Kitabı oku: «Auf der anderen Seite der Schwelle», sayfa 11
Kapitel 17
Der Winter 1954/55 erwies sich nach dem nassen Sommer, als kalt und schneereich. Früh, wenn es noch dunkel war und der Hof nur vom Scheinwerferlicht erhellt wurde, eine Zeit vor dem Wecken in der ganzen Anstalt, wenn noch das Licht von draußen die Schatten der Gitter an die Zellenwand warf, konnte man das gedämpfte Schurren und Kratzen der Schneeschaufeln hören, wenn die Hofarbeiter die Wege und vor allem das Freistundenrondell vom Schnee befreiten. Wenn also dieses Kratzen der Schneeschaufeln Sebastian und die Gefangenen in den Zellen in einen neuen Tag holten, dann dachte Sebastian so manches Mal an die vielen endlosen Tage, die dem Hier und Jetzt, dem Heute noch folgen würden, bis das grelle Kreischen der Stahlschiene ihn wie auch alle anderen Insassen des Zellenbaus endgültig ins Jetzt und Heute riss.
Schon krachten wieder die Schlösser, Türen wurden aufgerissen: Randvolle Kübel raus, Wasserkanne rein. Türen krachten, Riegel schmetterten … Dann schnell der Reihe nach hintereinander Katzenwäsche in der Schüssel auf dem Hocker neben dem Kübel: Gesicht, Hände, Achselhöhlen befeuchten … Mit Wasser sparen! Was die Wasserkanne für alle hergab, das war nicht eben viel.
Und schon ging das Getöse wieder los, wenn Riegel, Schlösser, Türen zur Zählung aufgerissen wurden. Leere Kübel rein, Türen wieder zu. Türen erneut auf.
Frühstücksausgabe: Ersatzkaffeegetränk, einen vollen Esslöffel Marmelade in die Schüssel, Margarine auf einem Stückchen Margarine-Pergamentpapier sowie ein Messer, um die feuchte dunkle ‚Brotkuhle’, etwa 500 Gramm für den Tag, in Scheiben schneiden zu können. Das musste schnell gehen, denn ein Messer sollte nicht lange in den Händen von Gefangenen bleiben. Die Herausgabe eines Messers an Häftlinge, wenn auch nur für Minuten, wunderte Sebastian immer wieder. Offensichtlich war das Zerschneiden eines ganzen Brotes in Scheiben der Anstaltsbäckerei für ca. 800 bis 1000 Gefangene nicht möglich.
Eine andere Erklärung fand er nicht. Die Zellengenossen zuckten dazu nur die Schultern. Und schon kam das Krachen und Schmettern von Schlössern und Riegeln wieder näher und erreichte die eigene Zelle: Messer raus, Abwassereimer und Wasserkanne raus, Türe wieder zu.
Rasch frühstücken, den Kübel der Reihe nach benutzen, denn schon kam das Schmettern der Schlösser wieder näher …: Kübel vor die Türe, Wasserkanne und Abwassereimer rein und raustreten zur Freistunde. Dann das Poltern der schweren Holzschuhe auf dem Dielenboden der Galerie im Gleichschritt an den Zellentüren vorbei und hintereinander die Granitstufen hinab.
Beim Hinaustreten schlug die eiskalte Winterluft den Gefangenen entgegen wie ein Keulenschlag. Der Atem dampfte weiß in der Kälte.
„Im Gleichschritt links, links, links zwo drei vier …“, erscholl die Stimme des Vorturners eigenartig dünn in der kalten Luft, erschien es zumindest Sebastian, der im Gänsemarsch hinter den andern und im Gleichschritt diesen Rundlauf absolvierte.
„Alles Halt!“ Der Vorturner in der Mitte des tief verschneiten Rasenrondells schwenkt die Arme, schüttelt sie aus, die frierenden Häftlinge in der Runde folgen ihm. Der Vorturner beugte die Knie, einmal, zweimal, dreimal … und die Runde folgt ihm, bis auf ein paar ganz alte Männer, die sich dabei sichtlich quälten, immer wieder zum Vergnügen der Wachposten an den vier Ecken des ovalen Rundkurses. Zur eigenen Gaudi verlangten die dann anständige Kniebeugen von den Alten in der Erwartung, dass sie diese natürlich nicht zustande bringen würden. Der Spaß der Posten aus Langeweile und Frustation am Elend dieser Alten, Ende sechzig, Anfang Siebzig, die sich aus der Hocke, in die sie mit Absicht getrieben wurden, nicht mehr erheben konnten und kläglich sitzen blieben wurmte Sebastian zutiefst.
Na ja, überdachte er diesen trostlosen Mutwillen der Wachposten: In der Kälte rumstehen zu müssen bei diesen langweiligen Rundgängen, da schikanierte man entweder alle Gefangenen oder leistete sich eine Gaudi mit wenigen, dort eben mit diesen alten Männern. Die Posten werden sich bei den einzelnen Rundgängen sicherlich ablösen. Der Vorturner aber bleibt fast den ganzen Vormittag bei jedem Wetter … Ist ja auch bloß ein Gefangener und hat sich auf dieses „Ehrenamt“, eingelassen. Deshalb auch kein Mitleid mit ihm sagte Sebastian sich.
Endlich „Einrücken!“ Durchgefroren in den fadenscheinigen Sachen und wieder hinein in Zellen deren bloß überschlagene Heizungen kaum Wärme spendeten. Danach dösten alle wieder in ihre Decken gewickelt vor sich hin. Manchmal erzählte einer auch einen Schwank aus seinem Leben, von dem Sebastian annahm, dass es dabei eher ums Reden als um die Originalität des einst Erlebten ging. Ein anderer wieder machte sich laut Sorgen um seine Familie. Jüngere vor allem befürchteten immer wieder insgeheim oder auch offen das Ende ihrer jungen Ehen, sei es wegen des politischen Drucks auf die Frauen draußen, nämlich die Scheidung einzureichen. Etwas das vor allem auf politisch Verurteilte zutraf, oder ganz allgemein ihrer langen Strafen wegen. Das jahrelange Warten auf einen politisch verurteilten Ehemann setzte schon einiges an Zuneigung, Charakterfestigkeit und Überzeugung voraus, eingedenk mancher Stigmatisierung, die das tägliche Leben draußen beträchtlich erschweren konnte. Immerhin Anforderungen denen nicht alle Lebenspartnerinnen so ohne weiteres standhielten. Besonders tragisch, wenn manche in den Zellen noch von ihren jungen Frauen schwärmten, während diese draußen bereits die Scheidung betrieben, um das dem gefangenen Partner dann qua Amt mitteilen zu lassen.
Wenn also einer in der Zelle außer der Reihe Post bekam, Behördenpost, deren Empfang er quittieren musste, war inzwischen schon jedem klar worum es sich dabei fast immer nur handeln konnte. Sebastian sah dann wie die Unsicherheit dem meist jungen Empfänger ins Gesicht geschrieben stand, sah wie aus diesem Gesicht das Blut wich, wenn er den Inhalt des amtlichen Schreibens zur Kenntnis nahm, auf einen Hocker fiel und tonlos erklärte: „Meine Frau will sich scheiden lassen.“ Eine Mitteilung, die lediglich schweigende Verlegenheit in der Zelle hervorrief. Die meisten Betroffenen hatten mit einem solchen Schlag offensichtlich nicht gerechnet, zumal ihnen der direkte oder auch nur indirekte Druck nicht klar war, dem Angehörige, vor allem die meist jungen Ehefrauen von politisch Verurteilten, ausgesetzt sein konnten. Dagegen erwiesen sich Ehen älterer Gefangener im Schnitt als widerstandsfähiger und erprobter nach Krieg, Zusammenbruch und Kriegsgefangenschaft.
So jedenfalls erklärte Sebastian sich dieses Phänomen und fand es dann doch erstaunlich, dass seine Freundin in Leipzig mit ihren zehn Zeilen im monatlichen Brief noch immer zu ihm hielt. Man war allerdings auch nicht verheiratet.
„Du bist doch bestimmt noch ’ne Jungfer.“ So oder ähnlich hatten sie ihn in manchen Zellen schon zu ärgern, in Verlegenheit zu bringen oder einfach nur aufzuziehen versucht.
Sebastian hatte dann aber nie erklärt, weshalb und wieso das alles bei ihm so sei, also das mit der Intimität … Wie hätte er reagieren sollen, wenn sie ihm zum Beispiel, wie geschehen, unterstellten, er hätte ja noch nicht mal ’ne nackte Frau auch nur von weitem gesehen. Hätte er denen sagen sollen, dass ihm Intimität zu wichtig sei, um das auf einer Kneipen-Toilette oder einem Feldrain abzumachen? Die in den Zellen hätten ihn ausgelacht. In solchen Fällen lachte dann aber immer er und schüttelte dazu vielsagend den Kopf.
Nun war es aber auch so, dass es in längst nicht allen Zellen, ja sogar in den wenigsten in die er immer wieder verlegt worden war, so zu ging, dass zum Beispiel mal ein älterer Zelleninsasse, der wegen Unterschlagung in einem volkseigenen Betrieb zu 8 Jahren verurteilt worden war, meinte ihm erzählen zu können, dass er im Krieg eine junge Polin gehabt hätte, die so geil und feucht gewesen sei, dass, als sie so auf dem Bette gelegen habe, aus ihrer Muschi ein feiner Strahl in hohem Bogen gegen das Fensterlicht zu erkennen gewesen sei.
Sebastian hatte dann dazu wieder etwas gequält gelacht und es als bloßen Witz gewertet, sich andererseits aber auch ziemlich geärgert, dass man ihm so einen lächerlichen Unsinn zumutete. Doch er war nun mal immer und überall der Jüngste. Im Laufe der Jahre würde sich das ja von selbst ändern.
Kapitel 18
Irgendwann neigte sich auch sein zweiter Winter in Gefangenschaft dem Ende zu. Während der letzten Februartage bis Anfang März rasten draußen Frühlingsstürme als wilde Jagd übers kahle Land und rissen die Rauchfahnen von den Kaminen der Lauben in den Kleingärten hinter der Zuchthausmauer. Verstreute Schneereste leuchteten dort noch weiß auf dunkler Erde und braunem Rasen. Die nassen Dächer von Häusern im Hintergrund glänzten im Widerschein eines zerrissenen Himmels voller jagender Wolken … So betrachtete Sebastian durchs enge Gitterfenster den Anbruch des Frühlings. Noch fehlten dort alle Farben. Schwarz starrten die nackten Äste der Bäume in einen aufgerührten Himmel.
Was wird das Jahr bringen? fragte Sebastian sich. Ob der Sommer sich wieder so verregnet zeigen würde? 1954, das zurückliegende Jahr … Was war das eigentlich gewesen? Abgesehen von seiner Verurteilung. Zuerst wie eine Betäubung.
Im Rückblick erschien alles noch immer leicht unwirklich, aber doch genau. Er erinnerte sich an alles bis in die Einzelheiten. Der Protest im ganzen Zellenbau damals, als sie ganz neu dort eingezogen waren. Und die neu gestopften Strohsäcke. Die Fußballweltmeisterschaft natürlich. Kein so großes Thema anfangs unter den Gefangenen, auch weil sie einfach nichts erfuhren. Doch dann wurden vor allem die Schließer munter, die das Ganze ja am Rundfunkgerät verfolgen konnten und so erfuhren auch die Gefangenen vom Stand der Dinge. Natürlich drückten alle in den Zellen der westdeutschen Mannschaft die Daumen.
Sebastian erinnerte sich noch gut daran wie die Schließer den Gefangenen gegenüber auf einen Sieg der ‚Volksdemokratie‘ Ungarn schworen und wie zum Schluss dann doch der Klassenfeind den Sieg davongetragen hatte: Fußballweltmeister Deutschland! Das war doch was.
Die Staatsfeinde in den Zellen sollten sich allerdings nicht zu lange darüber freuen können. Sofort einsetzende Schikanen einzelner Schließer sorgten dafür: Und so wurden dann bei der nächsten Freistunde Gleichschritt und Turnübungen besonders streng exerziert. Und durch die Spione in den Zellentüren waren die Insassen dahinter vor den Schließern nicht sicher. Schon das bloße Sitzen auf der Bettkannte konnte Folgen haben. Die verdüsterten Mienen mancher Wachposten ließen nichts Gutes erwarten. Vom Arrest über Schreibverbot bis zur Besuchssperre stand den Gefangenen alles offen. Rückwirkend fand er dennoch, sei die Zeit wie ein Nichts vergangen. Dabei zog sich jeder einzelne Tag unendlich langsam dahin. Und im Rückblick gabs dann nur wenige Anhaltspunkte. Doch tagtäglich musste jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde in stets wiederkehrenden Belanglosigkeiten durchlebt werden, die den Tag zerrissen und die Zeit stauten, um sie dann nur wieder träge dahinfließen zu lassen.
Wenn Sebastian dabei an die noch vor ihm liegenden Jahre dachte hätte er eigentlich verzweifeln müssen. Doch seine Einsicht in die Janusköpfigkeit der Zeit schützte ihn gewissermaßen davor. Sich stets wiederholende Routineabläufe, denen er unterworfen blieb dehnten in der Wahrnehmung, das hatte er begriffen, die Minuten und Stunden der eben ablaufenden Zeit, während sie im Rückblick gerade deshalb verkürzt erschien. Dabei handelte es sich aber doch immer um ein und dieselbe Zeit. Die Stunden und Tage in steter Wiederkehr immer gleicher Ereignisse: Wecken, Zählung, Essen, Kübeln, Rundgang, Essen, Kübeln, Zählung, Einschluss … krochen also zäh’ dahin und rückblickend erschien dann ein Jahr wie im Augenblick vergangen. Ob aber die Qual des täglichen Einerlei durch den rückblickenden Eindruck von Zeitlosigkeit wirklich zu ersetzen war blieb dann wohl doch bloß so etwas wie eine psychische Fata Morgana. Aber ein jeder suchte halt Schutz vor dem Wegbrechen seiner ihm zugehörigen Zeit in erstarrender Monotonie.
Nach der Verlegung nun auch des jungen ‚Buntspechts‘, war dafür ein Neuer mit seinem Deckenbündel vor der Brust in Sebastians Zelle eingezogen. Ein Arzt, Internist, wie sich bald herausgestellt hatte. Friedrich Sedlmayr, Anfang bis Mitte Vierzig schätzte Sebastian, war, soweit sich das seinen Auslassungen entnehnen ließ, im Gesundheitsbereich der DDR wohl so etwas wie ein höheres Tier gewesen. Viel war ihm darüber aber nicht zu entlocken. Verurteilt worden war er zu 12 Jahren Zuchthaus nach Artikel 6 der DDR-Verfassung. Seinen weiteren Erzählungen war zu entnehmen, dass er als sogenannter Reisekader medizinische Kongresse im Westen besuchen durfte. Offizielle Reisen von Funktionären und Wissenschaftlern in den Westen mussten stets von den entsprechend höheren Parteiinstanzen genehmigt werden.
Sedlmayr sprach manchmal beiläufig auch von seinem Auto, einem weißen Wartburg-Cabrio, mit dem er, wie er erzählt hatte, auf der West-Autobahn einmal bei 150 Sachen von einem Porsche überholt worden war. Der Porsche-Fahrer, erzählte er weiter, habe seinen Wagen dann zurückfallen lassen, um den Wartburg interessiert zu betrachten, ihm kurz zuzunicken und wieder Gas zu geben. Sedlmayr lachte. „Da konnte ich dann doch nicht mithalten“, sagte er.
„Wo ist denn dein Auto jetzt?“, konnte Sebastian es sich nicht verkneifen zu fragen.
„Na weg“, antwortete der einst priviligierte Arzt, „beschlagnahmt als Tatwerkzeug.“, dazu lachte er wieder. „Ich habe damit niemanden umgefahren oder im Westen einen Unfall verursacht“, fügte er noch hinzu.
„Tatwerkzeug? Welche Tat denn?“, wunderte Sebastian sich. „Ich dachte du durftest mit diesem Auto in den Westen fahren. Hast du jedenfalls gesagt.“
„Stimmt ja auch“, bestätigte Sedlmayr, grinste leicht und lehnte sich auf seinem Hocker gegen die Wand zurück. In der Zelle war es kalt, einige hatten sich wieder ihre Decken umgehängt.
„Aber 12 Jahre“, sagte Sebastian und wiegte dazu den Kopf. „Die haben dir Spionage angehängt oder?“
Sedlmayr zuckte wieder leicht grinsend mit den Schultern. „Wenn man rüberfährt“, sagte er, „ist man dort nie alleine.“
„Wie meinst ’n das jetzt?“, fragte Siegfried, der sich sonst ja selten einmischte.
Sedlmayr sah diesen Siegfried an und schüttete leicht den Kopf. „Jeder wird dort beobachtet. Das ist doch kein Geheimnis. Du weißt nur nie wer’s gerade ist.
Ich kam natürlich mit Westdeutschen ins Gespräch. Dazu war ich ja rübergefahren“, sagte er mit einer Handbewegung in den Raum. „Ich habe bei solchen Gelegenheiten neben fachlichem Austausch auch über die Situation unseres Gesundheitswesens gesprochen. Das konnte gar nicht ausbleiben. Aber im Ministerium, da hatte ich nicht nur Freunde“, fügte er nach einer Pause hinzu.
„Und deswegen gleich zwölf Jahre?“
„Ja, wie das so ist, auch mit guten Freunden …“, sagte der Arzt.
Sebastian lachte. „Davon kann ich ein Lied singen“, sagte er. „Aber du warst doch auch in der Partei?“
„Ja sicher“, sagte der Arzt, „das blieb nicht aus.“
„Du warst aber kein Überzeugter?“, fragte Sebastian.
Sedlmayr pustete durch die Lippen. „Was ist das schon, überzeugt …?“
„Du hattest also nur ’n guten Posten im Sinn?“
Sedlmayr zuckte mit den Schultern. „Wenn du’s so nennen willst?“
Sebastian stand dort vor dem Arzt, der auf seinem Hocker saß und winkte ab.
„Ich kann in dieser Richtung sowieso nichts nachvollziehen“, sagte er. „Aber für zwölf Jahre muss man dir schon was angehängt haben.“
Über das Gesicht des Arztes huschte wieder ein Lächeln. „Ja natürlich“, sagte er, „staatsfeindliche Nachrichtenübermittlung.“
„Nicht Artikel 6?“, wunderte Sebastian sich.
„Na klar, Artikel 6! Was anderes gibt’s doch gar nicht.“
„Was haste denn da für staatsfeindliche Nachrichten übermittelt? Ich hab’ so was überhaupt noch nie gehört. Nachrichtenübermittlung? Und nicht Arbeit für einen westlichen Nachrichtendienst?“
Der Arzt schüttelte nur den Kopf.
„Aber Nachrichtenübermittlung … Was heißt denn das? Was hast du da wem übermittelt?“
„Tja, wie schon gesagt, über die Lage unseres Gesundheitswesens. Die Mangelwirtschaft in Gesprächen mit westlichen Partnern, aber außerhalb der offiziellen Verlautbarungen.“
„Also du hast denen bloß die Wahrheit gesagt?“
„Na ja, die Schönrednereien, das ist mir einfach zu sehr auf den Geist gegangen.
Aber natürlich gilt das als Staatsgeheimnis“, fügte er hinzu. „Schließlich ist das hier alles nicht vergleichbar mit dem Westen. Das soll aber niemand wissen, denn das Gesundheitswesen der DDR wird ja immer ganz groß herausgestellt.
Und meine Gespräche im Westen, also ich hab’ mit der Situation hier nicht hinterm Berg gehalten, hat man mir bei Gericht als Verrat angelastet. Ich hätte damit dem Klassenfeind bedenkenlos in die Hände gespielt und so weiter und so fort …“
„Woher wussten die das?“, fragte wieder Siegfried. „Da hat dich doch einer angeschissen …“
„Die da im Westen sind naiv, das hatte ich nicht genügend beachtet. Da haben welche meine Meinung weitergetratscht, natürlich ohne zu ahnen, welche Folgen das zumindest für mich haben konnte. Na ja, wir sehns ja jetzt.“
„Aber du warst doch schon öfter drüben. Warum hast du da nicht schon was erzählt?“
Sedlmayr lachte. „Stimmt“, sagte er, „aber wie es so schön heißt: Einmal ist immer das erste Mal.“
„Wie konnten die dir bei der Stasi und vor Gericht die Anklage beweisen?“, fragte Siegfried.
Sebastian schüttelte den Kopf. „Na sag mal, so doof kannst du doch nicht sein.
Die müssen dir doch nichts beweisen. Du musst denen beweisen, dass ihre Anklage nicht stimmt. Doch das gelingt kaum jemandem. Versuch das mal bei der Stasi. Nach tagelangem Schlafentzug weißt du nicht mehr, was du eigentlich wolltest …“
„Da ist schon was dran“, meldete der Ex-Bezirksboxmeister im Mittelgewicht sich nach längerem Schweigen zu Wort. „Ihre Unterstellungen, ganz gleich ob bei der Stasi oder vor Gericht, werden dort zu Feststellungen. Da bist du ganz einfach machtlos, vor allem bei so politischen Geschichten. Das nennt sich die ‚Neue Justitz‘ und da hat man die alte reaktionäre rechtliche Regel: ‚Im Zweifelsfalle immer zu Gunsten des Angeklagten‘, auf den ‚Misthaufen der Geschichte‘ geworfen, wie sie das nennen.“
Sebastian stieß sich vom Bettpfosten ab, gegen den gelehnt er gestanden hatte.
„Das alles erinnert so’n bisschen ans Mittelalter“, sagte er, „also wie bei den Hexenprozessen damals: Da wurdest du in einem zugebundenen Sack ins Wasser geworfen. Dem Gottesurteil unterwerfen nannten die das damals. Wenn du abgesoffen warst galt das als Beweis deiner Schuld. Hattest du’s aber, kaum vorstellbar, überlebt, das soll ja sogar vorgekommen sein, warst du mit dem Teufel im Bunde. Wieder ein Beweis deiner Schuld. Was ist denn heute hier im Prinzip anders?“, fragte er mit ausgebreiteten Armen und sah sich dazu in der Zelle um.
Sedlmayr nickte zustimmend. „Überbordende Bürokratien“, sagte er, „unübersichtlich und undurchschaubar für den Bürger sind aber auch schon eine moderne Form von Willkür. Das kann in jeder Demokratie geschehen.“
„Du meinst auch im Westen?“
„Ja“, sagte Sedlmayr lächelnd. Dann zitierte er: … „nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss“, und blickte sich dazu in der Zelle um. „Na“, fragte er, „von wem ist das?“
„Schiller!“, ließ Martin Schüler, der Ex-Boxer, sich vernehmen.
„Setzen! Eins!“, sagte Sedlmayr.
„Danke, danke …“, antwortete Martin lächelnd. „Aber noch mal zum Mittelalter und den Hexenprozessen. Bei dem, was ich inzwischen gehört habe sind wir wirklich nicht viel besser dran als die armen Menschen damals. Und ich habs wie auch viele andere an mir selbst erlebt. Mein Vater ist Facharbeiter, ich auch, bin Elektriker. Das alleine heißt aber nicht immer was im Arbeiter- und Bauernstaat. Jetzt sitze ich hier als Totschläger und muss noch froh sein, dass sie mich nicht zum Mörder gemacht haben.“ Dazu lief er im schmalen Gang zwischen den Betten langsam auf und ab, drei Schritte hin, drei zurück und blieb wieder stehen. „Dabei wissen die, dass das kein Totschlag, sondern ein Unglücksfall war.“
„Du bist ein guter Boxer“, warf Sedlmayr, der Arzt, von seinem Hocker aus ein.
Bezirksmeister im Mittelgewicht, das ist doch schon was, aber du hast dich damit auch überschätzt. Bei uns hier in der DDR“, sagte er, „da gehts doch nicht primär ums Können, in der Hinsicht sind die meisten führenden Genossen, wo auch immer, die reinsten Luschen. Nein, nicht ums Können gehts, sondern ums Kennen. Und wenn du dann auch noch gut sein solltest und die richtigen Leute kennst und die hast du gekannt“, betonte Sedlmayr, „und ins politische Horn bläst, was du abgelehnt hast, beziehungsweise nicht wahrnehmen wolltest, kannst du dir vieles leisten. Andersherum kann dir’s aber auch gehen wie jetzt gehabt. Du hättest jedoch wissen müssen, dass ein guter Sportler hier halt nur Spitzensportler werden und damit ein Vorbild vor allem der Jugend sein kann, wenn er das hohe Lied der Partei singt. Und danach hast du dich eben nicht gerichtet. Du warst nämlich schon ganz schön weit, Bezirksmeister!“ Und der Arzt nickte bedeutungsvoll. „Das war ein Fehler von denen“, sagte er, „du hättest ohne ihre direkte Einwilligung gar nicht so weit kommen dürfen. Eine Menge Leute kannten dich schon. Du hattest Anhänger und Bewunderer, aber du hast nicht mitgemacht im Spiel: ‚Wes’ Brot ich ess’, des’ Lied ich sing’‘ und hast geglaubt, du könntest dir ohne da mitzusingen deine eigene Melodie pfeifen.“ Der Arzt schüttelte den Kopf. „Nee, mein Lieber“, sagte er, „da spielt es überhaupt keine Rolle, ob du gut und Arbeiter und Kind eines Arbeiters bist.
Das ist doch alles bloß Mimikry. Du warst lediglich naiv und hättest eben auf öffentliche Auftritte verzichten müssen, also keine Beteiligung an Meisterschaften und so … Schließlich, die Ehre eines DDR-Meisters“, fuhr er nach kurzer Pause fort, „und die eines Martin Schüler, Facharbeiter, entstammen entgegengesetzten Welten. Hier hattest du dich, so sehe ich das, verirrt, um dich dann etwas spät auf die Ehre des Martin Schüler zu berufen im Glauben, du könntest vom ganzen politischen Getriebe unabhängig sein. Diese Meinung ist zwar einerseits aller Ehren wert, andererseits aber eine glatte Illusion. Diesen ignoranten Irrglauben und die naiv verschuldete Verspätung musst du nun mal bitter büßen.“
„Na gut, aber den anderen Weg, den du meinst“, erwiderte Martin Schüler mitten im Gang zwischen den Betten stehend, indem er das du besonders betonte, „den hätte ich sowieso nicht gehen können.“
„Schon richtig, in Ordnung“, sagte der Arzt.
Martin Schüler blieb am Fenster stehen und sah eine Weile hinaus. „So ist es eben“, sagte er, drehte sich um, sah den Arzt an, der noch immer neben der Tür auf seinem Hocker saß und nickte ihm zu. „Das wärs dann also, das mit dem Boxen. War alles Blödsinn“, winkte er ab.
Der Arzt wiegte den Kopf. „Du musst nicht gleich die Flinte ins Korn werfen wollen.“
Martin Schüler lachte leicht abschätzig. „Du musst ja auch deine eigene Suppe auslöffeln“, wandte er sich an den Arzt, „wie wir alle hier.“
Sedlmayr hob kurz die Schultern und nickte zustimmend. „Leider“, sagte er dazu, „leider habe ich mich täuschen lassen.“ Das war dann auch schon das Weitestgehende, das von ihm über seinen Fall zu erfahren gewesen war. Dazu kam noch, dass er verheiratet war und mit Frau und sechzehnjährigem Sohn in Berlin-Pankow gewohnt hatte und eben diesen seltenen DDR-Sportwagen fahren durfte. Über seine berufliche Tätigkeit, seine Arbeitsstelle oder die Position, die er möglicherweise im Gesundheitswesen innegehabt hatte, sprach er nie.
Und das mit der „Mangelwirtschaft“, meinte Sebastian und wohl auch die anderen in der Zelle, das konnte natürlich nicht alles gewesen sein. Doch war es nicht üblich in der Vergangenheit eines politisch Verurteilten, sofern er nicht selbst darüber sprach, herum zu bohren.
Beim Wecken am Morgen wurde in den Zellen seit geraumer Zeit kein Licht mehr eingeschaltet, denn durchs schmale Gitterfenster fiel um diese Zeit bereits frühes bläuliches Morgenlicht. Der März galt schon als Frühlingsmonat und so war die Heizung bereits wochenlang kalt geblieben. Kalt war es dann auch in den Zellen, sodass die Gefangenen sich tagsüber wieder ihre Schlafdecken umhängten.