einmal angenommen, wichtig genommen zu erleben. Als Teil einer epischen Schlacht.“

Ähnliche Thesen vertritt der Sozialpsychologe Arie W. Kruglanski von der University of Maryland: „Am Ende des Tages müssen wir zugeben, dass der einzigartige, Blitzkrieg‘ des IS im Jahr 2014 Teil einer psychologischen Kriegsführung war, der wir etwas entgegenhalten müssen. Die Brutalität, die Entschlossenheit und Dominanz vermitteln einen gewaltigen Machtanspruch.“53 Der Kampf um die Herzen und Seelen der verklärten IS-Enthusiasten, die Kopf und Kragen riskieren, um dabei zu sein, könne nicht nur mit Gewalt und einer rationalen Vermittlung des „richtigen“ Islam gewonnen werden, resümiert Kruglanski: „Der IS rekrutiert nicht so effizient, weil die religiösen Argumente so überzeugend sind, es ist die psychologische Ebene, die seinen Bann ausmacht.“ Der Appeal, so Kruglanski, würde darauf basieren, dass zwei fundamentale menschliche Bedürfnisse gestillt werden: Jenes nach einem Gefühl der Klarheit in einer verwirrenden Welt; dem Gefühl zu wissen, was die Zukunft bringt. „Darüber hinaus lockt die IS seine Gefolgschaft mit einem unvergleichlichen Preis. Indem sie sich dem Kampf gegen die Ungläubigen anschließen, können sie einen Heldenstatus erreichen, eine Bedeutung, die über ihre Existenz hinausgeht. Sie können Geschichte schreiben.“

Um den Zusammenhalt in der Gruppe zu sichern, baut der IS sein Inneres wie eine Sekte auf. Dazu gehört die Zugehörigkeit zu einer selbst ernannten „Elite“, unter der Führung eines „Guru-Kalifen“, gepaart mit Härte und Gewalt gegenüber all denjenigen, die nicht den Vorschriften der Gruppe folgen. Dazu werden Mythen aufgebaut, die selbst Gewaltorgien als korrekten Glaubensakt interpretieren. Und es wird mit den Zitaten der Alltagskultur Jugendlicher gespielt, wie das „Französische Zentrum für die Prävention gegen Sektenauswüchse im Zusammenhang mit dem Islam“ (CPDSI) festgestellt hat. So werden etwa die Kultfilme „Matrix“ oder der Trilogie „Herr der Ringe“ als gezielte Propagandainstrumente genutzt. Die Gründerin dieses Zentrums, Dounia Bouzar, analysierte den Werdegang von rund 160 Personen, deren Familien sich hilfesuchend an ihr Zentrum gewandt hatten.54 Ihr Fazit: „Die Islamisten haben ihre Rekrutierungsmethoden so verfeinert, dass sie jeweils passend für die Zielperson eine individuelle Strategie anwenden.“ So gäbe es mehrere Modelle, die bei der Indoktrination zur Anwendung kämen: zum Beispiel den „heldenhaften Ritter“ für jene mit Geltungsdrang oder den „Wasserträger“ für junge Männer, die nach einem Anführer suchen.

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