Kitabı oku: «Auf der anderen Seite der Schwelle», sayfa 6
Kapitel 6
Nach verregneten Wochen und einigen folgenden feuchtheißen Tagen, die den Gefangenen in den Zellen die ohnehin schon knappe Luft zum Atmen nahmen, setzte Anfang Juni wieder Regen ein.
Für Fußballspiele hatten sich Sebastian wie auch Totila draußen nie interessiert.
Sie wussten nur, dass zu einer Mannschaft elf Spieler einschließlich Torhüter gehörten; das war’s im Grunde auch schon. Seit Tagen aber ging ein von den Kalfaktoren in Gang gehaltenes Raunen durch die Zellen: Die westdeutsche Mannschaft stehe im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft in Bern, gegen die Mannschaft der Volksrepublik Ungarn. Da wurde den beiden Freunden schon klar, dass es dort um mehr als nur ein Fußballspiel ging. Vor allem nahm die Mannschaft der kapitalistischen Bundesrepublik zum ersten Mal nach dem verlorenen Krieg wieder an einer Weltmeisterschaft teil und war, wider Erwarten so mancher Nation, bis ins Endspiel gelangt. Die Symbolik war nicht aus der Welt zu schaffen. Der entscheidende Tag rückte näher und das Raunen wurde lauter, denn es mischten sich nun auch die Schließer mit ein. Es wunderte niemanden, dass sie ausschließlich den Ungarn die Daumen drückten und sich von deren Sieg überzeugt gaben. Von einigen wenigen Häftlingen abgesehen, in aller Regel Spitzel oder solche die sich von laut vorgebrachten Äußerungen für Ungarn dummerweise etwas versprachen, standen die Gefangenen, einschließlich krimineller, soweit die sich äußerten, hinter der bundesdeutschen Elf. Deren Sieg wurde in den Zellen ersehnt und beschworen.
Fernsehen gab es zwar schon, wenn auch weniger in der DDR, aber dort behalf man sich statt dessen mehr mit Radioübertragungen, natürlich auch in den Wachstuben von Zuchthäusern und Gefängnissen.
Am Tage der Entscheidung sei es in Bern, wie von den Kalfaktoren auf den Fluren zu hören war, recht regnerisch und deshalb von Vorteil für die deutsche Mannschaft. So hieß es wenigstens. Weshalb das so sein sollte, konnte in der Zelle niemand sagen.Vom Spielverlauf drang dann auch kaum etwas zu den Gefangenen. Selbst die Kalfaktoren hatten nichts zu berichten, denn von den wenigen Schließern, die sich während des Spiels hin und wieder kurz auf den Gängen zeigten, war über dessen Verlauf im fernen Bern ganz offensichtlich nichts zu erfahren.Und keiner konnte deshalb auch wissen, wann dieses Spiel zu Ende sein würde. Bei einem Unentschieden gäbe es ja Verlängerungen und schließlich auch noch das Elf-Meter-Schießen … Sebastian, der zufällig am Fenster stand und daraus eben so zufällig hinunter auf den Hof blickte, sah dort einen Hofarbeiter neben einem Parterrefenster und einer Wassertonne an der Wand des Krankenreviers lehnen. Das war nichts von Bedeutung und Sebastian hätte sich vom Fenster auch bald wieder abgewandt, wenn er nicht im letzten Moment, gerade noch eben aus den Augenwinkeln, diesen Hofarbeiter gesehen hätte, wie der plötzlich die geballten Fäuste in den Himmel stieß und dann mit einem Satz in die volle Wassertonne sprang.
Diese Handlung ließ nur einen Schluss zu. Sebastian wandte sich in die Zelle um.
„Deutschland hat gewonnen“, sagte er. „Eben ist dort unten ein Hofarbeiter in eine volle Regenwassertonne gesprungen.“
Die andern drei stürzten ebenfalls ans Fenster, aber da stand der Hofarbeiter plitschnaß bereits wieder neben der Tonne
„Woher konnte der das wissen?“, fragte Totila.
„Na wenn jemand in eine volle Wassertonne springt“, entgegnete Sebastian, „dann wird er’s gewusst haben. Ich denke, das wird ihm einer durch’s Parterrefenster im Revier geflüstert haben. Er stand ja dort neben dem letzten Fenster gegen die Wand gelehnt.“ „Ich meine auch“, meldete der Ingenieur sich, „wenn einer zu einem bestimmten Zeitpunkt in eine Wassertonne springt, dann sagt das etwas über den Zeitpunkt aus. Und was ist im Moment für uns alle hier wichtig? Also wird es schon stimmen: Deutschland ist Fußballweltmeister. Ein für Nachkriegsdeutschland wichtiges Ereignis“, setzte er nachdenklich hinzu.
Auch Sebastian freute sich darüber. „Noch wissen wir’s nicht genau“, sagte er.
Aber weshalb ein Spiel, also ein Fußballspiel, so wichtig für Deutschland sein sollte, das konnte er sich nicht erklären.
Durch’s enge Fenster fiel der Blick Sebastians von seinem Hocker am Tisch aus in regenschwere tiefhängende Wolken. Davor hatte es wieder mal wenige feuchtheiße Tage mit Sonnenschein gegeben, sodass vor allem an den Abenden nebliger Dunst aufgestieg, um dann jeden Morgen als Hochnebeldecke grau und trist über dem Land zu liegen. Spät, meist erst gegen Mittag, gelang es der Sonne diese Nebeldecke aufzulösen. Dann hatte auch bald wie schon Wochen zuvor der Regen wieder eingesetzt. Durchs Fenster fiel nur wenig trübes Licht.
Es gab eine Gefangenenbibliothek und es gab Bücher, aber kein Verzeichnis über die Bestände. Und so wurden etwa alle drei Wochen bei der Vier-Mann-Belegung der Zelle wahllos vier Bücher von einem Wagen abgeladen, auf dem sonst Suppenkessel transportiert wurden, und in die Zelle gegeben. Wer kein Buch wollte, brauchte das bloß zu sagen.
Sebastian hatte eines dieser Bücher, einen sowjetischen Heldenroman, auf sein Bett geworfen. Im hinteren Teil der Zelle war es inzwischen zu dunkel geworden, um noch lesen zu können. Im Gang zwischen den Betten direkt unter dem Fenster saßen Totila und ein Neuzugang lesend über Bücher gebeugt. Dazu reichte das Licht gerade noch. Der Ingenieur hockte auf einem Schemel gegen den kalten Heizkörper gelehnt, schwieg und starrte abwesend auf die zerkratzte olivgrüne Ölfarbe der Wand. Keiner sprach ein Wort.
Es war ein Nachmittag, Anfang Juli 54, als das Krachen eines Schlosses ganz in der Nähe die Zelleninsassen aus ihrer Versunkenheit riß.
„Das ist ja genau gegenüber …“, sagte Totila und alle lauschten an der Tür und hörten dort die Stimme eines Schließers: „Lassen sie die Sachen ruhig liegen.“, und nach kurzer Pause: „Da wo Sie jetzt hinkommen brauchen Sie keine Sachen mehr.“
„Das ist doch der Anstaltsleiter“, flüsterte Totila.
Dann vernahmen sie Schritte mehrerer Personen und das Klirren von Metall auf Metall, schließlich wieder das Krachen eines Schlosses, das Schmettern des Riegels und das verlorene Poltern eines einzelnen Holzschuhpaares, Schritte die sich entfernten … Das Schließgeräusch und Klappern der Gittertür zur Treppe war noch zu hören und das Klacken der Holzsohlen auf den Granitstufen, dumpfer, und weiter und immer weiter weg …
Alle in der Zelle standen wie versteinert.
„Das war doch der Fluglehrer“, sagte Sebastian leise mit seltsam gepreßter Stimme.
„Pfui Deibel!“, empörte der Ingenieur sich. „Du hast Recht“, wandte er sich an Sebastian, „diese Stimme kenne ich. Das ist das Schwein, der Anstaltsleiter. Die Sprüche hätte er sich weiß Gott ersparen können.“
„Wo bringen die den hin? fragte Totila.
„Nach Dresden“, antwortete der Ingenieur. „Das habe ich vom Kalfaktor“, fügte er hinzu, als alle ihn fragend ansahen. „Da steht noch die Nazi-Guillotine, das ist bekannt.“
„Mann oh Mann! Der hatte Mut und wirklich was gewagt“, warf Sebastian ein und spürte dabei wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken bis in die Haarwurzeln kroch und Wut in ihm aufstieg. „Unter die Guillotine gehören ganz andere!“, stieß er hervor.
Totila und der Neuzugang stimmten ihm energisch nickend zu.
Dagegen bin ich ein winzig kleines Licht, ging es ihm durch den Kopf. Dieser Fluglehrer ist für die Freiheit, die Freiheit des einzelnen in der Demokratie, mit seinem Leben eingetreten. Vielleicht hört sich das kitschig an, sagte er sich, aber nur, weil mit diesen Begriffen überall Schindluder getrieben wird.
„Unter die Guillotine gehören andere?“, fragte der Ingenieur und sah dabei Sebastian an. „Ja“, fuhr er dann fort, „aber ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass so etwas je eintreten würde wenn es anders herum käme? Anerkennung und Würdigung von außergewöhnlichen politisch motivierten Taten sind mehr als rar in der Weltgeschichte. Ich würde sagen, das gibt es nicht. Es sei denn, es ließe sich politisch ausschlachten und missbrauchen, aber mit Würdigung hätte das dann nichts mehr zu tun.“
„Mag sein“, sagte Sebastian und nickte zustimmend. Dann lief er im Gang zwischen den Betten die wenigen Schritte ein paar Mal auf und ab und ließ sich dann auch auf den ihm zustehenden Hocker fallen.
Alle saßen dann an diesem regentrüben Nachmittag auf ihren Schemeln am Tisch, gegen den Heizkörper oder einen Bettpfosten gelehnt, starrten bedrückt vor sich hin, das Kinn auf der Brust wie etwa der Ingenieur und schwiegen.
Jeder mehr oder weniger angerührt vom Schicksal des eben aus der Zelle geholten Todeskandidaten: Dort wo Sie jetzt hinkommen, brauchen Sie keine Sachen mehr …
Nach Dresden, ging es Sebastian durch den Kopf, zur Hinrichtungsstätte der Nazis. Was für eine Fahrt im Grotewohl-Express, in diesem engen Metallkasten.
Alles was dann noch geschieht ist so ziemlich das Letzte im Leben … Vielleicht noch die kommende Nacht, vielleicht noch ein nächster Morgen … Dieses ganze selbstgerechte Verbrechergesindel, sagte er sich und hielt es auf seinem Hocker kaum noch aus. Immer wieder kochte Wut in ihm hoch. Ein, zwei Stunden Laufen, Bewegung, dann würde es ihm besser gehen, aber in der Enge dieser Zelle konnte er nur sitzen bleiben auf diesem Hocker oder sich mit drei, vier Schritten hin und her faktisch im Kreise drehen.Wenn überhaupt laufen, dann mussten es, die Hocker auf den Tisch gestapelt, alle tun. Doch nicht allen war offensichtlich nach diesem Schock zum Laufen zu Mute.
Nach einer Weile gab der Neuzugang, ein wegen aufhetzerischer Reden nach Artikel 6 zu acht Jahren verurteilter junger Chemiker, zu bedenken, dass das mit dem Fluglehrer ganz sicher eine scheußliche Sache sei. „Aber ich habe“, fuhr er dann fort, „von noch Irrsinnigerem gehört. In Leipzig“, sagte er, „ich hatte dort an der Uni gerade mein Examen gemacht, so im Oktober fünfzig, als ein jüngerer Kommilitone verraten wurde: Herbert Belter. Ich kannte ihn nur vom Sehen.
Der hatte Flugblätter aus dem Westen verteilt und wurde geschnappt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Wahrscheinlich auch in Dresden, setzte er hinzu.
Und das war längst nicht der einzige.“
„Herbert Belter?“, sagte Totila und schüttelte den Kopf, „hab’ ich nie gehört.“
„Davon hat bisher überhaupt niemand was gehört“, stimmte Sebastian seinem Freund zu. „Auch im Westen wird so was unter den Teppich gekehrt. Man will ganz offensichtlich eine Empörung der Bevölkerung vermeiden.“
„Empörung?“ Totila schüttelte den Kopf. „Das glaubst doch nur du. Denen im Westen ist das alles viel zu weit weg. Und wenn die von solchen Geschichten hören sollten, dann ist das dort irgendwo bei den Russen passiert. Und vom Todeskadidaten hier, von seinem Schicksal, wird kaum jemand was erfahren.“
„Ich denke, wenn einer so was tut“, warf Sebastian ein, „dann sollte er das nur, wenn er’s auch für sich selber tut.“
„Das ist logisch“, bestätigte Totila diese Überlegung.
„Aber Flugblätter, damit hatten wir ja nebenbei auch zu tun“, warf Sebastian nach einigem Schweigen ein. „Und wir sind, ich denke nachträglich kann man das durchaus so sagen, ganz glimpflich davon gekommen. Also ich meine, die Kirche hat uns allein schon mit dem Erscheinen ihrer führenden Vertreter bei der Gerichtsverhandlung geholfen.“
„Das mit der Kirche ist wahrscheinlich richtig“, ließ der junge Chemiker sich hören. „Andererseits aber verstehen die Russen da keinen Spaß und die habt ihr ja, wie ich von euch hören konnte, hauptsächlich im Visier gehabt. Die DDR hat euch immerhin nicht ausgeliefert. Vielleicht hat euch auch das mit das Leben gerettet.“
Totila nickte nachdenklich. „Ich denke das auch nur, weil ihnen die Kirche im Wege stand. Mit einem Todesurteil, muss ich allerdings zugeben, hatte ich nicht gerechnet.“
„Ich eigentlich auch nicht wirklich …“, sagte Sebastian. „Fünfzehn Jahre, damit musste man schon rechnen. Und lebenslänglich?“ Er hob die Schultern, „Auch“, sagte er. „Aber Todesstrafe?“ Er schüttelte den Kopf.
„Die hatten schon genau so junge Kerle hingerichtet. Dann war euer ganzes Handeln aber ziemlich leichtsinnig“, sagte der Chemiker. „Der Fluglehrer“, fuhr er fort, „der wusste bestimmt was er wagte.“
„Niemand wird’s ihm danken“, warf der Ingenieur dazwischen. „So geht’s nun mal in der Politik zu. Man hat euch ja im viel gelobten Westen auch nicht gesagt, dass auf euch auch die Guillotine oder der Genickschuß warten könnte. Das gab’s schon für weniger und für noch jüngere Grünschnäbel als euch.“
Dass man dem Tod möglicherweise nicht so ganz ferne gestanden haben könnte, ließ jedenfalls Sebastian denn doch heimlich eine Gänsehaut über Rücken und Arme laufen. Was hattee dieser Sasse sich bei seinem Verrat eigentlich gedacht … Eine Karriere über die Leichen seiner Freunde?
Kapitel 7
Wochen waren vergangen. Sebastian und Totila waren eines Tages miteinander von der Revisionszelle in eine Zelle endgültig verurteilter Strafgefangener verlegt worden. Das war dann ganz ohne jedes Aufsehen geschehen.“
„Der Schwindel ist aufgeflogen“, hatte Sebastian das lediglich kommentiert.
„War doch längst zu erwarten. Die hatten nach Monaten bei Gericht nachgefragt und nun sind wir hier.“ Totila wies dazu mit großartiger Geste in die leere Zelle. „Bloß wir beide“, er drehte sich einmal um sich selbst, „und so großzügige Wohnverhältnisse.“
„Schön wär’s. Mal seh’n was wir hier reinkriegen …“
Und schon am nächsten Tag waren wieder zwei Neue mit ihren Bündeln in den Armen eingezogen.
Bei dem häufigen Kommen und Gehen, diesem ständigen Wechsel in den Zellen, trafen zwar viele Menschen aufeinander, aber nur wenige lernten sich dabei wirklich kennen. Sebastian war klar geworden, dass er nach Jahren ein Panoptikum von Gesichtern und Gestalten würde aufrufen können, für die es in seiner Erinnerung aber keinen dauerhaften Ort geben dürfte. Man saß manchmal aber auch wochenlang mit älteren und jüngeren Männern Tag und Nacht ohne Abstand auf engstem Raum zusammen, also in überbelegten Zellen, in denen man Nahrung zusammen einnahm und zusammen auch wieder ausschied, in einem stets streng einzuhaltenden zeitlich geregelten Rhythmus.
Und so drang schließlich wieder mal das dröhnende Geräusch abgestellter Metallkübel zuvor schon im Eingangsbereich des Zellenhauses und nun auf die Fliesen am Treppenabsatz der Station.
„Schon wieder Mittag“, sagte einer.
Danach folgte auch bald das Krachen der Schlösser den Gang entlang und das Schmettern der Riegel von Tür zu Tür.
Zwei Kalfaktoren schoben einen verbeulten khakifarbenen KVP-Kübel auf einem flachen Karren über den Gang von einer Zelle zur nächsten. Dort standen dann alle Insassen zusammengedrängt mit ihren Aluminiumnäpfen vor der offenen Zellentür. Einer der Kalfaktoren schöpfte schließlich heiße wässrige Weißkohlsuppe in die hingehaltenen Schüsseln. Jeder stellte seinen Napf dann schleunigst auf dem Tisch ab, verzog das Gesicht und pustete auf die schmerzenden Fingerspitzen. Aber noch bevor alle mit Händeschwenken und Pusten fertig waren krachte auch schon die Türe wieder ins Schloss und Riegel klirrten davor.
„Wenn der Fraß mal so gut wäre wie er immer heiß ist“, murrte einer.
Ein anderer fauchte: „Heißes Wasser“, und rührte dazu mit dem Löffel im Napf herum.
„Demnächst gibts heiße Luft“, schimpfte ein anderer.
„Ein Pfund Knochen auf hundert Liter Wasser. Wenn das so weiter geht, wirste krank“, wandte er sich an Sebastian, der erst vor drei Tagen mit Totila neu in diese Zelle verlegt worden war, setzte sich auf einen Schemel, zog ein Hosenbein hoch und drückte mit dem Daumen auf die nackte Wade. „Siehste“, sagte er. Zurückgeblieben war eine deutlich sichtbare weißlich abgesetzte Delle in der Haut. „Wasser“, sagte er und zog das Hosenbein wieder darüber.
„Wasser?“, fragte Totila, „da stimmt doch was am Herzen nicht.“
„Ja gut, aber wenn’s hier schon seit Monaten bloß heißes Wasser zu Mittag gibt …“ Schließlich saßen alle gedrängt um den Tisch und löffelten das inzwischen abgekühlte lumige Wasser aus den Aluminiumschüsseln. Hin und wieder fand sich auch ein verkochter Weißkohlstrunk darin.
„Schmeckt nach nischt die Plirre, ohne Salz wie Abwaschwasser. Wenn man wenigstens ’n bisschen Salz hätte …“
„Salz speichert Wasser“, entgegnete einer.
„Aber ohne Salz geht man auch kaputt“, warf Totila ein.
Die beiden zu ihrem eigenen Erstaunen noch immer in einer Zelle vereinten Freunde, kamen gar nicht dazu sich die Namen der jeweiligen Zellengenossen nachhaltig zu merken, da inzwischen alle paar Tage Verlegungen stattfanden und man Menschen und Namen oft kaum noch zusammenbringen konnte.
Nicht zuletzt auch, weil die Revision mancher Zelleninsassen abgelehnt oder auch gar nicht erst eingelegt worden war und sie deshalb in Normalzellen verlegt werden mussten. Und mit fast allen der Häftlinge, mit denen man für kurze Zeit eine Zelle geteilt hatte, traf man nie wieder zusammen. Doch auch der Nachschub frisch Verurteilter, darunter viele Artikel 6er mit hohen Strafen, riß nicht ab und füllte leere Betten in den Zellen sehr schnell wieder auf, sodass diese kaum einen Tag unbelegt blieben.
Eines Tages lief der Stationskalfaktor draußen auf dem Gang entlang und klopfte gegen die Zellentüren. „Es gibt neues Stroh“, rief er dabei. „Alle Strohsäcke in den Lichtschacht werfen!“ Dann erklang auch schon das Krachen der Schlösser und Klirren der Riegel auf allen vier Stationen fast gleichzeitig und kam näher, bis auch ihre Zellentüre aufflog. Die häckselgefüllten Strohsäcke hatten die Zelleninsassen bereits aufgestapelt und warfen sie dann in hohem Bogen über das Eisengeländer in den Lichtschacht, aus dem man die Fangnetze genommen hatte. Von dort ganz unten stiegen dann dichte Staubwolken auf.
Die Zellen der obersten Station waren ja niedriger und die Fenster lagen deshalb tiefer, sodass man gut über die Mauer blicken konnte. Sebastian stand dort, sagte: „Da kommt das Stroh“, und wies mit der Hand durch die Gitterstäbe auf einen mit Strohballen hochbeladenen LKW, der von ganz hinten über die lange Auffahrt gemächlich herangerollt kam.
Alle traten ans Fenster und beobachteten das Auto, aber auch die Vorgänge direkt unten im Hof, in den Häftlinge die alten Strohsäcke schleppten. Andere entleerten sie eilig in einen bereitstehenden Hänger. Auch wenn an diesem Tag kaum ein Wind ging, reichte ein leichter Luftzug aber schon aus, um Wolken von Staub ganz sachte in die Höhe zu treiben. Der LKW mit den Strohballen passte augenscheinlich nicht in die Durchfahrt, das konnten sie von dort oben aus noch erkennen, weil auch die Ballen einzeln oder zu zweit auf Karren von Häftlingen in den Hof gebracht werden mussten. Dann schlossen sie des feinen Heckselstaubs wegen die Fensterklappe.
Schließlich wurden die von Häftlingen neu gestopften Säcke ganz unten im Lichtschacht gestapelt und Zelle für Zelle holten deren Insassen sich diese voluminös gewordenen Strohsäcke dann ab.
„Ganz toll“, sagte Sebastian und grinste, als jeder seine Schlafstatt von ganz unten hoch in die Zelle geschleppt hatte „jetzt müssen wir nicht mehr auf bloßen Latten pennen. Der humane Strafvollzug … das sagen die doch immer …“ „Da können wir wirklich nicht meckern“, stimmte ein anderer ironisch zu.
Nach kurzer Zeit roch die Zelle, in der es sonst immer nach Schweiß, Chlor und Urin stank, nach frischem Stroh. „Wie eine Scheune an heißen Sommertagen“, schwärmte Totila und sog die Luft tief ein.
Er werde sicher von wogenden Getreidefeldern träumen, erklärte Sebastian dazu.
In den Zellen selbst hatte man nur wenig vom sanften Ineinandergreifen der Jahreszeiten draußen bemerken können. Doch mit dem Blick durch’s Klappfenster aus der obersten Etage des Zellenbaus, zeigten sich doch schon allererste Anzeichen eines frühen Herbstes. Das Gras im Freistundenhof war zwar noch grün wie eh und je, doch in den Obstbäumen der Kleingärten färbten sich einzelne Blätter und kleinere Zweige bereits bunt. Auch im dichten Laub der alten Kastanien, deren Blütenkerzen Sebastian im Frühling so bewundert hatte, zeigten sich bereits einzelne gelbe Blattfächer. Ende August stand die Sonne, wenn sie denn zu sehen war, noch hoch am Himmel und dennoch überzog etwas wie eine Abschiedsstimmung das Land oder nistete auch nur im Empfinden der Menschen, die das so wahrnahmen.
Zählung und Einschluss um 20 Uhr: Wieder krachten Schlösser und klirrten Riegel. Den leeren Kübel rein für die Nacht und die Gefangenen konnten nach dem Einschluss auf den Betten liegen oder auch nicht. Eine kleine Freiheit im sonst streng geregelten Einerlei des Tages. Einige schliefen gleich, andere lagen länger wach. Manchen quälte das Nachdenken über die eigene Lage, andere wieder sorgten sich vor einer noch fernen Zukunft. Beim Einschluss stand um diese Jahreszeit die Sonne noch hoch am Himmel und eine ganz sacht aufsteigende Dämmerung legte sich endlich als Nacht übers Land. Dann zeichneten die eingeschalteten Scheinwerfer der Wachtürme die Gitter des Fensters als Schattenriß an die Zellenwand und verzerrt auch nach oben an die Decke der Zelle, in der alle schliefen und manche auch träumten.
Sebastian störte der neu gestopfte Strohsack. Er hatte Schwierigkeiten sich dort zurecht zu legen und da er in einem oberen Bett schlief, fürchtete er sich davor des nachts von dort oben herunter zu fallen. Und so orientierte er sich auf der zerbeulten Unterlage mehr in Richtung Wand, in eine wenn auch nicht gerade bequeme Lage. Andere wälzten sich ebenfalls auf ihren Strohsäcken und murrten dabei vor sich hin.
Irgendwann schlief Sebastian auf seinem buckligen Strohsack aber doch ein und landete in einem Traum: Dort wurde er, die Hände auf dem Rücken gefesselt, über Gänge und an Zellentüren vorbei geführt. Hinter ihm ging einer und Gittertüren öffneten sich von selbst, wenn er sich ihnen näherte. Es ging über Treppen hinab, immer weiter, immer tiefer … Schließlich sah er sich selbst dort gehen, durch einen spärlich beleuchteten Kellergang und sah dann auch den, der hinter ihm ging. Ein verschattetes Gesicht erkannte er als eine schwarze Kapuze. Er wunderte sich, war er denn nicht bei der Stasi? Aber alles war fremd, war anders und solche Kapuzenmänner gab es dort nicht. Wo war er? Schließlich dirigierte man ihn auf eine große schwarze Türe zu.
„Gehen Sie!“, hörte er eine Stimme hinter sich, als er zögerte … Doch dann öffnete sich diese Türe wieder von selbst. Ganz langsam gab sie den Blick in einen weiß gefliesten Raum frei, keine Fenster, nur helles Kunstlicht.
„Gehen Sie …!“
Angst griff plötzlich nach ihm, Angst … Und auf einmal wusste er: Dresden!
Niemand hatte ihm das gesagt, er wusste es einfach. Er war in Dresden.
„Das stimmt doch nicht! Nein! Das kann gar nicht sein …“, rief er.
Dann sah er von oben in diesen Raum, sah sich selbst in der Türe stehen.
„Sie sind verurteilt!“, bedeutete ihm eine Stimme, die von irgendwoher kam.
Und dann stand er selbst in diesem Raum und sah das Fallbeil und auch wieder sich selbst wie er darauf zugestoßen wurde, wie er dabei stolperte, sich sträubte … „Zehn Jahre“, gab er zu verstehen, „doch nur zehn Jahre …!“
„Sie sind verurteilt“, kam wieder diese gleichgültige Stimme.
Ein Schreck durchfuhr ihn bis ins Herz, als er weiter auf das Fallbeil zugestoßen wurde. Weglaufen? Aber wohin …? Er sah das schräge Messer in seiner Halterung, das Brett mit der Aussparung für den Hals und die Kiste davor …
Das kann nicht sein, nein, ein Irrtum, ganz bestimmt … Und er hielt sich kaum noch auf den Beinen.
Einer mit schwarzer Kapuze trat plötzlich hinter der Guillotine hervor, fasste ihn an den gefesselten Händen, griff ihn grob an der Schulter … Dann schreckte er auf aus Schlaf und Traum hoch, Gänsehaut auf Armen und Beinen, immer noch ganz starr, doch er war in seiner Zelle. Der Schattenriß des Gitterfensters an Wand und Zellendecke beruhigte ihn.
Gesicht und Schulter erwiesen sich als eiskalt. Die Wand wurde ihm klar, natürlich die Wand … Er war im Schlaf vom verbeulten Strohsack gegen die kalte Wand gerutscht. Albträume, sagte er sich, und versuchte wieder einzuschlafen.
Das gelang ihm so leicht aber nicht nach dem Aufruhr im Traum und weil er dort direkt hatte erleben können wie es dem Fluglehrer in dessen letzten Minuten und Sekunden ergangen sein musste. Ganz allein, den Tod, das Ende direkt vor Augen: Die wenigen Schritte zur Guillotine und die Sekunden mit dem Hals in diesem Brett, die Kiste vor Augen in die sein abgetrennter Kopf fallen würde.
Als Letztes vielleicht noch ein metallisches Klicken im Ohr, mit dem das Fallmesser über ihm ausgelöst worden war.
„Ich hatte einen beschissenen Traum“, bemerkte er am Morgen, als alle sich in der einzigen Aluminiumschüssel, jeweils mit Wasser aus einer Emaillekanne, nacheinander Gesicht und Hände wuschen.
„Ich sollte hingerichtet werden“, sagte er ganz beiläufig.
An Träumen war man im Grunde immer ganz interessiert, wurde von vielen doch viel geträumt in diesen Zellen, am Anfang eines langen ungewissen Weges.
Aber gleich von der eigenen Hinrichtung zu träumen? „Geht das nicht ’n bissel weit?“, fragte einer lachend.
Es waren Schicksale, die man dort zusammengepfercht hatte. Zwölf, fünfzehn Jahre Zuchthaus, natürlich auch lebenslänglich, waren mehr ein Zeichen, ein Mal, hatte Sebastian inzwischen begriffen, auch eine Auszeichnung … Ganz anders aber die Todesstrafe, die Auslöschung. Dort galt dann gar nichts mehr.
„Ich wusste im Traum auf einmal dass ich in Dresden war“, berichtete Sebastian, weil alle diese seltsame Geschichte hören wollten. „Ich musste gefesselt durch einen Kellergang und hinter mir ging einer. Plötzlich sah ich mich selbst dort gehen, als ob ich über mir schwebte und der hinter mir trug eine schwarze Kapuze, das konnte ich dann erkennen.“
„Na, das sagt doch schon alles“, warf einer ein.
„Aber ich wusste doch, dass ich nur zehn Jahre hatte. Ich sagte das auch, aber die Stimme, die von irgend woher kam, eine ganz gleichgültige Stimme sagte nur: Sie sind verurteilt. Und eine dunkle Tür, die aufging, der geflieste Raum dahinter und dann die Guillotine. Ich sah dort wieder mich selbst und wie ich aufs Fallbeil zugestoßen wurde. Ich wehrte mich. Nur zehn Jahre, sagte ich und sah schon das schräge Messer, das Brett mit dem Ausschnitt für den Hals und die Kiste für den abgeschlagenen Kopf. Dann kam so ein Kapuzenmann hinter der Guillotine vor, griff nach mir und zerrte mich zu dem Brett, auf das ich geschnallt werden sollte … Da wachte ich auf und dachte gleich an den Fluglehrer, den sie hier abgeholt haben … Ich weiß jetzt wie dem zumute gewesen sein muss.“
„Diese Schweinehunde“, ereiferte sich ein ehemaliger Abteilungsleiter des Ministeriums für Verkehrswesen der DDR in Berlin, der auch zu 12 Jahren verurteilt worden war und keine Revision beantragt hatte. „Diese Bande ist ja nur eingesetzt und niemals gewählt worden. Das sind Okupanten“, fuhr er fort, „die sich anmaßen über Tod und Leben zu entscheiden.“
„Wer will die daran hindern?“, fragte ein anderer, ein West-Berliner Journalist, der auf einem Hocker neben der Heizung saß und sich Sebastians Traum und die Empörung des Abteilungsleiters angehört hatte.
„Vielleicht der Westen, der Ami …?“, fragte vorsichtig ein junger Bursche, der am 17.Juni mit bei den Aufständischen gewesen war, als Gefangene aus dem Roten Ochsen in Halle befreit worden waren.
Der Journalist aus West-Berlin lachte. „Die werden sich hüten“, sagte er. „Und außerdem“, fuhr er fort, „genießen die Schweinehunde hier doch einen perfekten Schutz, nämlich die Furcht des Westens vor ’nem neuen Krieg. Dabei könnte sich heutzutage gerade der Iwan so einen Krieg am allerwenigsten leisten.“
„Aber die Atombombe neutralisiert das zum Glück ja alles“, fügte dann ein anderer achselzuckend hinzu.
Totila stand gegen das Fenster gelehnt und grinste. „Wir sind ja gerade als Kriegsverbrecher verurteilt worden“, erklärte er, „wegen der Beteiligung an der Vorbereitung eines amerikanischen Krieges, nach der so geläufigen Kontrollratsdirektive 38. Auch Ihre imperialistischen Freunde, die Amerikaner, haben Sie ja mit verurteilt: So interpretierte die Vorsitzende Richterin in höhnischem Tonfall ihr Urteil.“
Der ehemalige Abteilungsleiter, der im engen Gang zwischen den Betten ein paar Mal wenige Schritte hin und wieder zurück gelaufen war, blieb stehen und winkte verächtlich ab: „Haltet den Dieb! Die probate Methode“, sagte er. „Wer wurde denn wirklich gefragt, ob er diese Regierung und den Kommunismus haben wollte …? Das wurde doch damals alles lanciert.“
In den Mundwinkeln des West-Berliner Journalisten versteckte sich ein Lächeln.
„Den Abteilungsleiterposten bei der Regierung“, sagte er dann etwas spitz, „den hast du aber angenommen.“
„Irgendwie musste ich meine Familie doch durchbringen“, reagierte der Abteilungsleiter leicht amüsiert.
„Das hätt’st du auch in einer nicht so exponierten Stellung tun können.“
„Schon“, der Abteilungsleiter lachte kurz, „aber ich hätte dann längst nicht einen so guten Durchblick gehabt.“
„Hm, ja … so kann man’s allerdings auch sehen“, stimmte der West-Berliner zu.
Über die konkreten Umstände und Hintergründe ihrer Verurteilung schwiegen sich die meisten politischen Gefangenen aus. Bekanntlich war ja das Spitzelunwesen in dieser Cottbuser Anstalt durch einen zu 12 Jahren verurteilten ehemaligen Oberstleutnant der Staatssicherheit perfektioniert worden. Dabei ging es um nachträglich durch Spitzel ans Licht geholte Taten, aber auch um in den Zellen betriebene Volksverhetzung etc … Wer etwa als Politischer glaubte, in der abgeschirmten Enge einer Zelle befände er sich nicht mehr in der Öffentlichkeit, irrte gewaltig. Nur in Einzelhaft konnte ein jeder zumindest straflos auf Staat und Partei schimpfen, ohne eines „Nachschlags“, gewärtig zu sein.