Kitabı oku: «Zenjanisches Feuer», sayfa 2

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Ein erneuter Zitteranfall bahnte sich bebend seinen Weg durch Geryims Körper. Ihm dämmerte, dass Sothorn dazu übergegangen war, ihm mit warmem Wasser das Blut abzuwaschen. Es war nicht die Art Zuwendung, die Geryim wollte.

»Lass es gut sein«, murmelte er mit schwerer Zunge. »Ich kümmere mich morgen um den Rest.«

Sothorn verharrte in der Bewegung. Der feuchte Stoff lag mittig auf Geryims Bauch. »Wie du willst.« Er zögerte. »Soll ich…?« Sein Nicken in Richtung Zelteingang war kaum zu erkennen und erfüllte Geryim augenblicklich mit Widerwillen.

»Nein«, sagte er so hastig, dass es Sothorn ein Grinsen entlockte. »Nein«, wiederholte er dann noch einmal.

Ihm lagen mehr Worte auf der Zunge. Manche wollten sich zu Dank zusammensetzen, andere zu Versprechen, die er wahrscheinlich nicht halten würde, oder gefährlichen Geständnissen. Deshalb schwieg er.

Er konnte jedoch nicht verhindern, dass er Sothorns Unterarm berührte. Oder dass seine Finger dessen Handgelenk umfassten und ihn nach vorn zogen.

Sothorn sank willig neben ihm auf die Decken und schlug sie so schnell über ihnen zusammen, als hätte er seit Betreten des Zelts darauf gewartet.

»Komm her«, flüsterte er in das Halbdunkel, bevor er Arme und Beine um Geryim schlang. Wann immer er seine Kleidung abgestreift hatte, es war ein Segen, sich an seine bloße Haut zu drängen und seine Wärme zu teilen.

Geryim hörte sich selbst aufatmen und legte das Kinn auf Sothorns Schulter. Morgen würde sich zeigen, zu was er heute Nacht herangewachsen war. Bis dahin wollte er die Ruhe genießen, die sich über ihm ausbreitete. Sie besuchte ihn selten genug und meistens blieb sie nicht halb so lange, wie er es sich wünschte.

»Geryim?« Die Frage war nicht nur zu hören, sondern auch zu spüren, als Sothorns Atem über seine Haut hinwegstrich.

»Ja?«

»Das war das einzige Ritual, richtig? Ich werde nicht noch einmal mit ansehen müssen, wie du dich nackt und nur mit einem Dolch bewaffnet in irgendeinen Wald schlägst?«

Sothorns Frage bewies, dass selbst Meuchelmörder wie sie, die jahrelang nicht mehr als lebende Waffen gewesen waren, Grenzen hatten. Auch sie konnten den Tod nur bis zu einem gewissen Punkt hofieren.

Geryim rieb kaum merklich die Wange an Sothorns, um sowohl ihn als auch sich selbst zu beruhigen. »Nein, das wirst du nie wieder mit ansehen müssen«, versprach er.

Es war keine Lüge – und dennoch nicht die ganze Wahrheit.

Kapitel 2

Im Schatten des Riesengebirges

Sothorn wurde rüde von den Geräuschen eines Menschen, der am Vorabend zu wild gefeiert hatte, aus dem Schlaf gerissen. Einmal zu sich gekommen, konnte er sich nicht lange gegen den Druck in seinem Unterleib wehren und verließ das Nest, das in der Nacht durch ihre unwillkürlichen Bewegungen entstanden war.

Er ging ungern. An Schlaf mangelte es ihm nicht, dafür aber an jenen friedlichen Stunden vor dem Aufstehen, in denen man sich der Anwesenheit eines anderen Menschen wohlig bewusst war. Aber was sollte er sich gegen das Drängen seines Körpers wehren, wenn er von nun an hoffentlich die meisten Tage mit einer fremden Hand auf seinem Bauch oder dem Gesicht in weichem Haar beginnen würde?

Mit einem unvertrauten, aber angenehmen Gefühl in der Brustgegend schlüpfte Sothorn in Stiefel und Hose und kroch aus dem Zelt. Auch wenn die Sonne bereits aufgegangen war, lag ihr stiller Lagerplatz im Schatten des Riesengebirges. Es würden Stunden vergehen, bevor das erste Licht die bewaldete Halbinsel erreichte, und vermutlich genauso lange, bis die letzten Mitglieder der Bruderschaft wieder fest auf den Beinen standen.

Sothorn ging hinunter an den Felsstrand, um sich im Schutz der Böschung zu erleichtern. Er musste jedoch feststellen, dass sein angepeilter Platz bereits besetzt war: Der kleine Till kauerte auf den Knien und erbrach sich unter grausigen Lauten. Seine Mutter Nouna stand neben ihm, wippte fast unmerklich mit dem Fuß und hielt ihre hochgewachsene Gestalt auf eine Weise, die selbst Sothorn inzwischen mit drohendem Ärger verband; von ihren Kindern ganz zu schweigen.

Als sie ihn bemerkte, zog sie einen Mundwinkel hoch. »Ich hoffe, der Taugenichts hat dich nicht aufgeweckt. Es reicht mir schon, dass er all seine Geschwister hochgetrieben hat.«

»Wenn sich nicht noch jemand die Seele aus dem Leib speit, fürchte ich doch«, erwiderte Sothorn mit Blick auf den Jungen, der sich inzwischen aufgesetzt hatte und keuchte, als wäre er stundenlang gerannt. »Krank oder der Most?«

»Letzteres«, grollte Nouna. »Ich habe ihm gesagt, dass er es bleiben lassen soll. Aber natürlich musste er sich vor den anderen Kindern aufspielen und einen Krug stibitzen… Und nun stehe ich hier und darf mir die Schweinerei anschauen.«

Sothorn nickte mitfühlend, auch wenn sein Mitleid eher Till als Nouna galt. Nicht, dass er etwas gegen die fähige Jägerin und Herrin über ihre Gebirgspferde einzuwenden hatte, aber der Most, den die Bruderschaft in diesen Tagen trank, war nicht der angenehmste Begleiter, um einen ersten Rausch und dessen Folgen zu erleben. Es war ein widerwärtiges Gebräu, das sie im hintersten Laderaum aus verfaulten Äpfeln und Trauben angesetzt hatten, und verbrannte selbst erfahrenen Zechern den Magen.

Nachdem Sothorn ein Stück die Küste hinunter sein Wasser abgeschlagen hatte, trat er auf den steinigen Strand und sah hinüber zur Henkersbraut, die reglos auf dem Wasser lag. An Deck erkannte er eine einsame Gestalt, die an der Reling lehnte. Wahrscheinlich handelte es sich um Aily. Sie war die Einzige, die auch dann an Bord des Schiffs übernachtete, wenn sie an Land ein Lager aufschlugen. Die Henkersbraut war das einzige Zuhause, das sie brauchte.

Sothorn sah sie winken und hob den Arm, um den Gruß zu erwidern, als ihm auffiel, dass er nicht ihm gegolten hatte. Ein paar Hundert Schritte von ihm entfernt stand Theasa auf einer Landzunge. Sie trug ihren dicksten Mantel und hatte die Arme um den Körper geschlungen, als fröstele sie. Das tat sie in letzter Zeit häufig – unabhängig von der Witterung.

Sothorn dachte an Geryim unter ihren warmen Decken. An den Mann, der nahezu unverletzt zu ihm zurückgekehrt war und jetzt endlich ihm gehören durfte. Falls er das wollte.

Wieder stieg ein unergründliches Gefühl in Sothorn auf. Ihm fehlte nach wie vor die Fähigkeit, seinen Empfindungen Begriffe zuzuordnen, die auch andere verstanden hätten. Irgendwann würde er auch diesen Teil seiner Seele zurückgewinnen. Doch bis dahin fiel es ihm leichter, in Bildern zu denken.

Das Gefühl, das Geryim in ihm auslöste, hatte etwas von einem reißenden Fluss, der mit so atemberaubender Geschwindigkeit und Schönheit über einen Wasserfall donnerte, dass man beinahe vergaß, welche Gefahren von ihm ausgingen. Und während Sothorn wusste, dass ihm ein Sturz in einen solchen Fluss entweder die Knochen zerschmettert oder ihn ersäuft hätte, war er nicht ganz sicher, wie die Gefahr aussah, die von Geryim ausging.

Sothorn kniff sich in den Nasenrücken. Wenn er in den vergangenen Monaten eines gelernt hatte, dann, dass er seine Menschwerdung und die Neuentdeckung seines Ichs nach Jahren der Taubheit weder beschleunigen noch verlangsamen konnte. Das war genauso unmöglich, wie eine Blume anzutreiben zu blühen oder von einer Ziege zu verlangen, dass sie ihr Euter schneller füllte.

Letztendlich sorgte Theasas Anblick dafür, dass Sothorn sich gegen eine Rückkehr ins Zelt entschied. Es war nicht gut, sie so einsam aufs Meer blicken zu sehen. Man konnte ihre Verzweiflung beinahe in der salzigen Luft schmecken.

Langsam ging er ihr entgegen. Die glatt geschliffenen Steine unter seinen Füßen waren von feuchten Algen bedeckt und in einiger Entfernung waren die Knochen eines gewaltigen Meerestieres ans Ufer gespült worden. Sothorn hätte es gern gesehen, als es noch am Leben gewesen war.

Sobald er die Landzunge erreicht hatte, überwand er die Abbruchkante und stellte sich neben Theasa. Der Wind traf hier in einem anderen Winkel auf die Küste und peitschte ihm über das Gesicht. Wenn er nicht schon zuvor recht munter gewesen wäre, dann spätestens jetzt.

»Wird das zu einer neuen Unart von euch beiden?«, fragte Theasa heiser. Vor vielen Jahren hatte etwas in ihrem Hals Schaden genommen, als jemand versucht hatte, ihr die Kehle durchzuschneiden. Ihre Stimme hatte sich nie davon erholt. Dennoch hatte Sothorn den Eindruck, dass sie ihr in diesen Tagen häufiger brach als früher.

»Unart?«, wiederholte er.

Theasas Blick blieb auf das Meer gerichtet. »Trotz Eiseskälte ganz oder halb unbekleidet durch die Gegend zu laufen.«

Im ersten Augenblick wusste Sothorn nicht, worauf sie hinauswollte, doch dann wurde ihm bewusst, dass er zwar eine Hose und Stiefel trug, doch nichts darüber hinaus. Dennoch fror er nicht. Gut möglich, dass er sich immer noch an der Aufregung wärmte, die ihn in den vergangenen Tagen begleitet hatte. Genau genommen seitdem Geryim ihn gebeten hatte, während seines Mannbarkeitsrituals den Zeugen zu geben und zudem seinen gesamten Stamm zu ersetzen. Gwanja hatte es ihm ermöglicht, dieser Aufgabe gerecht zu werden.

»Ich habe nicht vor, es zur Gewohnheit werden zu lassen.«

Theasa stieß einen angewiderten Laut aus und zog ihren Umhang enger um sich. Eine Weile schien es, als hätte sie nichts mehr zu sagen, doch dann richtete sie erneut das Wort an ihn. »Und? Wie geht es ihm nun?«

Es war eine schlichte Frage, aber so bedeutungsvoll, dass Sothorn sich mit der Antwort Zeit ließ. »Er hat noch geschlafen, als ich aufgestanden bin«, begann er vorsichtig. »Und ich kann und will nicht für ihn sprechen…«

»Das würde dir auch nicht bekommen!«, unterbrach ihn Theasa und warf ihm erstmalig einen Seitenblick zu. Kurz lachten sie gemeinsam auf.

»Es hat ihm viel bedeutet«, sagte Sothorn schließlich. »Sowohl das Ritual selbst als auch die Tatsache, dass wir es ihm ermöglicht haben. Doch ich weiß nicht genug über diese Riten, um vorherzusagen, inwieweit sie…« Er geriet ins Stocken. Inwieweit sie ihn verändern werden, hatte er sagen wollen, aber das erschien ihm gefährlich. Nach einer solchen Bemerkung stünde die Frage im Raum, ob und wenn ja, welche Veränderungen er sich erhoffte. Dabei war er sich darüber selbst nicht im Klaren und nicht einmal sicher, ob er überhaupt ein Recht auf solcherlei Hoffnungen hatte.

Sicher, Geryim war launenhaft und sein Verhalten oftmals schwer nachzuvollziehen, aber wenn man ihm das nahm, wäre er dann überhaupt noch er selbst?

Theasa schien sich nicht mit Gewissensfragen herumzuschlagen. »Es wäre gut, wenn er etwas Frieden finden könnte. Und zwar nicht nur für ihn. Das Leben an Bord…« Sie zog die Nase hoch und spuckte ins Wasser. »Es sind nicht nur die Kinder und Pferde, die allmählich rastlos werden. Und ich kann nicht meine ganze Zeit damit verschwenden, Streitereien zu schlichten oder Wunden zu verbinden.«

Von letzteren gab es immer noch zu viele. Das Inferno in ihrer früheren Heimstatt klebte an ihnen wie der Rauch, der sich in ihren Haaren und wenigen verbliebenen Besitztürmern verfangen hatte. Sothorns Hände waren zu seiner Überraschung längst verheilt, auch wenn seine Haut nun ein paar neue fleckige Schattierungen trug. Varns Schulterverletzung hatte sich ebenfalls recht ordentlich verschlossen, auch wenn das Narbengewebe aufgeworfen war und er noch ab und zu Schmerzen litt. Um Shahims verbranntes Bein stand es weit schlimmer: Es hatte wochenlang geeitert und es war nicht abzusehen, ob er jemals wieder würde rennen oder schleichen können. Auf die übrige Bruderschaft verteilte sich eine Unzahl kleinerer Brandverletzungen und der eine oder andere Knöchel, der während der Flucht in ungünstigem Winkel umgeknickt war. Doch die wahren Wunden lagen unter ihrer Haut und würden Jahre oder auch ein ganzes Leben brauchen, um zu heilen.

Bis dahin hatten sie dringlichere Sorgen.

Vor seinem geistigen Auge sah Sothorn das einsame Fass vor sich, das in einer verschlossenen Kabine der Henkersbraut vor sich hinschaukelte. Am liebsten hätte er dreimal am Tag nachgesehen, wie weit der Füllstand des Zenjanischen Lotus' gesunken war. Die Vorstellung, dass sich das Fass leeren könnte, ohne dass sie Nachschub beschafft hatten, war seine größte Sorge. Er hätte sich dafür geschämt, wenn er nicht gewusst hätte, dass jeder in der Bruderschaft von derselben Angst zerfressen wurde. Das galt sogar für Lilianne und Nouna, die nie dem Handwerk der Assassinen nachgegangen waren, sondern von der Liebe in ihre Reihen gebracht worden waren. Sie fürchteten zu Recht den Gedanken, sich eines Tages inmitten einer Riege halb wahnsinniger Meuchelmörder wiederzufinden, von denen einer nach dem anderen der Raserei verfiel.

»Habt ihr schon eine Entscheidung gefällt?«, erkundigte er sich.

Endlich wandte sich Theasa ihm zu. Ihre geröteten Augen wirkten finster, doch der abrupte Themenwechsel schien sie nicht zu überraschen.

»Von welchem Ihr redest du?«, fuhr sie ihn an. »Ich muss eine Entscheidung fällen und egal, mit wie vielen von euch ich mich bespreche und wie viele Ratschläge ich mir anhöre, am Ende muss ich die Verantwortung allein schultern.«

Sothorn strich sich eine aus dem Zopf gekrochene Strähne hinter das Ohr. Zum zweiten Mal an diesem Morgen stieg Mitgefühl in ihm auf.

Theasa breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Arme aus. »Dass es im Grunde nur einen einzigen gangbaren Weg gibt, macht es kaum besser. Schon gar nicht, wenn ich überlege, wer ihn vorgeschlagen hat.«

Sothorn runzelte die Stirn. Bisher hatte ihn keines von Theasas Worten überrascht – er hörte sie nicht zum ersten Mal –, aber die letzte Bemerkung traf ihn unvorbereitet. »Vertraust du Szaprey nicht?«

Der Roaq war selbst zu seinen besten Zeiten das am schwersten einzuschätzende Mitglied der Bruderschaft – und das, obwohl viele von ihnen zur Geheimniskrämerei neigten und Geryim stets für einen unerwarteten Wutausbruch gut war. Dass Szaprey einer anderen Art entsprang und weder innerlich noch äußerlich mit einem Menschen zu vergleichen war, war der Nährboden zahlloser Missverständnisse. Trotzdem war es erst wenige Monate her, dass er ihnen seine Treue nachdrücklich bewiesen hatte. Ohne ihn und die alchemistische Erfindung, die er inzwischen Rauchatem getauft hatte, wäre heute keiner von ihnen mehr am Leben.

Ein Anflug von Verlegenheit breitete sich auf Theasas groben Züge aus, ließ die Macht ihrer Stellung weichen und sie um fünf Jahre jünger wirken. »Doch. Es ist nur eine Frage der…« Sie knirschte mit den Zähnen. »Er ist so schwer zu lesen. Seine Augen, seine… Schnauze. Sie sind wie eine Maske und von Masken habe ich ein für allemal genug.«

Sothorn wusste, worauf sie hinauswollte. Keiner von ihnen sprach jemals über Enes. Das Entsetzen über dessen Verrat reichte zu tief. Ranaia und ihren kleinen Sohn konnten sie betrauern und in ihren Geschichten lebendig halten, ohne dass ihnen widersprüchliche Gefühle in den Weg gerieten. Doch Enes würde für sie immer derjenige sein, der sie betrogen und in die Heimatlosigkeit gestürzt hatte.

Und ja, in dieser Hinsicht verstand Sothorn Theasa: Auch er ertappte sich dabei, dass er öfter als früher über die Schulter schaute und sich fragte, ob er den verbliebenen Brüdern und Schwestern nicht etwas mehr Misstrauen entgegenbringen sollte. Für Theasa, die über das Wohl so vieler Menschen entscheiden sollte, musste es noch schlimmer sein.

»Bitte reiß mir nicht gleich den Kopf ab, aber hat Janis denn gar nichts dazu zu sagen?«, fragte Sothorn entgegen aller Hoffnung.

Theasa legte den Kopf weit in den Nacken, als stünden die Antworten auf ihre Fragen in den Winterhimmel geschrieben. »Kein Wort. Es kümmert ihn nicht. Ob wir nach Norden oder Süden segeln oder gleich absaufen, für ihn hat es keine Bewandtnis mehr.«

Sothorn hätte ihr gern widersprochen. Es nicht zu tun, war, als würde er in eine offene Klinge greifen. Tatsächlich glaubte er nicht, dass es Janis nicht länger scherte, was aus seiner geliebten Bruderschaft wurde. Doch der hünenhafte Mann, der Sothorn vor nicht einmal einem Jahr mit ruhiger Stimme die Regeln ihrer Gemeinschaft erklärt hatte, war nicht mehr bei ihnen. Stattdessen gab es nur noch diesen in sich zusammengefallenen Greis, der stundenlang an die Wand seiner Kabine starrte und nur dann etwas aß, wenn man ihm Becher und Teller in die Hände schob. Wohin sich sein Geist auch geflüchtet hatte, er fand den Rückweg nicht.

Sothorn ging in die Hocke, um einen der runden Kieselsteine zu seinen Füßen aufzulesen. »Weißt du, ich finde…«, setzte er an, doch dann rührte sich etwas in seinem Hinterkopf und lenkte ihn ab.

Bewegung und Aufregung blitzten in seinem Geist auf, dicht gefolgt von Enttäuschung und einem so übermächtigen Reißen, dass es sich nur um Hunger handeln konnte. Instinktiv erwiderte er den Schwall fremder Eindrücke mit dem Bild eines saftigen Stücks Hirsch, das er sowohl vor dem gestrigen Festmahl als auch vor den Hunden gerettet hatte. Die Antwort bestand aus Dankbarkeit, Zuneigung und dem Versprechen, bald aufeinanderzutreffen.

»Gwanja?«, erkundigte sich Theasa.

Sothorn nickte lächelnd. Es kam häufig vor, dass sich die Verbindung zwischen seiner Löwengefährtin und ihm unerwartet öffnete. Zeugen zufolge zog er dann eine so erstaunte und gleichzeitig liebevolle Miene, dass man sofort wusste, was geschehen war.

»Sie hat sich wieder einmal im Jagen versucht. Aber sie weiß einfach nicht, wie sie es anfangen soll.« Gwanja war inzwischen fast ausgewachsen, hatte aber einen Großteil ihrer ersten Lebensmonate in einem Käfig verbracht. Ihre Mutter hatte ihr nicht zeigen können, wie man sich an eine Beute anschlich, und es waren keine Geschwister da gewesen, mit denen sie sich im Kampf hätte üben können. Entsprechend war sie eine reichlich ungeschickte Jägerin und auf Sothorn angewiesen, wenn sie satt werden wollte.

Theasa seufzte. Vermutlich dachte sie wieder einmal an das viele Silber, das Gwanja sie gekostet hatte. Es fehlte ihnen schmerzhaft. Trotzdem bereute Sothorn nicht, dass sie es ausgegeben hatten. Gwanja gehörte nun zu ihm, war ein Teil von ihm und er wollte sich nicht einmal vorstellen, sie zu verlieren.

Der Gedanke an das Geld brachte ihn jedoch zu der Überlegung zurück, die seine tierische Begleiterin unterbrochen hatte. »Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Im Grunde ist doch gar keine Entscheidung zu fällen, weder von dir noch von jemand anderem. Du hast es selbst gesagt: Vor uns zeichnet sich nur ein einziger Weg ab. Wir müssen ihn beschreiten. Unser Leben und unser Verstand hängen davon ab. Und sollten wir versagen, ist das sicher nicht deine Schuld. Nichts, von dem, was derzeit geschieht, ist deine Schuld.«

Theasa sah ihn an, als wüsste sie nicht, ob sie ihn ohrfeigen oder umarmen sollte. Letztendlich kauerte sie sich neben ihn und sah hinüber zur Henkersbraut. »Darum geht es mir nicht«, erklärte sie leise. »Glaub mir, ich habe genug Schuld angehäuft, um ein Dutzendmal gehenkt zu werden. Ich möchte nur keinen von euch mehr verlieren. Ich glaube, das könnte ich nicht ertragen. Auch um Janis' willen.«

Für eine Frau, die sich oft bärbeißig gab und der Gefahr lachend in den Hintern trat, war das ein großes Eingeständnis. Sothorn würde es gewissenhaft für sie bewahren.

Sacht stieß er sie mit dem Ellbogen an. »Dann sollten wir dafür sorgen, dass wir so sauber arbeiten wie niemals zuvor. Und wenn Blut fließen muss, dann hoffentlich nicht unseres.«

Theasa legte ihm die Hand auf den Arm, als suche sie einen Anker. Ihre Finger waren kälter als seine Haut je werden konnte.

* * *

Sothorn vertrieb sich die letzten Stunden vor der Abfahrt und geplanten Versammlung, indem er ein Stück die Küste entlangwanderte. Gwanja begleitete ihn, auch wenn sie sich im Schutz des Waldes bewegte und nur selten unter freiem Himmel auftauchte.

Durch die weit offenen Tore seines Geistes spürte er ihren Widerwillen. Sie hatte längst begriffen, dass sie aufs Meer zurückkehren und sich wieder dem beständigen Schaukeln und Kreischen der Seevögel aussetzen würden. Dichte Wälder wie dieser waren ihr fremd genug. Das Meer dagegen versetzte sie geradezu in Empörung. Wasser, das man weder überspringen noch trinken konnte, war nicht richtig.

Als sie zur Landestelle zurückkehrten, ertappte sich Sothorn dabei, dass er die verbliebenen Menschen am Strand enttäuscht musterte. Er war davon ausgegangen, dass Geryim ihn erwarten würde. Oder zumindest hatte er es sich so fest gewünscht, dass aus der Hoffnung eine Gewissheit erwachsen war.

Sie hatten seit dem Abend kaum ein Wort miteinander gewechselt. Wäre nicht der Kuss gewesen, mit dem ihn Geryim beim Verladen des Frischwassers unversehens überfallen hatte, hätte sich Sothorn gefragt, ob die vergangene Nacht und der Morgen danach ein Traum gewesen waren.

Es brauchte etwas Überredung, um Gwanja an Bord zu schaffen. Geduckt wie ein widerwilliges Kind trabte sie die Planke hinauf. Kaum an Deck angekommen, schlich sie auf eine der Treppen zum oberen Laderaum zu und verschwand im Bauch des Schiffs. Das letzte Gefühl, das Sothorn von ihr empfing, bevor sich ihre Verbindung schloss, war Missmut.

»Schlechte Laune, was?«, fragte jemand hinter ihm.

»Kann man sagen.« Er drehte sich um und entdeckte Kara, die halb gebeugt unter dem Gewicht einer gewaltigen Taurolle auf ihn zuwankte. Rasch trat er zu ihr, um ihr die Last abzunehmen und neben dem Hauptmast auf das Deck sinken zu lassen.

»Ich kann es ihr nicht verübeln.« Keuchend strich sich Kara den Schweiß von der Stirn. »Ich habe es auch satt. Wenn wir nicht bald länger als drei Tage festen Boden unter den Füßen haben, werfe ich mich den Fischen zum Fraß vor.«

»Dich oder Shahim?«, rutschte es Sothorn heraus. Manchmal vergaß er nach längerer Verbindung zu Gwanja, zu menschlichen Verhaltensweisen wie Takt und Höflichkeit zurückzukehren.

Zum Glück nahm Kara selten etwas übel; nicht einmal dann, wenn man einer offenen Wunde zu nah gekommen war. »Das ist mir egal, aber einen von uns wird es bestimmt treffen. Ich kann ja verstehen, dass er nicht eben guter Laune ist. Er wird mindestens genauso schnell seekrank wie Gwanja und kotzt auch genauso viel, sobald die Küste außer Sichtweite ist. Ich wünschte nur, er würde ab und zu einmal lächeln oder zumindest ein bisschen weniger jammern.« Sie verdrehte die Augen, lachte jedoch dabei.

Sothorn bewunderte sie. Zwar schimpfte sie ab und zu über Shahims Sturheit und Wehleidigkeit, aber letztendlich war ihr in jeder Geste und jedem Wort, ja, selbst in ihren Beschimpfungen anzumerken, wie froh sie war, ihn noch an ihrer Seite zu haben.

Es ist nicht nur Bewunderung, ging ihm auf. Es ist auch ein bisschen Neid dabei.

Als wüsste Kara, in welche Richtung seine Gedanken sich davongemacht hatten, meinte sie: »Übrigens, Theasa will anfangen. Und ich fürchte, unser ehrenwerter Wargssolja hat sich in irgendeine Ecke verkrochen und vergessen, dass wir zusammenkommen wollten. Gehst du ihn suchen oder soll ich Syv ein paar Federn rauszupfen, um Geryims Aufmerksamkeit zu erregen?« Sie deutete auf den Blauschwanzadler, der sich auf halber Höhe zum Krähennest niedergelassen hatte und sie kühl zu mustern schien.

Sofort stieg Widerwillen in Sothorn auf. Dabei war es nicht einmal sein Gefährtentier, um dessen Unversehrtheit es ging. Er konnte sich nur allzu gut den Schrei vorstellen, den Syv in Geryims Kopf ausstoßen würde, sollte ihm Kara zu Leibe rücken. »Lass nur. Ich suche ihn und stoße dann mit ihm zu euch.«

»In Ordnung.« Sie zwinkerte ihm zu. »Und guck nicht so. Ich behalte meine Hände bei mir. Selbst wenn ich Geryim ans Leder wollte, würde ich unseren Syv nicht anrühren. Das überlasse ich lieber dir. Du bist der Einzige, der so etwas überleben dürfte.«

Bevor Sothorn ihr einen spielerischen Hieb versetzen konnte, sprang sie aus seiner Reichweite. Seine Wangen fühlten sich warm an. Das war inzwischen immer der Fall, wenn er daran erinnert wurde, dass er Syv einst durch einen wütend davon geschleuderten Dolch verletzt hatte. Er hatte bald begriffen, dass dies in Geryims Augen ein Akt unnötiger Grausamkeit gewesen war. Doch erst, seitdem er mit Gwanja verbunden war, wusste er, wie es sich anfühlte, wenn das eigene Gefährtentier in Gefahr war, und welche Hilflosigkeit damit einherging.

Auf dem Weg in den Bauch der Henkersbraut begegneten ihm viele seiner Brüder und Schwestern. Die meisten wanderten bereits der Schiffsmesse entgegen. Nur die Kinder stoben wie gefangene Glühwürmchen durch die engen Gänge und erkundeten von Neuem ein Schiff, das sie erst vor wenigen Tagen mit derselben Begeisterung geräumt hatten.

Es dauerte nicht lange, bis Sothorn fündig wurde. Wie vermutet hatte Geryim sich in den winzigen Raum unterhalb der Kombüse zurückgezogen, in dem die überzähligen Segel gelagert wurden. Man konnte ihn nur durch eine lächerlich enge Luke erreichen, die den meisten Vorbeigehenden nicht einmal auffiel. Es war ein guter Ort, wenn man seine Ruhe brauchte und sie nirgendwo anders finden konnte.

Eine Öllampe warf unruhiges Licht in die Kammer und beleuchtete Geryim, der mit überkreuzten Beinen und verbissener Miene auf den Segeln saß. Sein Blick war auf einen Lederharnisch in seinem Schoß gerichtet. Er kämpfte darum, eine Ahle durch das feste Material zu treiben, und noch bevor Sothorn ein Wort sagen konnte, rutschte Geryim ab und jagte sich die Spitze in den Daumen.

»Lach bloß nicht«, knurrte er, während er sich das Blut ableckte. »Irgendwann werfe ich dieses Miststück über Bord und dann hat es sich mit abbrechenden Nadeln und viel zu dicken Fäden.«

Sothorn wunderte sich nicht, dass Geryim ihn bemerkt hatte. Man schlich sich nicht an einen Assassinen heran und schon gar nicht auf einem Schiff, das jeden Schritt mit einem Knarren beantwortete.

»Lass das lieber. Es ist ein guter Harnisch. Wenn du nicht damit zurechtkommst, gib ihn mir. Ich bringe die Nähte wieder in Ordnung.«

Geryim brummte etwas Unverständliches, bevor er endlich aufsah. Seine gelben Raubvogelaugen schimmerten im Licht der Öllampe und die Andeutung eines Lächelns spielte um seine Lippen. »Sind wir schon so weit gekommen, dass du mir die Näharbeiten abnimmst?«

Sothorn zog eine Augenbraue hoch und bemühte sich um Gelassenheit, auch wenn sein Herzschlag angesichts von Geryims leichtherzigem Tonfall freudig zugelegt hatte. »Ein Wort darüber, dass ich ein wunderbares Eheweib abgeben würde, und ich trete dir noch mal in den Hintern.«

Geryim hatte ihm bei einer früheren Gelegenheit erklärt, dass bei den Wargssolja bestimmte Arbeiten rund um die Jagd nach Geschlechtern verteilt wurden. Während die Männer sich des Fleisches und der Innereien der Beutetiere annahmen, verarbeiteten die Frauen Häute und Knochen. Und da er es natürlich nicht hatte lassen können, Sothorn für sein Geschick bei der Lederverarbeitung aufzuziehen, hatten sie sich so lange geprügelt, bis sich Geryim lachend ergeben hatte. Erst hinterher war ihm eingefallen, Sothorn mitzuteilen, dass es bei den Wargssolja keine niederen Arbeiten gab und die Frauen ebenso fähige und starke Jägerinnen waren wie die Männer. Die anschließende Versöhnung war schweißtreibend ausgefallen und zählte zu einer der besten Nächte in Sothorns Leben, wenn man von dem unvermeidlichen Abschiedsschmerz absah, der ihr gefolgt war.

Prompt grinste Geryim. »Ich erinnere mich an das letzte Mal. Und ich kann nicht behaupten, dass es mir nicht gefallen hat.« Er sah sich in der Kammer um. »Was meinst du? Könnte schlechtere Orte geben…«

Nun war Sothorn tatsächlich versucht, ihn zu treten. Erst zog Geryim für ein lebensgefährliches Ritual allein und ohne Ausrüstung in den Wald, dann kehrte er halb erfroren und verletzt zurück, sodass sie seinen neuen Status als Mann nicht angemessen feiern konnten, nur um anschließend bis in den späten Vormittag hinein zu schlafen und ausgerechnet jetzt wollte er Sothorn auf die Segel ziehen? Obwohl sie in der Messe erwartet wurden?

Es war zum Aus-der-Haut-fahren.

»Aber deutlich bessere Zeitpunkte«, widersprach Sothorn fest. In ihm sah es anders aus: Wie lange würden sie schon brauchen? Bei ihm würde es sicher nicht lange dauern. Dafür hatte es ihn gestern zu viel Beherrschung gekostet, lediglich Geryims Wunde zu versorgen, statt über ihn herzufallen.

Geryim zog skeptisch die dichten Brauen zusammen. »Wieso? Wirst du oben gebraucht?«

»Du hast die Versammlung vergessen«, stellte Sothorn fest.

»Eher verdrängt«, murmelte Geryim, bevor er den Lederharnisch beiseitelegte und ungewohnt ungelenk auf die Beine kam. »Aber von mir aus: Bringen wir es hinter uns.«

Sothorn ließ Geryim den Vortritt, sich durch die Luke in den Gang zu quetschen. Kaum, dass er ihm gefolgt war, wurde er erst am Handgelenk, dann an der Schulter gepackt und hart gegen die nächste Wand geschubst. Einen Augenblick später stand Geryim dicht vor ihm und drückte ihm den Mund gegen die Schläfe. Mit den Lippen an Sothorns Haut raunte er: »Das wird der letzte Aufschub. Wir lassen sie reden und dann verschwinden wir. Und wenn das Schiff in Flammen steht: Wir werden feiern.«

Sothorn legte erleichtert die Hände um Geryims Gesicht und zerrte ihn in einen kurzen, aber umso hitzigeren Kuss. Nachdem sich ihre Lippen wieder getrennt hatten, zischte er halblaut: »Ich nehme dich beim Wort. Du bist mir etwas schuldig, nachdem ich dir gestern das Blut dieses Wildschweins abwaschen musste.«

Er hatte es halb im Scherz gesagt. Umso überraschter war er, als Geryim ihn eindringlich musterte und dann langsam nickte. »Das bin ich. Und zwar viel mehr, als dir je bewusst sein wird.«

Seine Worte sowie sein aufrichtiger Tonfall brachen mit einer solchen Wucht über Sothorn zusammen, dass er überzeugt war, etwas in sich bersten zu spüren. Geryim machte nur selten Zugeständnisse, aber wenn er es tat, konnte man sich auf sie verlassen. Wenn er nun wirklich wiedergutmachen wollte, dass er Sothorn monatelang nach geteilter Leidenschaft allein gelassen hatte – allein lassen musste, um die Gesetze seines Volkes nicht zu brechen –, standen ihnen gute Zeiten bevor. Ihnen beiden.

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