Kitabı oku: «Auf der anderen Seite der Schwelle», sayfa 10

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Kapitel 15

Dem neuen Jahr war es gleich, ob es neu war oder nicht, sagte Sebastian sich indes er ins verschneite Land dort draußen blickte. Seinen der Ewigkeit entlehnten Rhythmus verdankte sich die Zeit und auch das was wir ein Jahr nennen, nur einer uns nicht fassbaren Wirklichkeit von Zeit, die sich nicht bloß aus einer simplen Umrundung der Sonne durch die Erde ergibt.

In den Zellen froren die Gefangenen. Viele wickelten sich in ihre Decken wie in eine Toga und liefen abwechselnd, alle auf einmal ging ja nicht wirklich, den schmalen Gang zwischen den Betten auf und ab. Und da das noch Jahre so weitergehen würde, mussten Menschen sich auch auf ein Leben einrichten, wie es Schweinen oder Kaninchen bis zur Schlachtung zugemutet wurde. Einen Lichtblick gab es: Man konnte und durfte lesen, ganz gleich auch was es war … Eines Tages krachten wieder mal Schloss und Riegel und in der aufgestoßenen Türe stand ein Schließer, dem Arno Sawatzky Meldung machte. Hinter dem Schließer erschien auch gleich der Bücherkalfaktor mit der voluminösen Bücherkiste auf dem Rollwagen. Wie üblich warf er den Zelleninsassen vier Bücher in die Arme. Die gelesenen oder auch nicht gelesenen wanderten rasch zurück in die hohe Bücherkiste. Dann verschwand er auch schon mit seinem Rollwagen und die Türe fiel krachend ins Schloss.

Sebastian besah sich mit Siegfried zusammen diese Bescherung auf dem Tisch.

Alles ihm unbekannte Autoren, stellte er fest und Siegfried nickte dazu: Übersetzungen aus dem Rumänischen, dem Polnischen …. und ein Buch fiel aus dem Rahmen. „Vom anderen Ufer“: lautete der geheimnisvolle Titel. Auch von diesem Autor namens Alexander Herzen hatte Sebastian noch nie etwas gehört.

Aus dem Vorwort erfuhr er, dass dieser Autor in der Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts gelebt hatte. Weshalb kommt so ein Buch in eine DDR-Zuchthausbücherei fragte er sich neugierig geworden. Den „Anmerkungen“ konnte er entnehmen, dass dieser Alexander Herzen „Die blutigen Junitage von 1848“, in Paris miterlebt hatte. Das machte Sebastian dann allerdings einen Tick skeptisch, aber doch zugleich auch wieder neugierig, denn wenn so ein Buch in der DDR erscheinen durfte, würde dieser Herzen doch sicher als ein ernannter Vorläufer der heutigen Bonzen missbraucht werden. Und wenn dessen Texte sich dazu eigneten dürfte wahrscheinlich nicht allzuviel dahinter stecken. Mit diesen Überlegungen setzte er sich auf einen Hocker dicht unters Fenster, das aufgeschlagene Buch auf den Knien. Seine Skepsis nahm erst einmal nicht ab, als er in einer Einleitung über den Autor las, dass dessen Prosa nichts anderes als geschriebene Rede sei, einschließlich aller Vorzüge und Mängel des gesprochenen Wortes, wie es dort hieß. Metaphernreich, aber ungekünstelt verrate es die unwiderstehliche Neigung des geborenen Erzählers zu Übertreibungen mit langen Abschweifungen in der Schilderung von Ereignissen, verschlungen mit Spekulationen …

Und so machte er sich schließlich an den Originaltext und stieß dann schon bald auf die Sätze: … „Suche in diesem Buch keine Lösungen – es enthält keine, und es gibt überhaupt keine für den Menschen unserer Zeit. Das, was gelöst ist, ist abgeschlossen, aber die kommende Umwälzung beginnt eben erst.“

Bei diesen Sätzen traf ihn bereits eine Ahnung, weshalb diese Schrift in der DDR erscheinen durfte. Und als er weiter las, bestätigte sich diese Ahnung.

Es hieß dort: „Wir bauen nicht auf, wir reißen nieder; wir verkünden keine neue Offenbarung, sondern räumen alte Lügen fort … bauen nur die Brücke – ein anderer Unbekannter, ein Mensch der Zukunft, wird über sie hinwegschreiten … Die Religion der zukünftigen Umgestaltung der Gesellschaft ist die einzige Religion, die ich dir vermache …“ Es war ganz klar, in welches historische Mäntelchen die Bonzen des Stalinismus sich täuschend zu hüllen gedachten, als sie diese Schrift öffentlich zuließen.

Doch als die Sätze über den Menschen der Zukunft niedergeschrieben wurden gab es weder einen Lenin noch einen Stalin und natürlich auch keinen Walter Ulbricht mit Frau Lotte … Als er dann weiter und immer weiter las ließ ihn das Staunen darüber nicht mehr los, dass die DDR-Zensur offenbar nicht erkannt hatte, dass diese Texte das ganze verschrobene Machtgelüste der sozialistischen Großfunktionäre als zukunftsfeindlich entlarvten; wenn er in diesem Buch etwa über die Massen las: „… der persönlichen Freiheit, der Unabhängigkeit des Wortes gegenüber verhalten sie sich gleichgültig; die Massen lieben die Autorität … sie fühlen sich noch beleidigt durch den unabhängig dastehenden Menschen; sie verstehen unter Gleichheit eine gleichmäßige Verteilung des Jochs; aus Angst vor Monopolen und Privilegien blicken sie das Talent schief an und erlauben nicht, dass ein Mensch etwas anderes tut, als das, was sie tun. Die Massen wünschen sich eine soziale Regierung, die für sie regiert … sich selbst zu regieren kommt ihnen nicht einmal in den Sinn …“

Natürlich, sagte Sebastian sich, der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, na und das Volkseigentum und die Volksgerichte … Das Volk regiere sich ja bereits selbst wie man sehen könne. Und Herzen habe sie ja als die Menschen der Zukunft längst beschrieben und angekündigt, als Vollender der Französichen Revolution: So erkannten sich die Parteikader in Herzens Schriften als Befreier der Menschheit. Man stelle sich dazu nur mal den Spitzbart vor, ging es Sebastian durch den Kopf, Ulbricht als Befreier und Vollender der Menschheit … Von Stalin ganz zu schweigen.

Dann wieder Herzen zum Kommunismus: „… kaum sahen die Massen die Morgenröte des ihnen Erlösung verheißenden Tages, so übersetzten sie die sozialen Lehren in eine andere viel rohere Sprache, sie machten den Kommunismus daraus, die Lehre von der erzwungenen Eigentumsentäußerung, die Lehre, welche das Individuum durch die Gemeinschaft aufhebt, welche an den Despotismus grenzt, indem sie vom Hunger emmazipiert …“

Alles was dieser anarchische Schriftsteller in seiner Schrift darlegte, meinte Sebastian und blickte dabei durch’s Fenster hinaus in einen grauen Himmel, der dort schlaff wie ein schmutziges Laken hing, klagte den gegenwärtigen ‚Sozialismus‘ ja an. Er wusste von der Schrecklichkeit und Grausamkeit der Französischen Revolution, aber, sagte er sich, was ist das schon gegen die Unvorstellbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen und der nicht minder furchtbaren des Stalinschen Kommunismus in unserer Zeit.

Die hohen Ideale eines Alexander Herzen erschienen ihm wie verwunschene Märchen aus einer längst vergangenen fernen Zeit.

Schließlich legte er das Buch beiseite als einer aus der Zelle fragte, was an dieser Schwarte denn so Besonderes sei?

„Ist doch immerhin ’ne Abwechselung“, sagte Sebastian. „Besser als immer nur unsere vollgestellte Rumpelkammer hier anzustarren.“

Siegfried bestätigte diese Meinung. „Man müsste sich Bücher aussuchen können“, sagte er. Sebastian stimmte dem zu. „Klar, wenn die hier im Bau ’ne Bibliothek haben, könnte man ja mal nachfragen was die so alles auf Lager haben.“

„Ich brauchte dazu ’ne Brille“, sagte der alte ‚Buntspecht‘.

„Durch’s ville Lesen wird man bloß doof“, winkte sein Sohn verächtlich ab.

„Das sind doch allet bloß so politische Schwarten, die se uns hier rinschmeißen.

Aber damit locken se doch keen Hund nich hintern Ofen vor.“

„Na, wenn wir bloß immer mal ’nen warmen Ofen hätten“, sagte Siegfried und betrachtete abfällig die paar Heizungsrippen neben der Tür, gegen die sich der alte Sawatzky auf seinem Hocker gerade wärmesuchend lehnte.

„Is’ auch heute wieder scheißkalt in die Bude“, bestätigte Arno. „Dabei kann man sich ja hier nich’ mal richtig warmloofen in unsere’ dünnen Plünnen.“ Und er zerrte dazu demonstrativ an seiner abgewetzten Jacke. „Keen Wunder, dass man hier friert.“

Und so zogen die Tage vorüber, ohne viele erinnerbare Spuren zu hinterlassen.

Jeder neue Tag begann mit dem Wecken durch den schrillen Schrei der Stahlschiene, unten neben dem Kommandoleiterzimmer. Auch der Blick durchs Gitterfenster zeigte Tag für Tag das gleiche Bild: Stets das frühe graublaue Morgenlicht bei verhangenem Himmel und dazu die Scheinwerfer und Lampen die die weißgetünchten Mauern anstrahlten. Und überall der Schnee auf dem Hof und den Dächern des Krankenreviers und des Wachturms, Schnee der schließlich auch wie ein weißer Pelzkragen auf der Mauerkrone lag.

Es kamen kalte Tage und die Gefangenen liefen in ihre Schlafdecken gewickelt durch die Zellen, Decken, die eigentlich akurat ausgerichtet auf den Betten hätten liegen müssen. Doch kein Schließer äußerte sich zu dieser Übertretung vorgegebener Ordnungsnormen, für die man genau so gut tagelang bei Wasser und Brot und ohne Strohsack in den ungeheizten Kellerarrest hätte geschickt werden können.

Im Winter im Keller auf nackter Pritsche, da mochte das einschneidende gesundheitliche Schäden nach sich ziehen. Das wussten alle, auch die Anstaltsleitung. Aber ganze Zellenbelegungen in den Arrest zu schicken war wiederum nicht möglich, waren diese Kellerverliese doch lange schon ausgebucht und so übersah die Zuchthausobrigkeit diese ordnungswidrigen Vorgänge schlicht.

Sebastian erinnerte sich, dass bei den Schikanen an heißen Sommertagen in den oberen Zellen, direkt unterm Dach, bei geschlossenen Fenstern die Luft knapp wurde. Gefangene gingen damals in den Kellerarrest, weil sie entweder die Fensterklappe spaltweit geöffnet hielten oder die Jacken in den überhitzten niedrigen Zellen nicht zugeknöpft trugen. Aber da war es wenigstens Sommer und auch in den Arrestzellen nicht eisig. Jeder wusste ja, dass bei den Protesten und Mörder, Mörder-Rufen aus den Fenstern damals, als auch Sebastian und Totila ihre Schüsseln gegen Tür und Fenstergitter geschlagen hatten, Gefangene massenhaft zu hohen Arreststrafen verurteilt worden waren. Das geschah im Frühjahr und jetzt war es Winter und weiterhin zogen Verurteilte in die immer mal wieder frei werdenden Arrestzellen. Wer Pech hatte war nun im Winter dran, immer in der Gefahr sich damit den Schaden fürs Leben einzufangen.

Kapitel 16

Eines Tages wurde der alte Sawatzky verlegt und Arno, der Sohn, blieb zurück.

„Da wer’ ich mein Vadder kaum noch sehn“, kommentierte er die Trennung.

Vom Kalfaktor erfuhr er, dass der Vater auf die andere Seite, also in eine der gegenüberliegenden Zellen verlegt worden war.

Der Sohn winkte ihm durchs Fenster bei dessen täglichem Rundgang zu.

Sebastian indes stieß sich am Wort „Verlegung“, als handelte es sich bei den Gefangenen nur um x-beliebige Gegenstände, die man dahin und dorthin legte und manchmal auch verlegte und nicht um lebende Menschen, mit ihren vielen differenten Schicksalen. Die Sprache, machte er sich klar, sagte schon viel über das Menschenbild eines politischen Systems.

Zwei Tage später stand Martin mit seinem Bündel in der geöffneten Zellentür und bezog dann das Bett des alten Sawatzky.

Martin Schüler erzählte auf Nachfrage, dass er von Beruf Elektriker sei und in Schwarzheide im Chemiekombinat gearbeitet habe. Verurteilt sei er wegen Totschlags zu zwölf Jahren Zuchthaus. „Ein Jahr ist ja schon rum“, sagte er grinsend. Als er bemerkte, dass alle ihn fragend ansahen, lachte er. „Na, mit Untersuchungshaft.“

„Untersuchungshaft? So lange?“, fragte Sebastian erstaunt.

„Die wollten mir ’nen Mord anhängen“, erklärte Martin Schüler.

„Und deshalb auch die hohe Strafe für Totschlag?“, fragte Siegfried ein wenig unsicher.

Der so Gefragte hob die Schultern und breitete ratlos die Arme aus. „Mein Anwalt hat auf Körperverletzung mit Todesfolge plädiert.“

„Hatten die was gegen dich?“, fragte Sebastian.

Martin nickte. „Könnte schon sein.“

„Na wie’n Totschläger siehste nich gerade aus“, stellte Arno Sawatzky fest.

„Richtig“, sagte Sebastian und die andern nickten. Keiner konnte sich vorstellen, dass dieser schlanke blonde Kerl mit dem intelligenten Gesicht jemanden absichtlich totgeschlagen haben sollte.

„Wie is ’n das passiert?“, fragte wieder Arno Sawatzky.

„Ich war Boxer“, antwortete Martin Schüler, „Bezirksmeister im Mittelgewicht …“

„Und da haste Ee’ n nich bloß ko jeschlagen“, unterbrach Sawatzky den Boxer, „sondern gleich janz mausetot?“

„Quatsch. Boxen ist doch ’n ganz normaler Sport. Nee“, fuhr Martin dann fort, „das war ganz anders. Zwei Kerle aus Schwarzheide, die ich kannte, hatten mich nach ’ner Tanzveranstaltung überfallen. Ich war alleine, als die mich als geilen Bock beschimpften und dann beide auf mich losgingen, der eine davon mit ’ner Latte in der Hand. Als der zuschlug, hatte ich mich weggeduckt. Angetrunken waren beide. Der Schlag ging vorbei, er stolperte über meinen Fuß und das hatte ihn mit dem eigenen Schwung umgeschmissen. Ehe der wieder auf die Beine kam, hatte ich den andern, einmal Leber, einmal Kinnspitze außer Gefecht gesetzt, wie ich glaubte. Der fiel auch gleich um. Der andere, der mit der Latte, rannte davon. Das war erst mal alles.“

„Und der ko-Geschlagene blieb liegen?“, fragte Sebastian.

„Ja natürlich. Man konnte da aber auch nicht gut sehen. Die Straßenlaterne stand ein Stück entfernt. Aber so was kannte ich ja auch. Der wird gleich wieder auf die Beine kommen, sagte ich mir.“

„Und dann ist der nicht mehr aufgestanden?“, erkundigte Siegfried sich.

Martin, der Boxer, nickte. „Richtig“, sagte er, „, damit hatte ich aber nicht rechnen können …“

„Und was war dann mit dem ko-Gegangenen?“, unterbrach Sebastian den Boxer.

„Der war tot, mit ’m Kopf auf ’ne Bordsteinkannte gefallen, doch so haben die mir’s beim Verhör nicht gesagt. Das Ganze ging aber schon am selben Abend los. Und wenn man’s richtig nimmt“, dazu winkte er ab, „schon seit Wochen.

„Die beiden“, fuhr er nach kurzer Pause fort, „es waren da im Saal anfangs noch drei andere mit von der Partie gewesen, doch die beiden stänkerten schon den ganzen Abend. Und als dann bei der Damenwahl“, sagte er lachend, „gleich drei der schönsten Mädels mit mir tanzen wollten, waren vor allem die beiden Stänkerer ziemlich sauer.“

„Det globe ick schon“, ließ Arno Sawatzky sich hören, „So ’n jutaussehender sportlicher Typus“, dazu wies er mit der Hand auf den jungen Bezirksmeister im Mittelgewicht, der dort gegen einen Bettpfosten gelehnt stand. „Klar, da waren die sauer, kann ick mir jut vorstellen. Und dann die Weibsstücke hinter dir her“, wandte er sich an den Boxer. „Und die Blödköppe haben an den Abend nischt abjekriegt.“

„Beide waren FDJ-Funktionäre, hauptamtlich bei der Kreisleitung“, gab der Boxer zu bedenken. Und einer von denen, offizieller SED- Kandidat.“

„Na da brauchste dir nich zu wundern“, trumpfte Sawatzky auf.

„Und du warst kein FDJ-Mitglied?“, fragte Sebastian.

„Doch, war ich. Wenn ich weiter boxen wollte, musste ich das. Ich hätte ja sonst schon gar nicht um die Bezirksmeisterschaft kämpfen dürfen.“

„Sag’ bloß“. Sebastian blickte vom Schemel, auf dem er inzwischen saß, erstaunt zum Boxer hoch, der langsam und nachdenklich zwischen den Betten die wenigen Schritte auf und ab ging, schließlich bei Sebastian stehen blieb und nickte.

„Klar“, sagte er dann, „Vor ’nem Kampf um die DDR-Meisterschaft“, das wurde mir lange im voraus mitgeteilt, „müsste ich mich schon um eine SED-Kandidatur bemühen.“

„Kandidat?“, fragte Sebastian und wiegte den Kopf. „Also wenn du den Kampf verlierst, bleibst du weiter Kandidat und wenn du gewinnst, wirst du Parteimitglied …?“

Martin, der Boxer, nickte wieder. „Durchaus möglich, dass das so abläuft, wenn ich mitgemacht hätte.

Ohne Bewerbung um eine Partei-Kandidatur, hätte ich gar nicht erst bei ’ner DDR-Meisterschaft antreten dürfen.“

„Ist denn das überall so? Ich meine auch bei anderen Sportarten?“

„Weiß ich nicht. Ich denke schon, aber Ausnahmen wirds auch ’ne Menge geben. Das ist doch immer und überall so.“

„Wieder diese beschissene Willkür“, schimpfte Siegfried mit etwas gedämpfter Stimme. „Auf nichts kannst du dich berufen, wenns drauf ankommt. Du bist immer im Unrecht, sitzt stets am kürzeren Hebel, bist unsicher und hast dauernd Angst.“

„Den Sport beginnen die mächtig aufzublasen“, erklärte Martin. „Das soll wohl so was wie ein internationales Aushängeschild werden. Ich erinnere mich noch gut. Keiner hatte mir vorher was gesagt und plötzlich wurde ich fürs Training von der Arbeit freigestellt, sozusagen von jetzt auf gleich. Aber es stimmt schon“, fuhr er nach einer Weile fort und nickte nachdenklich. „Ich habe in der Kneipe öfter mal zu viel gequatscht.“

„Du weißt aber, dass du immer beobachtet worden bist?“

„Das haben die mir beim Verhör schon klar gemacht. Ich hätte keinen guten Ruf, haben die mir gesagt und genau aufgezählt, wo ich was gesagt haben soll …“

Sebastian lachte. „Als gewissermaßen künftiger Hoffnungsträger im DDR-Sport waren die wohl ziemlich enttäuscht von dir.“

„Aber das schönste am Ganzen“, sagte Martin, „ist ja, dass der, der damals weggerannt war, der mir die Latte über die Rübe ziehen wollte, ausgesagt hat, ich hätte sie beide als Kommunistenschweine beschimpft, ehe ich den einen totschlug. Ich hatte aber gar nichts gesagt, mich nur verteidigt. Schließlich hatte nicht ich angegriffen, sondern wurde angegriffen.“

Sebastian wiegte wieder den Kopf. „Wir glauben dir das natürlich alle hier. Aber offiziell steht da Aussage gegen Aussage und dabei hattest du schlechte Karten gegen einen FDJ-Funktionär und SED-Beitritts-Kandidaten, der du nicht werden wolltest.“

„Das weiß ich jetzt auch“, sagte Martin. „Ich habe die Partei mitsamt dem Kommunismus diffamiert und einen FDJ-Funktionär erschlagen. So was nennt man einen Staatsfeind und Mörder haben die mir beim Verhör gesagt. Das Gericht machte dann in offensichtlich milderer Stimmung lediglich einen Staatsverleumder, Volksfeind und Totschläger aus mir.“

„Na klar“, sagte Sebastian grinsend, „du hast Vertreter des Arbeiter- und Bauernstaats beleidigt, als Kommunistenschweine beschimpft und einen davon sogar erschlagen. Da hast du noch Glück gehabt, dass die dir nicht wirklich einen Mord angehängt haben. Nicht die haben dir, sondern du hast den beiden aufgelauert. So hätte es auch vor Gericht heißen können … Und wie wolltest du dagegen ankommen? Und wer hat dich eigentlich verhört, die Kripo?“

„Nee, die Stasi. Bei der Kripo war ich nur ganz zu Anfang …“ „Sportler, also Boxer“, sagte Sebastian, „vielleicht geltet ihr schon ab ’ner Bezirksmeisterschaft als Vorbilder in der Öffentlichkeit und bei der Jugend. So seid ihr also auch Funktionäre. Du hattest das wahrscheinlich nicht richtig kapiert und gedacht die schenken dir Trainingsstunden während der Arbeitszeit.

Denk dabei doch nur mal an diesen Radfahrer … wie heißt der doch gleich?“ Dazu schlug Sebastian sich mit der flachen Hand gegen die Stirn „Täve, glaube ich“, sagte er, „, ja, Täve Schur. Der ist inzwischen Mitglied der Volkskammer. Solche Leute woll’ n die haben und nicht so einen wie dich. Ich könnte mir sogar vorstellen“, sagte Sebastian etwas nachdenklich, „dass die deine Angreifer dazu aufgefordert haben, den großen Boxer mal auf ’s Pflaster zu schicken und dann das!“ Er schüttelte den Kopf. „Also diese Panne, das nehmen sie dir übel. So hatten die nicht gewettet.“

„Aber nee … das kann ich mir so nicht vorstellen“, warf Siegfried, der eine ganze Weile nur zugehört hatte ein. „Ich meine, dass du in die FDJ eintreten musstest, wenn du um eine Bezirksmeisterschaft boxen wolltest … oder auch in die Partei bei ’ner DDR-Meisterschaft? Nee“, betonte er, „das glaube ich so nicht!“

„Du musst natürlich nichts glauben“, entgegnete der Ex-Boxer, „überhaupt nichts. Es wird dir nur ganz intern nahegelegt. Nicht von der Partei, sondern nur vom Trainer und später von den Sportfunktionären.“

„Also doch nicht gezwungen, das sagst du ja selbst.“

Martin schüttelte den Kopf. „Gezwungen“, sagte er, „wie stellst du dir das vor?

Im Sport, das ist wie in der Kunst, da gibt es keine festgelegten Normen, die einer erfüllen muss …“

„Doch“, widersprach Siegfried, „im Sport gibt’s Sekunden, Punkte, Tore, Siege …“

„Ja, die nur Sportler selber setzen können, nicht der Staat.“

„Übel nehmen sie dir’s schon“, mischte Sebastian sich ein, „nämlich wenn du’s könntest und nicht willst, also das Ansehen der DDR im Volk und möglichst in der Welt zu mehren.“

Martin, der Ex-Boxer lachte. „Na ja“, sagte er, „aber eine Bezirksmeisterschsaft ist keine DDR-Meisterschaft. Dort geht’s dann international zu und hat mit der Mehrung des DDR-Ansehens durchaus zu tun.“

„Es ist aber auch immer schon so“, sagte Sebastian, „dass Diktaturen den Sport hochjubeln. Das begann spätestens bei den Römern, dann bei Hitler, bei Stalin und jetzt bei Ulbricht. Es ist wohl besser“, fügte er nachdenklich hinzu, „man kommt in der Kunst oder im Sport gar nicht erst so weit, dass man auffällt und politisch erpreßbar wird. Das hättest du bedenken sollen“, wandte er sich an Martin, den Ex-Boxer.

Der nickte zustimmend. „Nachher weiß man immer alles besser.“

Das Gespräch zum Thema verebbte allmählich. Die Zelleninsassen versanken wieder in Schweigen, starrten vor sich hin oder saßen mit geschlossenen Augen auf ihren Hockern gegen einen Bettpfosten oder die Heizungsrippen gelehnt.

Schließlich erwies es sich als nicht möglich den ganzen Tag redend zu verbringen. Auch wurden nach Wochen die Themen knapp. Sebastian hatte anfangs noch erstaunt bemerkt, dass Menschen oft nur relativ wenig zu erzählen wussten, auch ältere, die seiner Meinung nach doch einiges erlebt haben mussten, an das sie sich aber nicht selten nur sehr bruchstückhaft erinnern konnten. So manches von dem man annehmen durfte, dass es ihr Leben geprägt haben musste, hatte, wie Sebastian es immer wieder erfuhr, in ihrem Bild von der Welt nur wenige Spuren hinterlassen, so als hätte das Erlebte sie nie wirklich erreicht.

Anfangs hatte er sich noch geweigert diese Feststellung als Tatsache zu verbuchen, in der Annahme, er sei vielleicht mit Überheblichkeit geschlagen. Doch bald war ihm klar geworden, dass er solche Einsichten dem Aufeinanderhocken in diesen beengten Zellen über viele Wochen zu verdanken hatte, weil es dort kein Ausweichen oder Abwenden gab und jeder durchsichtig werden musste.

Auf eine solch entblößende Konstellation stößt man im normalen Leben natürlich nicht so leicht.

Sebastian ging langsam zum Fenster, blickte hinaus in den verschneiten Hof und über die Mauer hinweg in die zugeschneiten Kleingärten mit den Lauben, in denen auch im Winter Leute hausten. Da und dort kräuselte sich aus Ofenrohren und Kaminen weißlicher Rauch in den tiefgrauen Himmel, dessen Licht den Tag, die Zelle und die Gemüter der Gefangenen kaum erhellte.

Und so zog dann auch bald Sebastian mit seinem Hocker und Herders „Über den Ursprung der Sprache“, ein Buch, das er vom Bücherkalfaktor hatte ergattern können, ins karge Licht, das durchs Klappfenster in die Zelle fiel. Dort erst konnte man, wenn überhaupt, in einem Buch lesen, da die Zelle sich an solchen Tagen als schwarzes Loch erwies.

Inzwischen gab es einen Bücherkalfaktor, der wegen Wirtschaftsvergehens, worunter alles mögliche verstanden werden konnte, zu 8 Jahren verurteilt worden war. Buchhändler im Zivilberuf, lang und dürr, Mitte, Ende Vierzig, von dem Sebastian erfahren hatte, dass die Gefangenenbibliothek über so gut wie alle deutschen und russischen Klassiker verfügte, auch einige französische und englische … Eine Gelegenheit, meinte Sebastian, sich ausführlich mit dieser Literatur zu beschäftigen und damit hatte er dann dort auf seinem Hocker unterm Klappfenster mit Herder begonnen, mit Herders Vorstellung von der „Entstehung der menschlichen Sprache“, die ja nicht einfach so da war.

Und Sebastian überlegte dabei von Herder angeregt, wie die unendlich vielfältige ungezähmte Natur die Vorstellungswelt des ganz frühen Menschen geprägt haben mochte. Wie diese Vorstellungswelt dann eine zunehmend vergleichende wurde und wie es schließlich zur Benennung von Gegenständlichem kam, unabhängig von dessem unmittelbaren Vorhandensein. Ein Faustkeil, ganz gleich wie groß oder klein, wie kantig oder glatt der war, blieb immer ein Faustkeil, sagte er sich, ganz gleich auch wo und wann, also immer vergleichbar mit der abstrahierten Vorstellung eines Faustkeils.

Der erste Schritt zur Benennung, zur Sprache. Für die unübersehbare Vielfalt der Natur fand man einfache Ordnungsrahmen. Irgendwann, machte Sebastian sich klar, erkannte der Mensch überall in der Natur den rechten Winkel und das war ganz sicher wesentlich, denn er erkannte ihn in noch so starker Verzerrung, fand das Quadrat, den Kubus … begann die verzerrt verschlüsselte Natur selbst übersichtlich zu formen, zu benennen und wirkte so auf sie zurück. Und so entstand allmählich auch schlecht und recht die von den Menschen für die Menschen gemachte Welt.

Sebastian saß, das Buch auf den Knien, die Ellenbogen auf die Schenkel gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben … Weit war er schon weg, nicht nur von Herders Überlegungen, sondern auch weit weg aus dieser düsteren Zelle. Das waren längst keine tagespolitischen Vorstellungen mehr denen er nachhing. Es ging ihm um die Klärung eines Standpunkts den er brauchte, um seine eigene Lage zu begreifen.

Die Welt, so sagte er sich, bewegte sich aus Gegensätzen … Das so genannte Gute musste nicht immer gut sein und das Böse nicht stets böse … Das eine gab es ohne das andere nicht. Es war ihm in seiner Lage aber nicht möglich sich das zusammen zu suchen und nachzulesen, was er benötigen würde, um seinen Standpunkt wie er ihm im ersten Moment erschien, zu begründen. Dafür würde die Bibliothek hier wohl nicht reichen und zum Schreiben hatte er auch nichts, wo schon jeder Bleistiftstummel Arrest bedeutete.

So musste er selbst fast wie ein Frühmensch, so sah er sich, mit dem Begreifen der Welt von vorn beginnen: Absolute Gegensätze, meinte er, seien gleichen Ursprungs und gleicher Wirkung. Er nahm das als Ausgangsbasis, als Standpunkt, als eine These die ihm einen weiteren Ausblick ermöglichen sollte.

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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
1021 s. 3 illüstrasyon
ISBN:
9783957448019
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